4

Trotz seiner fünfundfünfzig Jahre war der Chef immer noch ein häßlicher Mann. Er lagerte mit halbem Gesäß auf meinem Schreibtisch, was ich nicht ausstehen konnte, auch der Dieskau ließ seinen milden Bariton warnend vernehmen. Der Chef lachte aber darüber.

»Frau Hirte, in letzter Zeit werden Sie immer jünger, das ist wirklich ein Phänomen!«

Ich wartete, welche Sonderaufträge er für mich hatte.

»Wann kommt Frau Römer eigentlich aus der Kur zurück?« wollte er wissen.

»Übermorgen. Ich hole sie von der Bahn ab und bringe sie heim; natürlich will sie ihren Dieskau gleich zurückhaben.«

»Ich glaube«, überlegte der Chef, »daß Frau Römer gar nicht wieder arbeiten wird, sondern sich berenten läßt. Nach dieser schweren Operation bekommt sie bestimmt eine Rente auf zwei Jahre, und dann hat sie die Altersgrenze sowieso erreicht.

Ich denke, sie wird nicht mehr zurückkommen. Ich wollte Sie fragen, ob Sie dieses Zimmer übernehmen möchten?«

Ich freute mich, denn es war der intimste und abgelegenste Raum, man hatte darin völlig seine Ruhe und einen schönen Blick in eine Kastanie.

»Außerdem sollten Sie Urlaub machen, solange man noch irgendwo Sonne tanken kann«, fuhr er fort. Er meinte es gut, aber mir war nicht so recht nach Urlaub zumute.

Immerhin, der Chef machte sich Gedanken über mich.

Am gleichen Tag erreichte mich abends ein Anruf — es war mein früherer Berliner Freund Hartmut. Er war etwas verlegen und meinte, er sei auf der Durchreise, und wir hätten uns ja fast ein Vierteljahrhundert nicht gesehen, ob er mich zum Essen einladen dürfe. Ich war platt. Es kam sehr plötzlich, ich war eigentlich müde. Andererseits siegte dann die Neugierde, obgleich ich mir vorgenommen hatte, diesen Menschen nie wieder zu sehen. Hartmut entschuldigte sich höflich, daß er mich nicht abholen könne, er sei ohne Auto in Westdeutschland.

Eine Stunde später saß ich im Samtrock und der heraldischen Bluse in einem Nobelrestaurant und betrachtete meinen ehemaligen Freund. Ich hätte ihn nie wiedererkannt. Hartmut war zwar früher auch nicht besonders schön gewesen — er litt unter Akne —, aber er war schmal und groß und hatte ein sehr ebenmäßiges Gesicht. Groß war er zwar geblieben, doch die Gestalt war jetzt über jeden Verdacht der Unterernährung erhaben. Das ebenmäßige Gesicht war feist, rot, schwitzig und unangenehm. Mein Gott, wenn ich mit dem verheiratet wäre! dachte ich entsetzt. Eigentlich war es ein Glück, daß ich davon verschont geblieben war und jetzt die Chance hatte, einen Mann wie Witold zu lieben.

Hartmut war ganz begeistert von mir, schließlich hatte er mich nur als graue Maus gekannt. Nein, wie hübsch, elegant und jung ich wirke! Er kippte vorm Essen zwei Bier herunter, und das Schwitzen wurde stärker. Ich mußte aus meinem Leben erzählen, also bot ich ihm eine geschönte Kurzfassung an.

Als er dran war, kam das Essen. Unter heftigem Kauen, Mampfen und Schlingen berichtete er von großen beruflichen Erfolgen, viel Geld, einer Villa in Dahlem und einer großen Anwaltspraxis mit drei Partnern. Ich fragte nach der Familie.

Die beiden großen Kinder seien aus dem Haus. Relativ spät hatte seine Frau noch ein drittes, behindertes Kind bekommen.

Er sah mich trostheischend an, und ich versicherte, das tue mir leid. Hartmut schüttete jetzt ein Glas Wein nach. Schließlich sprudelte es heraus, wie unglücklich seine Ehe sei: Die Frau liebe nur dieses schwierige Kind und sonst niemanden. Sie wolle es partout nicht weggeben, und er käme total zu kurz.

Ich hätte zwar lieber gehört, daß seine Frau ihn laufend betrog, aber so war es mir auch recht.

»Ach Rosi«, seufzte er transpirierend und schnaufend, »ich habe später noch oft an dich gedacht. Es war nicht nett, wie ich mich damals verhalten habe, aber ich bin dafür gestraft worden. Vielleicht sollten wir wieder Freunde werden.«

Er widerte mich an. Ich wollte heim. Hartmut hielt meine Hand eisern fest, er war angetrunken. Schließlich bettelte er, ich solle doch bei ihm im Hotel bleiben.

