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Mich erreichte die Todesanzeige. Beates Vater und ihre Kinder, Geschwister und Freunde trauerten um sie; der Exmann war nicht aufgeführt, obgleich er doch die Anzeige aufgesetzt hatte.

Zur Beerdigung bestellte ich einen kleinen Kranz aus blauen Blumen (Beates Lieblingsfarbe): Rittersporn, Eisenhut, Kornblumen, Iris und einige blau eingefärbte Margeriten. Er sah wie ein Hochzeitskranz aus, dachte ich, nicht wie ein Totenkränzlein.

Ich selbst war zurückhaltend aufgemacht; schwarz mußte sein, Lippenstift und Rouge vermied ich. Mein Selbstbewußtsein war geschrumpft, ängstlich und schüchtern versuchte ich, weder zu früh noch zu spät auf dem Friedhof zu erscheinen.

Es war eine riesengroße Beerdigung, was ich nicht erwartet hatte. Die Autos standen auf beiden Seiten der Straße, weil sie auf dem Parkplatz nicht unterkamen.

Auf dem Weg zum Portal rief man hinter mir meinen Namen: »Hallo, Rosi, warte doch!«

Ich duze mich mit sehr wenigen Menschen, in meinem Mannheimer Büro mit niemandem, obgleich sie mich deswegen für schrullig halten. Aber diese Mode des Duzens am Arbeitsplatz habe ich aus tiefer Überzeugung abgelehnt.

Verwandte habe ich keine und auch kaum Freunde zum Duzen.

Beate, ja, die kannte ich seit meiner Kindheit, und auch ihre Kinder hatten mich, ohne lange zu fragen, »Rosi« genannt, nicht aber Beates früherer Mann; neulich mal wieder Hartmut aus Berlin — ihn konnte ich wohl oder übel nicht gut siezen; Witold — Gott sei Dank! — und quasi aus Zufall noch sein Freund Dr. Schröder. Sonst gab es keinen, dachte ich. Aber aus der schwarzströmenden Trauergemeinde löste sich doch eine mir flüchtig bekannte Gestalt, die »du« zu mir sagte: Beates letzter Freund, Jürgen Faltermann. Tatsächlich hatte er mir das Du bei unserer einzigen Begegnung regelrecht aufgezwungen.

Ich dachte damals, ich würde ihn wahrscheinlich kaum je wieder treffen und wollte auch nicht gar so zickig sein. Nun war er neben mir.

»Rosi, ich wollte dich schon seit Tagen anrufen, aber ich habe leider deinen Familiennamen vergessen.«

Er war mir viel zu distanzlos.

»Hirte«, sagte ich mit müder Kälte.

»Ach ja, genau! Hirte! Aber ist jetzt egal. Hast du hinterher ein bißchen Zeit, ich muß unbedingt mit dir sprechen.«

»Wenn’s denn sein muß«, sagte ich ziemlich unfreundlich, aber er erwiderte nur: »Also, dann warte hier am Haupteingang.«

Wir schoben uns in die kleine Kapelle, und ich suchte einen Platz im Hintergrund, während Jürgen sich in der Mitte niederließ.

Beate war früher gemeinsam mit ihrem Mann aus der Kirche ausgetreten, erinnerte ich mich. Ob nun trotzdem von einem Pfarrer eine Rede gehalten wurde?

Vorn saß Beates Vater, alt und gebrochen, neben ihm Lessi.

Er hielt ihre Hand. Dann folgten Richard, Vivian und Beates Geschwister mit ihren Familien, in den Reihen dahinter entferntere Verwandtschaft, auch Beates früherer Ehemann und eine gewaltige Menge von Freunden und Bekannten, unter denen ich auch Witold entdeckte. Neben ihm saß aus purem Zufall — ich erkannte sie nach einem Foto — die neue Frau Sperber, Beates Nachfolgerin, mit ihrer Tochter, also einer Halbschwester von Beates Kindern.

