Was tut man, wenn man nicht geschlafen hat, wie ausgespuckt aussieht und trotzdem frisch und munter im Büro erscheinen soll? Ich wusch mir die Haare, zog meine freundlichsten Kleider an, verwendete viel Zeit für ein makelloses Make-up.
Zum Glück war Frau Römer noch länger krankgeschrieben, und ich blieb vorerst in ihrem Zimmer (auch ohne den Dieskau), wo ich nicht so sehr den neugierigen Blicken der Kollegen ausgesetzt war. Aber schon früh trat der Chef ein.
»Nein, wie sehen Sie heute gut aus, man merkt doch gleich, daß Sie aufblühen, wenn es Frau Römer wieder besser geht.
Der Dieskau und die täglichen Krankenhausbesuche waren sicher eine große Belastung für Sie. Aber heute sehen Sie aus wie das blühende Leben!«
»Ihnen entgeht ja nie etwas«, konterte ich möglichst locker, dabei trat mir der Schweiß aus allen Poren. Hatte ich die Nacht über mit den Zähnen geklappert, so wurde ich jetzt reichlich durch Hitzewellen entschädigt.
»Ich kenn’ doch meine Pappenheimer«, versicherte der Chef, »aber jetzt haben Sie sicher ein bißchen mehr Zeit und können sich mit diesem Schadenfall beschäftigen«, und er legte mir väterlich-gütig eine Akte auf den Schreibtisch. Dann ließ er mich allein. Ich hatte unterwegs die Rhein-Neckar-Zeitung gekauft, aber noch keine Gelegenheit gefunden, sie aufzuschlagen. Zum Glück stand noch kein Wort über die Ereignisse der vergangenen Nacht darin.
Als ich mittags in der Kantine auftauchte, hörten zwei junge Stenotypistinnen auf zu schwatzen, sahen mich und kicherten unterdrückt. Sie hatten über mich geredet, das war klar. An und für sich hatte ich zu den meisten Personen unserer Firma ein kollegiales, aber nicht allzu enges Verhältnis. Die Azubis und jungen Angestellten hatten ein wenig Angst vor mir, weil ich ihnen keine Schlampereien durchgehen ließ. War irgend etwas nicht korrekt, so mußten sie es eben noch einmal machen. Im Grunde konnten sie mir dankbar dafür sein, denn wenn man sich nicht beizeiten angewöhnt, diszipliniert zu arbeiten, wird es später immer damit hapern. Was Manschen nicht lernt und so weiter. Sicher fanden mich einige aber allzu streng und hetzten gelegentlich über mich.
Ich wußte auch jetzt, daß sie über meine Kleidung sprachen.
Diese jungen Dinger hatten natürlich ein Auge dafür, daß ich mich in der letzten Zeit um mehr Jugendlichkeit bemühte. Ich mußte wahrscheinlich in der Zukunft wieder etwas unauffälliger auftreten, im Nu hatten die einem etwas angedichtet. Mit Klatsch habe ich mich nie abgegeben, sogar meine jungen Kolleginnen scharf unterbrochen, wenn sie mir »wer mit wem« erzählen wollten. Durch die kompetente Frau Römer wurde ich dennoch über wichtige Tatsachen informiert; da sie ein gütiger und alter Mensch war, erlaubte ich ihr schon, mir zuweilen das Neueste zuzutragen.
War ich in der letzten Zeit in meiner strengen Rolle unglaubwürdig geworden? Leuchtete mir die Liebe verräterisch aus den Augen? Beate hatte neulich eine freche Bemerkung gemacht, sie hatte eine Nase für weibliche Gefühle.
Ich stand diesen Tag irgendwie durch, holte mir in der Apotheke ein leichtes Beruhigungsmittel und legte mich früh ins Bett. Aber an Schlafen war wieder nicht zu denken. Blutige Bilder tauchten vor mir auf, Hilkes grüne Bluse, die langsam schwarz wurde, der verletzte Witold. Ich hatte die Frau umgebracht! Witold war kein Mörder. Eine schauerliche Möglichkeit — darauf war ich bisher nicht gekommen — war, daß sie auch durch meinen Schuß nicht tot war.
Am nächsten Tag stand in mehreren Zeitungen, auch in der Ladenburger, die nur einmal wöchentlich erschien: MYSTERIÖSER MORD IN EINEM LADENBURGER LEHRERHAUS
Unter bis jetzt nicht aufgeklärten Umständen wurde gestern kurz nach ein Uhr nachts von der Polizei die Leiche der dreiundvierzigjährigen Hausfrau Hilke E. gefunden. Der Ehemann lag mit einem Durchschuß im Bein bewußtlos am Boden, Er war bislang vernehmungsunfähig. Sowohl die Tote als auch der Verletzte hatten zuvor reichlich Alkohol zu sich genommen. Die Tatwaffe fehlt.