Ich stand auf, entriß ihm die Hand und sagte, es wäre Zeit für mich.

Zu Hause überlegte ich, ob ich vielleicht auf Witold einen ähnlichen Eindruck gemacht haben könnte wie heute Hartmut auf mich, denn er war neulich ebenso schnell, höflich und kühl verschwunden wie jetzt ich.

Übrigens rief Hartmut am nächsten Abend von seinem Berliner Büro aus an und entschuldigte sich nach Fünfziger-Jahre-Kavaliersart, daß er sich »ein wenig vorbeibenommen« hätte; damit war für ihn alles in Butter.

»Also, bis zum nächsten Treffen«, schnarrte er in den Hörer.

Gab es einen größeren Unterschied zwischen zwei Männerstimmen, zwischen Hartmut und Witold?

Im übrigen überlegte ich hin und her, ob ich Beate nicht mein Herz ausschütten sollte.

»Sieh mal«, beschwor ich sie in Gedanken, »ich habe mich noch nie so gewaltig verliebt wie in den Engstern. Du hast doch schon alles gehabt: Freunde im Jugendalter, Heirat im passenden Alter, Kinder. Jetzt hast du einen interessanten Job, einen Freund und einen großen Bekanntenkreis. Ich hatte und habe nichts von alledem. Laß ihn mir doch, Beate! Ich habe dich noch nie um etwas gebeten, ich bitte auch andere Leute nie um etwas. Es fällt mir schwer, das zu sagen: Hab ein bißchen Erbarmen mit einer alten Jungfer, die vor Liebe brennt!«

Müßte das nicht einen Stein erweichen und schon gar die rührselige Beate?

Andererseits, wenn sie mich um das Gleiche bitten würde, niemals würde ich verzichten. Also beschloß ich, lieber den Mund zu halten. In diesem Punkt war sie eben nicht mehr meine einzige Freundin, sondern meine Rivalin, die ich bekämpfen mußte. Aber das Bedürfnis, mit ihr zu reden, hielt sich hartnäckig.

Frau Römer war wieder da, der Dieskau war weg, und ich kam mir noch blöder vor, wenn ich statt mit ihm nun laut mit mir selber sprach.

Eines Nachmittags fuhr ich unangemeldet zu Beate.

Vielleicht war es doch ein Fehler von mir, daß ich nie in der Lage gewesen war, meine Wünsche und Bedürfnisse anderen mitzuteilen. Hatte ich in jungen Jahren dem scheußlich gewordenen Hartmut je gesagt, daß ich ihn liebte, je von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen? Ich hatte es ihm überlassen und stillschweigend vorausgesetzt, daß alles seinen richtigen Lauf nehmen würde. Auch bei dem Verhältnis mit meinem Berliner Chef hatte ich mich im Grunde ähnlich verhalten.

Überhaupt fielen mir jetzt tausend banale Fälle ein, in denen ich aus Bescheidenheit oder Feigheit zu kurz gekommen war.

Ich wollte es jetzt mal anders machen und versuchen, wenigstens ein bißchen mit Beate zu verhandeln.

Vor ihrem Haus stand Witolds Auto. Ich hielt erst gar nicht an, sondern fuhr völlig verzweifelt wieder zurück.

Sollte ich — wie früher die Frau meines Chefs — einen anonymen Brief schreiben, zum Beispiel an Jürgen: »Beate betrügt Sie«? Aber im Zweifel würde Beate den Jürgen sofort fallen lassen, wenn sie es nicht bereits getan hatte. Und Jürgen wiederum hatte schließlich eine Ehefrau, er konnte keinerlei Rechte auf Beates Treue geltend machen. Was standen mir noch für Mittel zur Verfügung, Beate auszuschalten? Welche Drohung könnte sie ernst nehmen? Sie war nicht so leicht einzuschüchtern. Mit anonymen Briefen würde sie ganz einfach zur Polizei gehen.

Meine hilflose Wut auf Beate steigerte sich unaufhaltsam.

Ich hätte sie auf der Stelle erwürgen können. Erwürgen?

Warum eigentlich nicht?

Von da an konnte ich an nichts anderes mehr denken.

Beate, meine einzige Freundin! Ich werde dir nicht weh tun, Beate, dich nicht quälen. Du sollst schnell sterben, ohne daß lange gezittert und gefackelt wird. Ich werde dir nicht wie in einem Kriminalfilm lange Reden halten, bevor ich abdrücke.

Kopfschuß, das ist es, sofort bewußtlos, Hirnblutung und aus.