Die Rede wurde von Beates Schwager gehalten, einem Professor aus Hamburg. Er sprach geistreich und gekonnt, schilderte ihr Leben und lobte ihre vielen guten Eigenschaften.

Aber seine kalte und eher geschäftsmäßige Ansprache löste bei den Zuhörern keine Emotionen aus; man hustete, scharrte, schneuzte auch vereinzelt, flüsterte.

Als er fertig war, entstand eine kurze Pause. Dann rauschte es an der Tür, und etwa zwanzig gestandene Männer in einheitlicher Kleidung traten ein. Der betagte Vater, der sein Leben lang Mitglied im Männergesangverein gewesen war, hatte diese trefflichen Herren hergebeten. Anscheinend war ihm eine Trauerfeier ohne Pfarrer und Gebete zu kalt erschienen, und nun hatte er für beispielhafte Stimmung gesorgt. Die alten Sänger legten die linke Hand auf den Rücken, stellten ein Bein vor und sangen auswendig: »Ich bete an die Macht der Liebe!«, wobei sie abrupt vom Porte ins Pianissimo rutschten und mühelos wieder zurück. Obgleich ich, wie schon betont, von Musik wenig Ahnung habe, hörte ich schon bei den ersten Tönen, daß dies hier Kitsch war. Was dem Redner nicht geglückt war, den Sängern gelang es auf Anhieb: Ein heilloses Schluchzen setzte ein, alt und jung konnten sich nicht mehr beherrschen, die vielen Menschen vereinten sich endlich zu einer Gemeinschaft der Weinenden.

Die Künstler, die diesen Erfolg erwartet hatten, ließen sich nicht lumpen und sorgten dafür, daß der Strom nicht so schnell versiegte.

Stolz durchflutete mich: Mir und diesen Trauersängern war es gelungen, so viele unterschiedliche Menschen in einem großen Gefühl zu vereinen. Ohne mich wäre diese unvergeßliche Feier nie zustande gekommen.

Mein Hochgefühl hielt an, bis ich Jürgen Faltermann traf.

Ich konnte ihn nicht leiden, was nicht zuletzt damit zu tun hatte, daß er mich so ungehemmt »Rosi« nannte.

»Gehen wir einen trinken«, sagte er gleich, »ich habe keine Lust, von der ganzen Mischpoke angegafft zu werden.« Er schwitzt wie Hartmut, dachte ich angewidert.

Wir saßen in einem billigen Speiselokal, in dem es penetrant nach Fritten roch. Jürgen bestellte Bier, ich Mineralwasser, er Schnitzel mit Salat, ich eine Königinpastete.

Jürgen goß das Bier in die Kehle. Er zog sein Jackett aus und saß mir nun in einem ungelüfteten schwarzen Rollkragenpullover aus Synthetic gegenüber.

»Kommen wir doch gleich zur Sache«, begann er und beobachtete scharf die Tür. Aber andere Trauergäste schienen sich nicht hierher zu verirren. Ich sah ihn fragend an.

»Die Polypen löchern mich pausenlos. Dabei bin ich am betreffenden Wochenende brav bei Weib und Kind in München gewesen. Ich habe eine Quittung von einer Autobahntankstelle vom Sonntag abend, aber das nützt mir nicht sehr viel. Ich kann nicht beweisen, daß ich schon Freitag nachmittag von hier losgefahren bin. In München hat mich am Samstag kein Schwein gesehen, außer meiner Frau. Die kleinen Kinder zählen sowieso nicht. Das Auto stand in der Garage. Es war zwar schönes Wetter, aber ich Idiot habe am Samstag nur zu Hause gehockt und meine Buchführung gemacht.«

Er ergriff die Plastikblume aus dem Tischväschen und zerlegte sie.