Im Garten und auf dem Teppich fanden sich Spuren, die auf eine weitere Person schließen lassen. Der ältere Sohn befindet sich zur Zeit auf einer Urlaubsreise durch die Türkei und kann nicht erreicht werden, der zweite leistet seinen Zivildienst in einem Heidelberger Krankenhaus ab, wo er in der fraglichen Zeit Nachtdienst hatte. Gesucht wird ein auffallend schlanker Mann, Schuhgröße 41, der abends in der betreffenden Straße gesehen wurde.
Außerdem bittet die Polizei die unbekannte Anruferin, sich unverzüglich mit dem Ladenburger Kriminalkommissariat in Verbindung zu setzen.
Abends rief mich Beate an.
»Hast du schon den Mannheimer Morgen gelesen?« fragte sie.
Ich ahnte gleich etwas und sagte möglichst gleichgültig: »Ja, warum?«
Beate freute sich immer, wenn sie mir Skandale erzählen konnte. »Hast du ›Mord im Lehrerhaus‹ gelesen?«
»Kann sein«, murmelte ich, »hab’ nicht weiter darauf geachtet.«
»Denk dir«, schwatzte Beate, »das ist das Haus von dem Rainer Engstern, nach dem du mich neulich gefragt hast. Seine Frau wurde erschossen, und er ist verwundet. Man hat mir erzählt, sie ist eine Säuferin. Du, vielleicht hat er sie umgebracht und sich selbst noch ein bißchen ins Bein geschossen, um den Verdacht abzulenken.«
»Meinst du?« fragte ich.
»Na, eigentlich fand ich ihn ganz nett, als ich ihn letztes Jahr hier in meiner Volkshochschule hörte. Aber man sieht es ja keinem Mörder von außen an.«
Ich hätte Witold gern verteidigt, aber so dumm war ich natürlich nicht.
»Stand da nicht noch was von einer weiteren Person?« fragte ich.
»Stimmt«, antwortete Beate, »vielleicht war es doch ein stinknormaler Raubüberfall, und die Polizei hat nur noch nicht festgestellt, was gestohlen wurde. Übrigens haben wir heute viel über diesen Rainer Engstern gesprochen, er soll mal was mit einer Schülerin gehabt haben. Aber alle glauben, daß man einem hübschen Mann, der Lehrer ist, blitzschnell so etwas nachsagt.«
Ich fand, daß alles bisher gut gelaufen war. Man suchte einen schlanken Mann; zum ersten Mal fand ich es gut, daß ich so große Füße habe. Witold wurde noch nicht offiziell verdächtigt. Die Frau war wirklich alkoholkrank gewesen, das hatte ich richtig gesehen. Klar, daß dann die Ehe schlecht sein mußte. Und wenn Witold eine Freundin hätte, dann wäre sie wahrscheinlich in meiner Observierungszeit irgendwann aufgetaucht. Er saß aber immer allein am Schreibtisch und arbeitete in großer Einsamkeit. Ich konnte also hoffen, obgleich ich keinen richtigen Plan hatte, wie alles weitergehen sollte.
Wie konnte ich ihm nur demnächst unter die Augen treten? Da mußte mir schon der Zufall zu Hilfe kommen.
Zunächst brauchte ich Informationen; ich kaufte mir täglich eine Lokalzeitung. Eine kurze Notiz über den Mordfall: Die Polizei verfolge verschiedene Spuren.
Ob Witold in Untersuchungshaft war? Ich rief häufig von einer Mannheimer Telefonzelle aus an. Meistens meldete sich niemand, zweimal der Sohn. »Maximilian Engstern«, sagte er, im Tonfall dem Vater ähnlich.
Ob Beate etwas wußte? Ich beschloß, sie am Wochenende zu besuchen. Ich brauchte unbedingt einen Menschen, der so plätschernd schwatzen konnte wie sie, eine Fähigkeit, die mir völlig abging.
»Komm nur«, sagte Beate, »Lessi ist auch da, wir wollen vielleicht ins Kino gehen.«
Einerseits lag mir diese schwangere unreife Lessi gar nicht, andererseits war sie die einzige, die vielleicht durch ihre Freundin, die ja mit Witolds Sohn Max befreundet war, etwas über sein Schicksal wußte.
Lessi redete vorerst nur über ihren gesegneten Zustand, der noch gut und gern acht Monate dauern würde. Wie egal war mir die Namensgebung für diesen bedauernswerten Embryo!
Ich versuchte trotzdem, nett zu Lessi zu sein, und beteiligte mich an der schwachsinnigen Unterhaltung. Meine Vorschläge waren aber völlig indiskutabel, Lessi schwebte ein arabischer oder altrömischer Name vor.
Plötzlich war es Beate, die mit der Familie Engstern anfing.
»Wenn es ein Junge wird, könntest du ihn ja Witold nennen!«
»O Gott, nach so einer scheußlichen Sache doch nicht!« rief Lessi angeekelt, »wie kommst du nur auf so eine abscheuliche Idee, Mutter!«
»Na, er ist schließlich nicht der Mörder«, meinte Beate, »oder etwa doch? Was hört man denn Neues?«
Lessi berichtete, sie hätte gestern noch mit ihrer Freundin Eva telefoniert, der Max Engstern sei fix und fertig. Morgen sei die Beerdigung, da die Leiche ziemlich lange im gerichtsmedizinischen Institut geblieben sei; den Bruder habe man auch endlich durch Radiosuchmeldungen in der Türkei gefunden, und er komme heute zurück.