Wie gut, daß ich die Waffe nicht weggeworfen hatte. Aber es galt natürlich zu überlegen: Wie, wo, wann — ich durfte mit der Tat nicht in Verbindung gebracht werden. In diesem Fall hatte das Opfer eine Beziehung zu mir, ich würde sicher befragt werden. Mein Motiv, das war natürlich ein großes Glück, konnte dagegen niemand erraten.

Ich mußte mich mit Beate irgendwo treffen, wo keine Menschen waren; niemand durfte wissen, daß ich mit ihr zusammenkam, und niemand durfte mich sehen. Das würde nicht ganz leicht werden; angenommen, ich würde mich telefonisch mit ihr verabreden, so war es ziemlich sicher, daß Beate in ihrer redseligen Art irgend jemand von der Volkshochschule, ihren Kindern, Freunden, Nachbarn oder am Ende Witold etwas davon sagte. Mein Vorteil war allerdings, daß sie mir völlig vertraute und ich sie überall hinlocken konnte; günstig war außerdem, daß ich ihre Gewohnheiten ganz gut kannte, ihre Bürozeiten und sogar die Kurse, die sie jetzt nach den Sommerferien wieder fleißig besuchte.

Vielleicht würde es nicht auf Anhieb klappen, dann müßte ich es eben immer wieder versuchen. Wichtig war, daß Beate arglos blieb.

Nach schlaflosen Nächten hatte ich einen Einfall. Fast jeden Samstag ging Beate morgens erst einkaufen und dann ins Hallenbad und blieb dort eine Stunde. Auch dahin hatte sie mich schon das eine oder andere Mal mitgeschleift, aber ich fand wenig Gefallen daran, mit roten Augen und chlorstinkender Haut mein Wochenende zu beginnen. Nun, ich könnte versuchen, Beate bei ihrem Wagen auf dem Hallenbadparkplatz abzupassen und mit ihr irgendwohin zu fahren. Doch der erste Versuch ging fehl, Beates Auto stand nicht auf diesem Platz. Ich umkreiste ihre Straße und sah Witolds Wagen wieder dort parken. Mitleid ist nicht angebracht, sagte ich mir, sie hat es nicht anders verdient. Im übrigen konnte ich warten, erstens auf eine gute Gelegenheit und zweitens auf Witolds Liebe.

In der nächsten Woche hatte ich Glück. Inzwischen war mein Plan auch ausgereift. Ich hatte einen Korb mit Picknicksachen bei mir und wollte Beate zu einem spontanen Ausflug überreden.

Ich wartete in meinem Wagen. Von weitem konnte ich den Ausgang des Hallenbades beobachten. Als Beate schließlich gegen elf Uhr auftauchte, schlüpfte ich schnell heraus und postierte mich vor ihrem Polo.

»Grüß dich, Rosi!« rief Beate, sichtlich überrascht, »was machst du denn in dieser finsteren Gegend?«

»Ach, ich sah dein Auto hier, und da kam mir eine Idee!«

Beate verstaute Bademantel und eine Handtuchrolle auf dem Rücksitz.

»Laß hören«, sagte sie gutgelaunt.

»Na ja, die Idee hatte ich genau genommen schon zu Hause.

Weißt du, ohne Hund komme ich gar nicht mehr raus, was mir irgendwie fehlt. Was hältst du von einer kleinen Tour: Wir gehen spazieren und picknicken zusammen, hier im Korb ist alles dafür da.«

»Wirklich, Rosi, in letzter Zeit verblüffst du mich immer wieder! Früher war ich die Spontane und nicht du, aber mit zunehmendem Alter werde ich immer unflexibler. Also, steig mal ein, ich muß kurz überlegen.«

Wir setzten uns in ihren Wagen. Beate sah auf die Uhr.

»Erst fahren wir mal heim«, schlug sie vor, »ich möchte meine Einkäufe in den Kühlschrank räumen, den Badeanzug aufhängen und mir die Haare trocknen.«

Gerade das wollte ich nicht. Zu Hause hätte uns gleich Lessi oder sonst jemand von ihrer Brut die Tür aufgemacht, außerdem konnte mich die halbe Stadt vorher im Auto neben Beate sehen.

»Ach weißt du«, erwiderte ich, »dann lohnt es sich eigentlich nicht mehr so recht. Ich habe auch nicht beliebig viel Zeit.

Deine Haare trocknen doch in der Sonne auch ganz flott, und wenn dein Auto im Schatten steht, wird dein Gemüse nicht in zwei Stunden verderben. Oder hast du etwas Tiefgefrorenes dabei?«

Beate schüttelte den Kopf. Sie zögerte. Wieder sah sie auf die Uhr.