Ich wollte gerade fragen, was mich das anginge, da kamen schon seine Vorwürfe: »Du mußt den Bullen diesen Blödsinn erzählt haben, daß die Beate in den Typ von der Vivian, den eingebildeten Lehrer, verliebt war. Wie kommst du überhaupt dazu, so eine Lüge zu verbreiten?«

Ich wurde rot und versicherte, es sei keine Lüge, und ich hätte das auch nicht verbreitet, sondern einzig und allein der Polizei mitgeteilt, die ihrerseits völlige Diskretion versprochen habe.

Jürgen bestellte neues Bier.

»Die Polizei und Diskretion, daß ich nicht lache! — Es ist wirklich der größte Quatsch, den ich je gehört habe. Die Beate und ich waren zwar kein romantisches Liebespaar, aber wir machten uns gern und waren ehrlich zueinander. So jemand wie du (was meinte er damit?) kann das natürlich nicht begreifen.«

Ich fühlte mich beleidigt. Schneidend sagte ich, in diesem Ton lasse ich nicht mit mir reden. Ich kennte Beate seit meiner Schulzeit, und sie sei seit langem meine Freundin gewesen.

»Freundin ist gut«, höhnte Jürgen, »über eine Freundin verbreitet man keine Unwahrheiten. Zu dir hatte sie sowieso kein Vertrauen, sonst hätte sie dir erzählt, was sie mir schon längst gesagt hatte.«

»Und das wäre?« fragte ich mit rasendem Herzen.

»Die Beate wußte schon lange, daß die Vivian mit dem Lehrer ging, sie war doch nicht doof! Klar war, daß die Vivian einen neuen Freund hier und nicht in Frankfurt hatte, weil sie auf einmal viel häufiger zu Besuch kam und dann mit Beates Auto die halbe Nacht wegblieb. Außerdem kam dieser Typ, seinen Namen habe ich gerade vergessen, nachdem er die Vivian kennengelernt hatte, grundlos und wie zufällig öfter vorbei, und immer war dann auch die Vivian da. Mütter sind neugierig! Natürlich hat die Beate aus dem Fenster gespäht, wenn die Vivian abgeholt wurde und ausnahmsweise kein Auto brauchte. Dann sah sie den Lehrer an der Straßenecke warten.«

Ich atmete schwer. »Na gut, dann hat sie es eben gewußt«, sagte ich, »aber warum soll es nicht stimmen, daß sie trotzdem selbst in ihn verliebt war?«

»Großer Gott, du bist schwer von Begriff. Sie machte sich wenig aus laschen Softies, oft genug haben wir über ihn gesprochen. Aber andererseits fand sie seine Freundschaft zu der Vivian auch nicht weiter schlimm. Sie sagte ungefähr so: ›Lehrer sind meistens pädophil, und Vivian hat einen Vaterkomplex, also haben sie eine solide Basis.‹ So redet man doch nicht, wenn man selber auf einen Mann scharf ist.«

»Es könnte auch Tarnung gewesen sein«, wandte ich ein, »damit du es nicht merkst.«

Jürgen sah mich kopfschüttelnd an.

»In welcher Welt lebt ihr alten Jungfern eigentlich?« posaunte er laut, daß andere Gäste ihre Köpfe umdrehten und mich interessiert begutachteten.

»Tut mir leid, Rosi, war nicht persönlich gemeint. (Wie denn sonst, dachte ich.) Aber du kannst dir wahrscheinlich nicht vorstellen, daß Beate und ich ohne den ganzen Beziehungsquatsch auskamen.«

Ich wollte gehen, aber er hielt mich fest, schwitzend und biergefüllt, ähnlich wie Hartmut neulich. Eiskalte Wut kroch in mir hoch.