»Und der Vater?« fragte ich.
Lessi meinte, der sei zwei Tage im Krankenhaus gewesen, würde dauernd von der Polizei vernommen, sei aber jetzt wieder zu Hause. Er dürfe aber nicht verreisen. Im übrigen sei er völlig depressiv.
Ob die Polizei nun wisse, wer die Frau ermordet hätte, wollte ich wissen.
Anscheinend könne sich der Engstern an nichts mehr erinnern; man habe ihn wohl nicht direkt in Verdacht, jedoch sei von einer psychiatrischen Begutachtung die Rede.
»Aber dann verdächtigt man ihn ja doch«, warf ich ein.
Lessi, diese schwangere Sportstudentin, zuckte mit den Schultern. »Der Alte ist mir, offen gesagt, egal. Der Max tut mir leid, auch sein Bruder, obgleich ich den Christoph kaum kenne. Die Mutter ermordet! Das muß man sich doch mal vorstellen!«
Ich warf ein, daß diese Mutter eine Alkoholikerin gewesen war.
»Na und?« fragte Beate.
Die unreife Lessi fuhr mich an: »Mutter ist Mutter«, und ich ließ das Thema fallen.
Leicht fiel es mir nicht, aber ich fuhr vier Wochen lang überhaupt nicht nach Ladenburg, obgleich ich inzwischen wieder den Dieskau am Halse hatte und abends mit ihm Spazierengehen mußte. Er kam jetzt etwas zu kurz, ich fuhr gar nicht mehr mit dem Auto weg, nahm den Hund nur einmal mit um den Block und ließ ihn kurz an den Platanen schnüffeln.
Vielleicht wurde Witold überwacht und sein Telefon abgehört, vielleicht erkannten mich irgendwelche Anwohner wieder, auch mein Auto und der Hund mochten ihnen im Gedächtnis geblieben sein.
Ich beschloß, mir die Haare wachsen zu lassen. Viele Jahre lang hatte ich einen sehr kurzen Garçonne-Schnitt bevorzugt, der mir im Grunde gut stand. Mit diesem Herrenschnitt, mit den Turnschuhen und den dunklen Hosen hatte man mich in der Dämmerung offensichtlich für einen Mann gehalten.
Wahrscheinlich war ich von einer älteren und schwachsichtigen Person beobachtet worden, in der Urlaubszeit waren die jüngeren Leute mit ihren Kindern fast alle verreist. Mit längerem Haar, in einem Kleid, mit zierlichen Schuhen würde man mich erstens nicht für jenen schlanken Turnschuhmann halten, und zweitens würde ich auch Witold als reizvolles weibliches Wesen gegenübertreten. Mir war schon klar, daß meine herbe Strenge nicht seinem Geschmack entsprach. Alles bei ihm zu Hause sah anders aus als bei mir, unordentlicher, phantasievoller, bunter, lebendiger. Aber war es nicht bloß ein Zufall in meiner ganzen Biographie, daß ich ein so disziplinierter Mensch geworden war?
Beate hatte es zum Beispiel immer leichter gehabt. Sie war in einer kinderreichen Familie aufgewachsen, wo es zwar manchmal krachte, aber im großen und ganzen fröhlich zuging.
Sie war von klein auf lebensklug gewesen und mir weit überlegen. Ich hatte nur eine bigotte Mutter, die mir einmal im Jahr an meinem Geburtstag erlaubte, drei Freundinnen einzuladen. In meiner Klasse — wir waren übrigens nur Mädchen — gab es noch ein paar von meiner Sorte, nämlich fleißig und brav, eher häßlich, wenig beliebt. Aber die meisten gingen in die Tanzstunde, redeten über Jungs und hatten einen Freund. Auch ohne reiches Elternhaus hatten sie eine Mutter, die sich für ein schönes Kleid begeistern konnte oder es sogar selbst nähte. Die andern: selbstbewußt, lustig, verliebt. So fing es an, so ging es weiter, die Ungerechtigkeit hat bis heute nicht aufgehört.
Zehn Jahre nach dem Abitur besuchte ich ein Klassentreffen.
Es wurden fast nur Fotos von Hochzeiten, Babys und Kleinkindern herumgereicht, ein anderes Thema existierte nicht. Ich und noch ein paar andere Übriggebliebene saßen versteinert dabei. Nie wieder habe ich ein Klassentreffen besucht. Ich hasse diese glücklichen Mütter mit ihren Wunderkindern, hasse diese selbstgefälligen Ehefrauen. Aber ich habe mich nicht gegen sie gewehrt.
Zum ersten Mal im Leben wollte ich nun auch etwas ganz entschieden für mich, mit aller Kraft, aus ganzer Seele: Ich wollte Witold. Dafür wollte ich alles tun, wozu ich fähig war, dafür wollte ich meine ganze Intelligenz aufbieten, dafür hätte ich auch Karriere und Geld aufs Spiel gesetzt.