»Na gut, zwei Stunden, aber nicht mehr. Dem Gemüse schadet es wirklich nicht, und dem Sauerbraten wahrscheinlich auch nicht. Wo ist denn dein Auto?«

Ich sagte, es stände in der Nähe, aber wir könnten ja gleich mit ihrem losfahren, wo wir nun schon drinsaßen.

»Klar, und wohin?« Beate startete.

»Na, in den Wald«, schlug ich vor, »es ist so zauberhaftes Wetter, wer weiß, wie lange es noch anhält. Altweibersommer, das passende Wetter für uns beide.«

»Ich wüßte was Hübsches, ja, dahin fahren wir«, sagte Beate. Nun wollte ich nicht mehr widersprechen, aber wenn es ein vielbesuchter Ort war, würde es heute wieder nichts mit meinen Plänen.

Das Hallenbad lag am Ortsende, und wir brauchten nicht mehr durch die Stadt zu fahren, die gerade von einkaufenden Menschen verseucht war. Das war ein Teil meines Planes.

Beate nickte zwar einmal einer Frau zu, aber es schien nur eine flüchtige Bekanntschaft zu sein. Sie fuhr die Berge hoch bis zu einem Waldparkplatz.

»Ist dein Korb schwer?« fragte sie, »ich könnte nämlich, wenn es auch verboten ist, den Weg für die Holzabfuhr noch ein Stück weiter fahren, dann müssen wir nicht so schleppen.«

Das war ideal.

»Na ja«, gab ich zu, »ich habe eine Thermoskanne mit Kaffee und eine Flasche Sekt (die ich für Witold gekauft hatte), das wiegt schon etwas.«

Beate lachte. »Der Sekt wird auf diesem Holperweg ja schön durchgerüttelt, und warm ist er sicher auch; aber es war lieb gemeint von dir, Rosenresli!«

Sie fuhr langsam den Buckel hoch, bog zum Parken in einen Trampelweg ein und versteckte den Wagen hinter einer buschigen Kiefer auf einem Stück Waldwiese.

»Auf geht’s!« rief sie. »Zwanzig Minuten sind schon rum.

Übrigens kannst du Gedanken erraten: Ich habe Hunger und Durst vom Schwimmen. Ehrlich gesagt, habe ich heute nicht gefrühstückt, denn ich muß dringend ein paar Pfund abwerfen.

Aber mit einem leckeren Picknick führst du mich total in Versuchung.«

Beate deutete auf einen hohen Aussichtsturm.

»Da müssen wir rauf. Ich war vor kurzem mal mit Jürgen dort, man hat einen zauberhaften Blick auf die Rheinebene.«

Ob das gut war? Ich hatte den Revolver in meiner größten Handtasche, verborgen in einem Reißverschlußfach. Fast hoffte ich, es würde alles nicht klappen, es wären Spaziergänger zu sehen oder ein Försterjeep zu hören.

Der Ausblick vom Turm war herrlich. Im blauen Dunst sah ich in der Ferne Mannheim funkeln, im Südwesten mußte Ladenburg liegen. Ich suchte die unmittelbare Umgebung nach Menschen ab, sah aber nichts. Auf dem Waldparkplatz hatten zwei Autos gestanden.

»Her mit dem Sekt!« forderte Beate.

Ich breitete auf dem sonnenwarmen Boden des Turms ein rotkariertes Küchentuch aus. ›Henkersmahlzeit‹ dachte ich.

Beate musterte alles neugierig.

»Gegrillte Hähnchenteile und Baguette, Schinken und Melone, Weintrauben und Käse! Rosi, du bist ein Genie!«

Sie machte geübt den lauwarmen und mächtig sprudelnden Sekt auf. Beate fand diesen Schönheitsfehler lustig. Sie trank zwei Gläser schnell herunter, griff dann nach den Melonenscheiben und einem Hühnerbein. Ich tat auch so, als würde ich essen, aber die trockene Hühnerbrust blieb mir fast im Halse stecken. Ich mußte jetzt eigentlich den Revolver hinter Beates Rücken auspacken und meine lebenslustige Freundin — meine einzige — kaltblütig erschießen. Das konnte ich einfach nicht.

»Du glotzt ja so ernst in die Gegend, Rosi. Komm, trink!« forderte mich Beate auf und schenkte mir ein. Ich hatte keine Pappbecher, sondern Kristallgläser und auch Porzellanteller mitgebracht.

Beate trank ihr drittes Glas. Sie setzte sich auf die breite Brüstung.

»Komm hierher, Rosi«, sagte sie, »es ist ja ein Jammer, wenn man auf dem Boden sitzt und gar nichts von der tollen Aussicht sieht. Wenn ich hier oben bin, möchte ich mich in eine Schwalbe verwandeln und mich leicht und elegant in die Ebene hinunterschwingen.« Sie ließ die Beine nach außen hängen.

»Komm!«

Ihr etwas breiter Rücken war mir zugewendet, die noch feuchten Haare glänzten. Unter dem eingelaufenen T-Shirt zeichnete sich scharf der Büstenhalter ab.

»Ach Beate, ich stehe lieber, ich bin nicht schwindelfrei.«

»Schwindel — ich weiß gar nicht, was das ist! Schon als Kind gab es für mich nichts Schöneres als schaukeln und klettern, auf Dächer und Mauern steigen. Sieh mal!«

Wie das Kind, das sie früher gewesen war, stellte sie sich vor mich auf die Mauer und lachte mich so frech an, so wie sie früher wohl ihre Mutter zur Verzweiflung gebracht hatte.

Ein energischer Stoß mit beiden Händen gegen ihre braunen Beine, und Beate fiel mit einem ganz hohen Schrei und mit dem Sektglas in der einen, dem Hühnerbein in der anderen Hand den Turm hinunter.

Ich sah nach allen Richtungen, Menschen konnte ich nicht entdecken, hörte aber eine Motorsäge in nicht allzu weiter Entfernung. Auch ein jagender Hund schien sich in der Nähe herumzutreiben, keiner rief ihn zur Ordnung, er mochte wildern. In der Ferne die Autobahn, winzig die Wagen, von dort konnte man meinen Turm wohl kaum erkennen, geschweige denn mich. Ich begab mich nun auf den Abstieg, mir zitterten dabei die Knie, so daß es nur langsam die vielen engen Steinstufen hinabging.

Beate war wirklich tot, man brauchte nicht erst nach Puls und Atmung zu forschen. Glasig und unerhört verwundert starrten die weit offenen Augen ins Leere, allem Anschein nach war der Schädel gebrochen, die Wirbelsäule und alle Gliedmaßen. Ich konnte nicht lange hinsehen, mir wurde schlecht, und ich hatte wie damals in Witolds Haus nur den starken Trieb, schnell von diesem Ort wegzulaufen.

Aber jetzt galt es, nicht die Nerven zu verlieren. Das Weinglas war in tausend Scherben explodiert, das konnte ich niemals auflesen, es würde Stunden dauern. Aber meinen Korb mit dem Picknickzeug mußte ich auf jeden Fall mitnehmen, warum hatte ich ihn überhaupt oben auf dem Turm gelassen!

Es fiel mir schwer, wieder hinaufzusteigen. Überhaupt, wie kam ich jetzt heim ohne Wagen und mit dem ganzen Krempel?

So genau hatte ich mir das vorher nicht überlegen können. Die Sektflasche leerte ich aus viel war nicht mehr drin. Mit dem Taschentuch hielt ich sie in der linken Hand fest, mit dem Küchentuch polierte ich alle etwaigen Fingerabdrücke ab, löste auch das Etikett vom Supermarkt. Die Flasche konnte hierbleiben. Den Kaffee schüttete ich ebenfalls weg, die Flüssigkeiten würden im Waldboden sofort versickern. Beates Handtasche mit Ausweispapieren, Schlüsselbund und Portemonnaie ließ ich in einer Ecke des Turmes liegen. Aber alles andere mußte ich mitnehmen. Ich packte den Korb, legte das Tuch obenauf, suchte sorgfältig nach weiteren Indizien, fand aber nichts. Fußspuren gab es bei dem anhaltend trockenen Wetter bestimmt nicht.

Ich durfte nicht viel Zeit verlieren. Es war Mittag, kurz nach zwölf, die meisten Wanderer hielten jetzt Rast, hoffte ich. Der Weg zu Fuß bis zu meinem Wagen war weit, oder sollte ich einfach den von Beate nehmen? Wenn man ihn später fand, könnte man immerhin in Betracht ziehen, daß es sich um Selbstmord oder Unfall handelte. Wenn aber kein Wagen hier stand, mußte auf alle Fälle eine zweite Person im Spiel sein.

Ich schaute in Beates Auto, aber es waren keine Gegenstände von mir liegengeblieben. Fingerabdrücke? Nun, die konnten ja ganz legal dort sein, schließlich war ich schon oft mit ihr unterwegs gewesen.

Ich traute mich nicht, den breiten Holzabfuhrweg zu nehmen, sondern kroch durch Dickicht und Gestrüpp, wobei ich einmal völlig die Richtung verlor. Jedenfalls war bergab richtig. Es war gut, daß ich mich versteckt hielt, denn schon bald lief eine größere Gruppe des Odenwaldvereins an mir vorbei. Ich legte mich wie ein Trapper auf den Waldboden und sah dicht an mir rote Strümpfe und Kniebundhosen in großer Anzahl vorbeidefilieren.