Nachdem ich sie mehrere Wochen hatte wachsen lassen, gefielen mir meine Haare gar nicht. Als Beate anrief, beschloß ich, sie um Rat zu fragen. Aber sie unterbrach mich.
»Gleich reden wir über Haare. Zuerst muß ich dir wichtige Neuigkeiten erzählen. Erstens: Lessi kriegt gar kein Kind!«
Ich erfuhr, daß Lessi vor vier Wochen einen schwach positiven Apothekentest vorzuweisen hatte, aber nie zum Arzt gegangen war. Trotzdem hatte sie der ganzen Welt von ihrer Schwangerschaft erzählt. Vor einigen Tagen war Beate mit ihr zur Frauenärztin gegangen, die sie nach einer Ultraschallaufnahme eines Besseren belehrte. Heute hatte sie ihre Tage gekriegt.
»Ehrlich gesagt«, meinte Beate, »ich bin doch sehr erleichtert. Ich hätte meinen Job bei der Volkshochschule aufgeben müssen, um Lessis Kind großzuziehen. Denn wie sollte sie studieren ohne Mann, der sich mit ihr beim Babysitten abwechselt?«
Also war Beates Großmutterfreude reines Theater gewesen, dachte ich bitter.
»Und was ist die zweite Neuigkeit?« wollte ich wissen, schon erregt beim Gedanken, es könnte sich um Witold handeln.
»Denk dir, ich habe einen netten Mann kennengelernt«, erzählte Beate und schilderte mir die Vorzüge eines zehn Jahre jüngeren Handelsvertreters.
Obgleich ich ahnte, daß Beate ein offenes Haus und Bett hielt, wurde ich ironisch: »Ist das jetzt also das große Glück?« fragte ich.
Beate ließ sich nicht ärgern. »Ach du«, meinte sie, »ich kenne keine Frau von fünfzig, der das große Glück über den Weg läuft. Es gibt überhaupt nur kleines oder kurzes Glück.
Ich will dir die Schattenseiten auch nicht verschweigen: Er ist verheiratet und hat kleine Kinder. Sie wohnen aber im Münchner Raum, und er fährt nur am Wochenende heim.«
Na, das war aber wirklich nur ein kleines Glück. Ich wunderte mich, daß Beate da mitspielte.
»Was gibt’s Neues in der Mordsache?« fragte ich.
»Nie hätte ich geglaubt, daß du dich so fürs Morden interessierst«, jetzt wurde Beate leicht spitz. Aber sie erzählte mir doch, daß Witolds Söhne die letzten Wochen beim Vater gewohnt hätten, obgleich sie eigentlich längst eigene Buden in Heidelberg hatten. Sie wollten aber demnächst mit ihren Freundinnen nach Mexiko fahren, schließlich seien noch Semesterferien. Sie hätten sogar erwogen, ihren armen Vater mitzunehmen. Aber das ginge nicht.
Warum nicht, wollte ich wissen.
»Ja, erstens kann er nicht, denn die Schule fängt wieder an, und er muß unterrichten; zweitens darf er nicht, denn er muß für die Polizei erreichbar sein. Und drittens will er nicht.
Soweit Lessi weiß, hat ihm ein Freund ein Wochenendhäuschen im Odenwald zur Verfügung gestellt, dahin möchte er sich zurückziehen, wenn die Jungs weg sind.
Verständlicherweise hat er wenig Lust, in Ladenburg allein in seinem Haus zu hocken und von Reportern und mitleidigen Nachbarn belämmert zu werden.«
Über meine Haare hatten wir zwar nicht geredet, dafür über etwas Interessanteres. Ich war mir sicher, dieses Odenwälder Häuschen ausfindig machen zu können.
Als die Schule wieder angefangen hatte, rief ich beim Sekretariat des Ladenburger Gymnasiums an. Ich behauptete, ich sei die Sekretärin von Kommissar Krüger, denn diesen Namen kannte ich zum Glück aus der Zeitung; Krüger bearbeitete den Fall Engstern. Aber hatte die Polizei überhaupt Sekretärinnen? Als ich vor kurzem als Zeugin eines Verkehrsunfalls aussagen mußte, hatte ich ausschließlich Männer entdeckt, und meine Aussage war von einem jungen Polizisten eigenhändig und langsam getippt worden. Doch, mir fiel ein, daß in den Fernsehkrimis zuweilen ein säuerliches weibliches Wesen für das Polizisten-Team Kaffee kochte.
Also, ich sagte der Schulsekretärin, sie brauchte eventuell Herrn Engstern nicht extra aus dem Unterricht zu holen, sondern könnte mir vielleicht selbst eine kurze Auskunft erteilen.
»Herr Engstern ist krankgeschrieben, den können Sie sowieso hier nicht sprechen«, kam die Antwort. Ich erklärte, daß er mir neulich seine neue Anschrift telefonisch durchgesagt habe und ich leider diesen Zettel verlegt hätte. Mein Chef würde wütend werden, wenn das rauskäme. Sie hatte großes Verständnis dafür, daß die Wut eines Chefs zu vermeiden sei, und schien in ihren Unterlagen zu blättern.