Zum Glück hatte ich robuste Schuhe an, aber den Korb verfluchte ich und hätte ihn gern irgendwo stehenlassen, aber natürlich ging das nicht. Wie lange waren wir eigentlich mit dem Auto gefahren? Nicht besonders lang, schien mir, aber zu Fuß zog sich die Strecke ganz schön hin. Bald mußte ich auf die Straße kommen, und wie sah ich aus! Tannennadeln und Spinnweb im Haar, struppig und zerkratzt. Ich machte Pause und begann Moos, Zweige, Kletten und Nadeln sorgfältig abzulesen.

Ich lief nicht auf der B 3, sondern schlug mich parallel dazu durch Maisfelder und Schreberanlagen. Immer wieder traf ich Hobbygärtner, die den sonnigen Herbsttag nutzten, um ihre Äpfel zu pflücken und ihr Stückchen Erde umzugraben. Eine große Türkenfamilie saß unter einem Nußbaum und tafelte, sie grüßten freundlich. Würden mich alle diese Menschen wiedererkennen? Ein Alibi für die Tatzeit hatte ich nicht; aber auch an den unzähligen Wochenenden, die ich einsam in meiner Wohnung verbrachte, hätte ich kaum einen Zeugen für mein Zuhausesein gehabt. Oder etwa doch? Mein Auto auf der Straße? Inwieweit würde von meinen Nachbarn registriert, ob es dort stand oder nicht? Ich kam nach ungefähr zweieinhalb Stunden in Beates Wohnort an, mindestens zwanzig Menschen hatten mich unterwegs gesehen, allerdings war niemand darunter, der mich kannte. Wenn allerdings mein Foto veröffentlicht würde, könnten sie sich möglicherweise doch an mich erinnern.

Endlich war ich bei meinem Wagen, um halb vier war ich zu Hause. Ich gönnte mir keine Ruhe, bevor ich nicht mein Glas, die beiden Teller und die Thermoskanne gespült und weggeräumt hatte, den Korb verstaut, den Revolver versteckt, alle Essensreste vernichtet hatte. Dann ging ich unter die Brause und füllte die Waschmaschine mit der Kleidung des heutigen Tages, vorsichtshalber auch noch mit anderer Wäsche, die zu waschen war.

Als das alles erledigt war, fühlte ich mich ein wenig erleichtert.

Um neun Uhr abends ging das Telefon, ich hatte so etwas erwartet. Ich ließ es ein paarmal läuten. Lessi war daran.

»Hast du eine Ahnung, wo meine Mutter ist?«

Ich verneinte, fragte, warum.

»Weißt du, Rosi«, Lessis Stimme hatte den gleichen Tonfall wie die ihrer Mutter, »ich war mit Beate verabredet. Wir wollten zu Richard nach Darmstadt fahren und ins Theater gehen. Aber sie ist überhaupt nicht hier, auch ihr Auto fehlt.

Ich finde das irgendwie komisch, denn sie hat den Theaterbesuch in ihrem Terminkalender eingetragen. Ich vergesse so was ja manchmal, aber sie verschlampt eigentlich nichts.«

Ich war nicht imstande, Lessi zu beruhigen, versicherte nur, ich hätte keine Ahnung, und es würde sich sicher alles aufklären. An diesem Tag rief niemand mehr an.

In der Nacht wurde ich krank. Ich bekam Fieber, Erbrechen und Durchfall, konnte weder schlafen noch die Beruhigungstabletten mitsamt dem Kamillentee bei mir behalten. Ich wanderte vom Bett ins Klo und in die Küche, fror und schwitzte gleichzeitig und wußte, daß mein Organismus der psychischen Belastung nicht standhielt.

Am Sonntag wurde es nicht besser. Ich versuchte mir vorzustellen, daß ich ein Recht auf Glück und Liebe hätte und deswegen so hatte handeln müssen. Aber diese Theorie kam mir sehr fragwürdig vor. Beate! Ich trauerte um Beate, ich weinte und fieberte um meine einzige Freundin, ich sah sie zerschmettert auf dem steinigen Waldboden liegen. Ich hatte etwas getan, das ich nie wieder rückgängig machen konnte. Bei Hilke Engstern hatte ich kaum Gewissensbisse empfunden, aber bei Beate wurde ich fast wahnsinnig.

Außerdem hatte ich grauenhafte Angst. Ich konnte mich im Augenblick überhaupt nicht zusammennehmen; wenn irgend jemand käme, der auch nur den geringsten Verdacht hätte, mein Verhalten würde ihm sofort rechtgeben.