»Ja, ich hab’s schon«, sagte sie erfreut, »vom Direktor persönlich eingetragen. Also, er ist zu erreichen bei Dr. Schröder, Bickelbach im Odenwald, Holzweg.«
Ich bedankte mich höflich. Das war ja gut gegangen. Wenn Witold selbst am Telefon gewesen wäre, hätte ich vor Aufregung nicht sprechen können und hätte aufgelegt. Das zumindest wäre ihm verdächtig vorgekommen.
Auf der Karte fand ich das winzige Bickelbach. Ob ich abends noch hinfahren sollte oder lieber am Wochenende?
Endlich hatte ich wieder ein Ziel, der Feierabend hatte einen Sinn.
Natürlich konnte ich es nicht bis zum Wochenende aushalten. Ich fuhr am frühen Abend los, nahm den Dieskau mit. In Bickelbach ließ ich den Wagen in einer kleinen Straße stehen und machte mich zu Fuß auf die Suche nach dem Holzweg. Fragen wollte ich nicht, außerdem traf ich auch niemand, der Ort wirkte ziemlich öde. Der Holzweg war schließlich am anderen Ende des Dorfes und führte einen Hang hinauf. Es gab mehrere Bauernhäuser, die offensichtlich von Städtern renoviert und umgebaut worden waren. Gärten voller Kohl, Löwenmäulchen, Mohren, Petersilie und Phlox konnten eine Städterin wie mich entzücken. Eine Hausnummer wußte ich allerdings nicht, aber ich kannte ja Witolds Wagen.
Inzwischen war ich schon eine gute halbe Stunde mit dem Hund unterwegs. Der Holzweg zog, dehnte und schlängelte sich den Berg hinauf. Da — auf einer Wiese stand Witolds Auto, vor Schreck wurde ich ganz flattrig. Nein, ich mochte heute noch nicht an seine Tür klopfen, ich mußte erst alles auskundschaften. Aber hier ging es nicht so einfach; das Häuschen, eine umgebaute Scheune, war von einer offenen Wiese umgeben, von allen Seiten hätte man mich ausmachen können. Ich wanderte wie eine zügige Spaziergängerin vorbei; außer dem Auto sah ich keine Spur von Witold. Als der Holzweg endlich in den Wald mündete, machte ich kehrt und begab mich zu meinem Wagen zurück; ich wußte jetzt Bescheid.
In den drei Tagen bis zum Samstag legte ich mir immer neue Pläne zurecht, bedachte sorgfältig, was ich anziehen wollte, ob der Hund mit sollte und so weiter. Schließlich war es soweit.
Ich ging am Vormittag zum Frisör und ließ mir eine luftgetrocknete Dauerwelle machen. Mit diesem etwas strubbeligen Lockenkopf sah ich völlig neu aus.
Und so anmutig und jung, aufgeregt und angstvoll, stieg ich am Samstag die ausgetretenen vier Steinstufen hinauf und schellte einfach an seiner Tür. Es dauerte ein wenig, bis Witold aufmachte.
»Ja bitte?« fragte er unfreundlich.
»Kennen Sie mich nicht?« fragte ich zurück.
Er zog die Augenbrauen zusammen, plötzlich dämmerte ihm etwas.
»Kommen Sie rein«, stotterte er und war nun seinerseits aufgeregt. Er war sich nicht ganz sicher, ob ich die obskure Frau war, die beim Tod seiner Hilke dabei gewesen war.
Ich trat ein, er deutete auf einen der vier Stühle, die vor einem runden Eichentisch standen. Er zündete sich automatisch eine Zigarette an und hielt mir dann erst die Schachtel hin. Ich schüttelte den Kopf.
»Wer sind Sie überhaupt?« wollte er als erstes wissen.
Ich war vorsichtig und versicherte, das tue vorerst nichts zur Sache, ich würde es ihm aber später noch sagen. Witold zog an der Zigarette, ging einen Aschenbecher holen und spähte dabei suchend aus dem ungeputzten Fenster; er wollte sehen, ob ich allein war, was ich für ein Auto hatte. Der Wagen stand aber am Anfang des Holzweges, und den Dieskau hatte ich zu Hause gelassen. Ich war der Meinung, daß ein Hund meistens mehr beachtet wird als ein Mensch, und ich wußte aus Erfahrung, daß man als Hundespaziergänger häufig angesprochen wird.
Witold sagte endlich: »Ich habe mir schon tausendmal den Kopf zerbrochen, wie das alles zugegangen ist in jener Nacht.
Wieso waren Sie plötzlich da?«
Ja, das war ein wunder Punkt. Nun mußte ich doch den Dieskau ins Feld führen. Ich sagte — obgleich es nicht sehr glaubwürdig klang —, ich hätte, da ich unter Kopfschmerzen litt, nachts noch einen Spaziergang mit dem Hund gemacht. Auf dem freien Grundstück neben dem Garten hätte ich ihn frei laufen lassen, und da sei er plötzlich verschwunden. Auf der Suche nach dem Hund sei ich dann in Witolds Garten geraten, wo ich den Schuß gehört hatte. Da wäre ich eben hereingestürzt.