Montag morgen ging es immer noch nicht besser; ich rief im Büro an und meldete mich krank. Eine Darmgrippe, gab ich an.

Man wünschte mir gute Besserung, und ich sollte bloß nicht zu früh wieder aufstehen und im Betrieb erscheinen, bei meinem ehernen Pflichtbewußtsein müßte man das mal betonen.

Ob es richtig wäre, ganz beiläufig bei Beate anzurufen, nach ihr zu fragen? Erstens, um zu zeigen, daß ich fest mit ihrer Anwesenheit gerechnet hatte, zweitens um zu erfahren, ob man sie gefunden hatte und ob Ermittlungen angelaufen waren.

Aber ich konnte nicht anrufen, nicht sprechen, nicht weinen, nur weiterhin mit den Zähnen klappern und mich übergeben.

Meine Bürokleidung ist immer tipptopp. Auch alle anderen Sachen, die ich für meine Auftritte außerhalb meiner vier Wände anziehe, sind gepflegt und ordentlich. Wenn ich aber in meinem einsamen Bett liege, brauche ich auf keinen Rücksicht zu nehmen. Meine Nachthemden sind, ich gebe es zu, alt, lumpig und überaus gemütlich, was kein Grund für mich ist, sie in den Rotkreuzsack zu stecken. Als ich zur Kur mußte, habe ich mir zwei neue Schlafanzüge gekauft, die seitdem im Schrank liegen und auf eine Chance warten. Könnte sein, ich müßte mal ins Krankenhaus, dann würde ich darauf zurückgreifen.

An jenem Montag, am späten Nachmittag, hing ich also krank und welk in meinem ältesten Blümchenhemd mit den bräunlich versengten Bügelflecken im Sofa und blätterte im Fernsehprogramm. Ich las immer wieder die gleiche Stelle, ohne auch nur ein Wort im Kopf aufzunehmen. Da schellte es!

Nicht aufmachen! war mein erster Gedanke. Und weiter: So häßlich, wie ich im Augenblick bin, sollte mich keine Menschenseele zu Gesicht bekommen! Aber es fiel mir ein, daß ich mich offiziell krank gemeldet hatte; es war immerhin möglich, daß der Chef den eiligen Vorgang auf meinem Schreibtisch einer Kollegin in die Hand gedrückt hatte und sie Fragen dazu stellen wollte. Aber hätte sie dann nicht angerufen? Oder war es der Chef selbst? Ausgeschlossen; ich fehlte schließlich nie, beim ersten kranken Tag brauchte er mich weder zu kontrollieren noch mir Blumen zu bringen. Also dann die Polizei.

Ich fuhr in einen räudigen Bademantel und schlappte, kalten Schweiß auf der Stirn und übel aus dem Halse riechend, an die Wohnungstür. Ich drückte auf den Knopf und machte auf.

Witold stand direkt vor mir, die Haustür war unten nicht verschlossen gewesen.

»Mein Gott, Thyra, du siehst ja elend aus!« rief er. »Ich habe in deinem Büro angerufen und gehört, daß du krank bist. Du mußt schon entschuldigen, daß ich so hereinplatze, noch dazu, wo es dir offensichtlich schlecht geht.«

Ich wies mit der Hand ins Wohnzimmer und ahnte, daß sein Kommen nichts Gutes bedeutete.

Er kam rein und warf einen hurtigen Blick durch den Raum.

»Thyra, setz dich hin, du siehst sehr fiebrig aus. Soll ich dir einen Tee kochen?«

Wie wunderbar wäre es gewesen, wenn ich sein Kommen geahnt hätte. Dann wäre ich in den lasziven seidenen Schlafanzug, der an alte Greta-Garbo-Filme erinnert, geschlüpft, hätte gebadet und die klebrigen Haare gewaschen und mindestens zehn Minuten lang die Zähne geputzt.

Ich ließ mich aufs Sofa fallen und sah ihn mit meinen roten Augen an. Witold blieb weiter so fürsorglich.

»Du wunderst dich sicher, daß ich so unangemeldet hereinschneie. Leider muß ich dir etwas sehr Trauriges mitteilen, das ich nicht am Telefon sagen wollte.«

»Was denn?« wollte ich herausbringen, aber es war wohl gar nicht zu hören.

»Deine Freundin Beate ist verunglückt«, sagte er mit sanftester Frauenarzt-Stimme.

Ich wurde immer blasser, kein Wort kam aus meiner Kehle, ich wünschte mir, ohnmächtig zu werden, aber trotz der Schwärze vor meinen Augen wollte es mir nicht gelingen.

Witold kniete vor dem Sofa, fühlte meinen Puls, eilte ins Bad und holte einen naßkalten Waschlappen, den er mir unerbittlich auf die Stirn tropfen ließ. Nur nicht den Mund öffnen, ich habe doch vor kurzem erbrochen, dachte ich.