Witold betrachtete mich während meiner Rede mit gespannter Aufmerksamkeit, rauchte nervös, hielt weder Arme noch Beine ruhig und schielte plötzlich auf meine Füße herunter, um meine Schuhgröße abzuschätzen.
Als ich fertig war, fing er verdrossen wieder an: »Gut, gut, so mag es ja gewesen sein, obgleich ich mich nicht erinnern kann, einen Hund gesehen zu haben. Aber danach verstehe ich gar nichts mehr. Einerseits wollten Sie mir ja offensichtlich helfen, andererseits haben Sie mich beinahe umgebracht!«
»Nein«, versicherte ich, »auf keinen Fall wollte ich Sie treffen, es sollte nur so aussehen, als ob man auch auf Sie geschossen hätte. Ich habe mich dann vergewissert, ob sie gefährlich verletzt waren, und fand es nicht so schlimm.«
Witold rief gekränkt: »Nicht so schlimm, Sie sind gut! Der Schuß ging haarscharf an einer Arterie vorbei, ich hätte verbluten können!«
Er krempelte das Hosenbein hoch, und ich sah eine kleine rote Narbe auf der Außenseite der Wade, dieses Einschußloch hatte ich damals auch gesehen. Nun wies er mir aber die Innenseite des Beines, und da sah es anders aus: die Austrittstelle der Kugel hatte einen tiefen Krater hinterlassen.
Witold sah mich finster an, nichts von seinem hinreißenden Lächeln. »Ich verstehe Sie überhaupt nicht! Sie müssen auch auf meine Frau geschossen haben, aber warum? Einerseits haben Sie mir geholfen, aber andererseits haben Sie wahrscheinlich meine Frau getötet, und ich habe sie nur angeschossen.«
Ich überlegte. Dann bat ich ihn, mir zu erzählen, was die Polizei wisse und was er dort ausgesagt habe.
»Ich konnte mich anfangs wirklich an nichts erinnern«, begann Witold, »aber ich denke nicht, daß die mir das abnehmen. Ich habe ausgesagt, daß meine Frau eine Entziehungskur abgebrochen hat und überraschend wieder aufgetaucht ist. Sie war schon alkoholisiert, als sie ankam, und wir haben dann beide weitergetrunken. Ich trinke sonst nicht viel und bin keine großen Mengen gewöhnt und schon gar keinen Whisky. Ich sagte ihnen, daß mir schlecht wurde und ich mich auf den Teppich gelegt habe. Dann hörte ich einen Knall, spürte einen stechenden Schmerz und verlor das Bewußtsein. — Nun, die Polizei glaubt mir wahrscheinlich nicht, aber andererseits konnte ich mir diese Verletzung nicht selbst verpaßt haben, die Entfernung, aus der der Schuß abgegeben wurde, war viel zu groß. Außerdem konnte ich auch nicht mit dieser blutenden Wunde umhergelaufen sein, ohne dabei Blutspuren zu hinterlassen. Sie haben fieberhaft nach der Tatwaffe gesucht, die nicht zu finden war«, — er stockte kurz — »Sie müssen sie haben!« rief er dann erregt.
Ich nickte. »Ich habe sie beseitigt, denn Ihre Fingerabdrücke waren ja darauf.«
»Ich verstehe das alles nicht«, rief Witold wieder, »das gibt doch keinen Sinn! Warum haben Sie denn nicht einfach die Polizei angerufen!«
Ich lächelte ihn an. »Ich wollte Ihnen helfen!«
»Es ist sehr die Frage, ob Sie mir geholfen haben. Die Polizei sucht dringend eine Person in Turnschuhen, deren Fußabdrücke deutlich im Garten und auf dem hellen Teppich zu sehen waren. Also, man geht wahrscheinlich schon davon aus, daß eine fremde Person aus dem Garten aufgetaucht ist, geschossen hat und dann die Waffe wieder mitgenommen hat.
Aber mir will einfach nicht in den Kopf, warum Sie noch mal auf meine Frau geschossen haben! War sie am Ende gar nicht tot? Nur der Kopfschuß soll tödlich gewesen sein, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, wohin ich sie getroffen habe.«
Ich musterte Witold. Sollte ich sagen, daß er sie am Kopf getroffen hatte? Aber eigentlich mußte er das selbst wissen, denn nach seinem Schuß war nur die Bluse blutig-naß geworden. Wahrscheinlich hatte er aber nur gesehen, daß sie umfiel; oder wollte er mich auf die Probe stellen, rauskriegen, ob ich log, ob ich am Ende wahnsinnig war?
Er fuhr fort: »Welchen Grund haben Sie, sich so zu verhalten? Es ergibt einfach keinen Sinn (das sagte er nun schon zum x-ten Mal). Ich habe immer darauf gewartet, daß Sie sich bei der Polizei melden. Als Sie es nicht taten, habe ich daraus geschlossen, daß Sie meine Frau getötet haben.«
Ich sagte, ich sei völlig in Panik geraten, als ich ihn aus Versehen angeschossen hätte. In einer Art Schock hätte ich auch auf die Frau geschossen, wüßte aber ebenso wenig wie er, ob ich sie am Kopf getroffen hätte. Und dann sei ich geflüchtet und hätte mich begreiflicherweise nicht bei der Polizei gemeldet.