»Ich Idiot«, schalt sich Witold, »ich hätte dir das bei deinem hohen Fieber gar nicht sagen dürfen«, er lief in die Küche und holte ein Glas Wasser.

Ich nippte daran und hoffte, daß er sich zwei Meter von mir entfernen würde, was er schließlich auch tat, als die Farbe ein wenig in mein Gesicht zurückkehrte.

Sicher erwartete er, daß ich Fragen stellte.

»Ist sie tot?« hauchte ich.

Witold nickte.

»Auto?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich erzähle es dir ein andermal«, wich er aus.

»Nein, ich will jetzt alles wissen«, sagte ich, denn so mußte man reagieren.

»Am Samstag rief mich Lessi an, ob ich wüßte, wo ihre Mutter ist. Dich hat sie sicher auch angerufen, denn sie hat das ganze Adreßbüchlein von Beate durchtelefoniert. Nun, die Kinder waren wohl am Sonntag alle zu Hause und überlegten, ob sie die Polizei benachrichtigen sollten. Das erübrigte sich, weil die Kripo mit der schrecklichen Nachricht ins Haus kam.

Man hat Beate im Wald gefunden, sie ist von einem Aussichtsturm gestürzt.«

»Wie ist das passie rt?«

Witold griff nach einer Zigarette, sah mein leidendes Gesicht und steckte sie wieder weg. Er zögerte.

»Es ist nicht genau zu rekonstruieren. Beate war offensichtlich am Samstag vormittag einkaufen gewesen und dann schwimmen. In ihrem Wagen, der in der Nähe des Turms stand, wurden ihre Badesachen und der Wochenendeinkauf gefunden. Warum sie aber dorthin gefahren ist, bleibt ein Rätsel. Eine leere Flasche Sekt und Splitter von einem Glas lagen herum, aber das könnte auch von anderen Leuten stammen. Die Frage ist nun, ob sich Beate an diesem Ort mit jemandem verabredet oder sogar getroffen hat. Ich wollte dich fragen, Thyra, litt Beate unter Depressionen?«

Jeder, der Beate gekannt hatte, wußte, daß das nicht so war.

Ich überlegte ein wenig.

»Nicht, daß ich wüßte«, antwortete ich, »aber die Wechseljahre machen allen Frauen zu schaffen.« Sofort ärgerte ich mich über meine letzten Worte, denn Witold wußte, daß Beate und ich gleich alt waren.

»Die Polizei ermittelt gerade, ob Beate vielleicht an diesem Tag irgendeine schlimme Nachricht erfahren hat. Sie überprüfen vor allem ihren Freund. Ach, ich finde diese Sache so schrecklich, weil es mich wieder an den Tod von Hilke erinnert.«

Ich sah Witold scharf an. War er überhaupt traurig über Hilkes und Beates Tod, oder tat er sich nur selbst leid? Die Sache mit Beate schien ihn nicht allzu tief getroffen zu haben, denn sonst wäre er wohl wieder in die Einsamkeit geflüchtet, statt es mir als Sensation zu erzählen.

»Kann ich noch irgend etwas für dich tun?« fragte er, »einkaufen, Tee kochen, Samariter spielen, Trost spenden?«

Ich nahm ihn beim Wort, obgleich ich wußte, daß er nicht damit rechnete.

»Ich habe gar keinen Saft mehr im Haus, und bei einer Darmgrippe soll man ja viel trinken. Könntest du mir vielleicht morgen ein paar Flaschen besorgen?«

Witold machte sofort einen kleinen Rückzieher.

»Bei solchen Krankheiten ist Saft gar nicht gut, du solltest eher viel Tee trinken.«

Ich seufzte, daß gerade der Tee einen Würgereiz bei mir auslöse. Aus alter Erfahrung wisse ich, daß Cola gut bei Erbrechen sei.

Nun lächelte er mich an, daß mir das Herz zerschmolz.

»Na gut, morgen bring’ ich dir Saft und Cola. Aber jetzt muß ich weg, ich will Beates Kindern etwas zur Seite stehen. — Nicht aufstehen!« Er drückte mich sanft an der Schulter wieder zurück in meine Kissen und verschwand.

Mir ging es schlagartig besser, die schrecklichen Vorstellungen verblaßten, und ein hoffnungsvolles Bild tauchte vor mir auf: Morgen kommt er wieder und lächelt mich an.

Alles wird noch gut, ich muß bloß stark bleiben und durchhalten.

Nach zwei durchwachten Nächten fiel ich in einen langen Schlaf der Erschöpfung.

Загрузка...