»Am besten«, sagte Witold, »wir rufen jetzt gemeinsam die Polizei an und bringen es hinter uns. Es kommt ja; sowieso irgendwann heraus.«
Ich protestierte energisch.
»Wissen Sie, was dann passiert? Sie werden keine Minute länger hier im Odenwald in frischer Luft auf Wald und Wiesen blicken, sondern im Untersuchungsgefängnis auf vergitterte Fenster starren. Im übrigen kann mich kein Mensch mit dieser Sache in Verbindung bringen, niemand hat mich richtig gesehen, und die Fußabdrücke können auch von jedem anderen stammen. Was sollte ich überhaupt für ein Motiv haben?
Außerdem — selbst wenn man Ihnen glauben sollte —, wenn ich meinerseits von Ihrem Schuß erzähle, sind Sie dran! Werden Sie eigentlich beobachtet?«
Witold brummte mürrisch vor sich hin: »Anfangs haben sie mich ständig beschattet, wahrscheinlich auch meine Post geöffnet und mein Telefon abgehört, ich bin schon gar nicht dran gegangen. Fast täglich wurde ich abgeholt und verhört.«
Er holte tief Atem und sah mich anklagend an. Dann fuhr er fort: »Sie dachten wohl zuerst so: Meine Frau hat als erste geschossen, ich dann auf sie. Aber der Schußwinkel stimmte nicht. Nach meinem Beinschuß konnte ich aber nicht mehr laufen. — Daß wir uns abwechselnd die Knarre in die Hand gedrückt haben, kam ihnen auch nicht allzu wahrscheinlich vor. Wie gesagt, ohne eine Blutspur zu hinterlassen, hätte ich die Waffe nicht verstecken können. Hätte ich sie dagegen zuerst getroffen, hätte sie mit ihrer schweren Verletzung kaum noch schießen können. Es mußte also eine weitere Person der Schütze sein.«
Ich warf ein: »Wen hatte man denn in Verdacht?«
»Vielleicht dachten sie daran, daß die Turnschuhperson mit mir unter einer Decke stecke, ja ein bezahlter Killer sei. Sie haben mein Konto überprüft und festgestellt, daß ich zwei Tage vorher dreitausend Mark abgehoben habe. Aber erstens war dieses Geld noch vollständig vorhanden, zweitens konnten vier Kollegen bestätigen, daß ich in der folgenden Woche mit ihnen zu einer Urlaubsfahrt starten wollte und das Geld dafür geholt hatte.«
Witold streifte nervös die Zigarettenasche in den Mülleimer.
»Na ja, nach circa vier Wochen haben sie mich etwas aus dem Clinch gelassen und mir auch erlaubt, kurzfristig hier zu wohnen. Aber ich muß mich jeden zweiten Tag telefonisch melden. — Ist Ihnen übrigens jemand gefolgt?«
»Nein, bestimmt nicht, die ganze Strecke war sehr einsam.
Aber ob mich Ihr Nachbar gesehen hat, das weiß ich wirklich nicht.«
Mein Gott, schoß es mir durch den Kopf, jetzt sitze ich hier dem Mann meiner Träume gegenüber, und wir reden über Mord und Totschlag statt über Liebe, und er starrt mich mit unendlichem Mißtrauen an. Ich mußte versuchen, ihm andeutungsweise meine Sympathie zu vermitteln.
»Um die Wahrheit zu sagen«, log ich also, »ich bin zwar durch reinen Zufall in diese Geschichte verwickelt, aber als ich Sie sah, erkannte ich Sie sofort nach einem Foto. Ich hatte vor längerer Zeit Ihr Malerei-Büchlein gelesen und war davon ganz begeistert. Ihr Bild auf dem Umschlag hatte sich mir tief eingeprägt, und vielleicht weil mir Ihr Buch so überaus klug und sympathisch erschien, kam es zu dieser spontanen Reaktion des Helfenwollens«, und ich zeigte ihm mein charmantestes Lächeln. Für den Bruchteil einer Sekunde lächelte er zurück.
»So, Sie haben mein Buch gelesen«, — ich hatte eine Zauberformel ausgesprochen, denn sein angespanntes, unfreundliches Gesicht verwandelte sich, und er wurde wieder zu jenem liebenswerten, attraktiven Mann mit der erotischen Stimme, der vor Wochen mein Leben schlagartig verändert hatte.
»Viele Leser habe ich ja nicht gerade«, fuhr er fort, »und es hat Ihnen tatsächlich gefallen?«
Ich beeilte mich, das zu beteuern, verlor mich sogar begeistert in Einzelheiten über die schönen Pantoffeln und Teppiche. Ich war eine falsche Schlange, aber der Zweck heiligt schließlich die Mittel.
Lange dauerte aber seine Freundlichkeit nicht an. »Woher weiß ich, daß Sie nicht eine wahnsinnige Verbrecherin sind«, sagte er in einem leicht ironischen Unterton, denn seit ich mich als seine Leserin ausgegeben hatte, glaubte er nicht mehr ernstlich an meinen Wahnsinn. »Am Ende ziehen Sie jetzt den Revolver aus dem Halfter und legen mich um.«
»Warum sollte ich das«, meinte ich traurig und warf ihm einen langen liebevollen Blick zu. Ein wenig schien er zu spüren, daß ich keine mordlüsternen Gefühle für ihn hegte, wenn er auch bestimmt noch nicht kapierte, daß ich ihn liebte.
Ich beschloß, noch einmal die Zauberformel aufzusagen:
»Nachdem ich Ihr schönes Buch gelesen hatte, bin ich einige Zeit später zu einem Vortrag gegangen, den Sie über die Lyrik der Befreiungskriege gehalten haben. Das war ein wunderbarer Abend, Sie haben mir so viel Interessantes über diese Zeit nahegebracht, daß ich bereichert nach Hause fuhr« (stimmte ja schon, bereichert war ich durch neue Gefühlsimpulse, aber von der scheußlichen romantischen Kriegsliteratur hatte ich kein Wort mehr im Gedächtnis). Er sah mich nachdenklich an, sein Gesicht wurde wieder anziehend und verlor völlig den grämlichen Ausdruck. Du bist sehr eitel, dachte ich, damit kann ich dich kriegen.
»Das freut mich«, sagte er herzlich. »Soll ich uns mal Kaffee kochen?«
Ich nickte begeistert; seit zig Jahren hatte kein Mann für mich Kaffee gekocht. Während er Wasser aufsetzte, bemerkte Witold: »Ideal wäre es gewesen, wenn Sie etwas geklaut hätten, Schubladen ausgekippt und Schränke durchwühlt«, — aber ich hörte wieder einen freundlichspöttischen Unterton heraus, den ich mir gern gefallen ließ.
»Ja«, sagte ich, »dann hätte die Polizei ein Motiv für die Schüsse gehabt, ein Raubüberfall oder so etwas. Aber ich habe alles doch genausowenig wie Sie geplant und bedacht. Wir haben mehr oder weniger beide eine Kurzschlußhandlung begangen: Sie haben im Affekt geschossen, und ich tat es, um Ihnen zu helfen.«
Wir tranken Kaffee zusammen; eine gewisse Vertrautheit entstand in diesem einfach möblierten Zimmer. Witold taute etwas auf, wurde andeutungsweise witzig. Er scherzte über unsere Komplizenschaft und dieses konspirative Treffen. Aber dann meinte er, es sei wohl besser, wenn wir nie zusammen gesehen würden und möglichst keinen Kontakt miteinander hätten.
»Man hat schon fieberhaft herumge schnüffelt, ob ich eine Freundin habe und von daher ein Motiv, meine Frau umzubringen. Aber Gott sei Dank, die letzte Freundin liegt schon viele Jahre zurück. Wenn man mich aber jetzt mit Ihnen zusammen sieht, dann ist das ein gefundenes Fressen für die Polizei.«
Leider mußte ich ihm recht geben. Zwar war ich erfreut zu hören, daß keine Freundin auf ihn lauerte, aber andererseits wollte ich doch seine Freundin werden. Aber das konnte ich natürlich so plump nicht vorbringen.
Witold fragte mich wieder nach meinem Namen und meiner Adresse. Beim nächsten geheimen Treffen würde ich meine Identität nachweisen, versprach ich. Und dann schlug ich für den übernächsten Sonntag ein Treffen in Heidelberg vor, mitten auf der Hauptstraße, zum Beispiel vor dem Kaufhof; im Touristengewühle könnten wir untertauchen. Witold fand das nicht gut.
»In Heidelberg treffe ich immer Bekannte«, sagte er, aber im Prinzip schien er mit einem Treffen einverstanden zu sein.
Bestimmt hatte er das dringende Bedürfnis, über den Streß der letzten Zeit zu sprechen, und konnte es sonst mit niemandem.
Schließlich verabredeten wir uns auf einem Odenwaldparkplatz, wo die Gefahr des Erkanntwerdens zugegebenermaßen gering war.
Zwei Stunden später fuhr ich heim. An diesem frühen Abend schienen mir die sanften Hügel mit ihren einzelstehenden Apfelbäumen, die Waldsilhouette der Hänge, die träge fliegenden Vögel und das späte Sonnenlicht so überaus schön, daß es mir vorkam, als ob ich nach jahrelangem Gefängnisaufenthalt endlich am Leben wieder teilnehmen könnte. Völlig idiotisch sang ich: »Brüder zur Sonne, zur Freiheit«. Ich singe sonst nie, und schon gar nicht so etwas. Ich war glücklich und hoffnungsvoll, denn es war jetzt nicht mehr so unrealistisch, daß dieser Mann mich gern haben könnte. In acht Tagen würde ich ihn wiedersehen.