»Herr Faltermann, lassen Sie mich los! Ich war eben auf der Beerdigung meiner besten Freundin und bin nicht disponiert für solche beleidigenden Gespräche.«

»Aha, jetzt bin ich auf einmal der Herr Faltermann. Die Gnädige will sich nicht mit einem Vertreter duzen. Die Beate war ein ganz anderer Mensch als du, die kannte keinen Dünkel und keine Vorurteile. Und in diesen lauen Typ war sie nie im Leben verliebt«, er überlegte kurz, »das könnte ich mir viel eher von dir vorstellen.«

Flammende Röte stieg mir ins Gesicht, und er sah es.

»Na, nichts für ungut, Rosi. Ich wollte die höhere Tochter nicht beleidigen. Eigentlich bin ich nur wild geworden, weil mich die Bullen nerven. Und das verdanke ich wahrscheinlich dir. Die denken, ich hätte mich mit Beate zum Sektfrühstück verabredet, sie hätte mir dabei eröffnet, daß sie einen anderen liebt, und ich hätte sie dafür abgemurkst. — Sie wissen nämlich auch, daß ich mit Beate schon einmal früher auf diesem Turm war, das hast du ihnen wohl auch erzählt.«

»Kann ich jetzt gehen?« fragte ich; mir ging es wirklich wieder ganz schlecht, ich bekam wohl einen Rückfall.

»Gleich«, sagte Jürgen, »nimm’s nicht so tragisch, ich bin eine ehrliche Haut und sage, was ich denke. Eine Frau in deinem Alter ohne Mann und Kinder hat wahrscheinlich Phantasien über anderer Leute Liebesleben. Steck also deine Nase nicht mehr in Dinge, die dich nichts angehen. Die Beate hätte sich weder aus unglücklicher Liebe umgebracht, noch hätte ich ihr etwas angetan, wenn sie mir den Laufpaß gegeben hätte. Ist das ein für allemal klar?«

Ich nickte, und er ließ mich endlich los. Ich zahlte an der Theke und machte, daß ich wegkam.

Im nachhinein fiel mir natürlich so manches ein, was ich ihm hätte sagen können. Wenn er mit den Phantasien alter Jungfern anfing, hätte ich kontern können, daß Beate mir den Qualitätsunterschied von ihm und Witold klargemacht hatte.

Wie soll man einen großen starken Mann umbringen (der einen mit zwei Fingern festhalten kann), wenn man keinen Revolver zur Verfügung hat? Gift? Und woher das Gift nehmen? Und wie es ihm eintrichtern? Ein neuer Revolver mußte her. Wie kommt man an so was ran? Ein Profi mußte her, ein Killer! Das war die Lösung. Ach, auch absolut indiskutabel, die wollen doch — laut Fernseh-Krimi — mindestens 100000 DM haben, woher sollte ich die nehmen?

Und wie sollte ich einen Killer finden, ich, die anständige Rosemarie Hirte von der Rechtsschutz-Versicherung? Ich schenkte ihm großmütig das Leben.

Außerdem hatte dieser Schuft mir die Chance genommen, nach der Beerdigung mit Witold zu sprechen. Immerhin war es möglich, daß Witold nach diesen traurigen Stunden mit einer Menschenseele reden wollte, aber nicht vor allen Verwandten mit Vivian in Kontakt treten mochte. Er hatte mich bestimmt gesucht. »Thyra«, hätte er gesagt, »komm, du Getreue, gehen wir noch zu dir und plaudern ein wenig!« Vielleicht hatte er sogar gesehen, daß ich mit diesem ekelhaften Jürgen Faltermann abgezogen war.

Ich vergrub mich in mein Bett und hörte die Brahmslieder.

»Auch der Küsse Duft mich wie nie berückte, die ich nachts vom Strauch deiner Lippen pflückte.« Witold war ein guter Psychologe. Er wußte, daß sich eine alte Jungfer bei solchen Worten ausweinen kann. Mein ganzes Leben lang hatte ich nicht soviel geweint wie jetzt, im beklagenswerten Alter von zweiundfünfzig Jahren, wo ich mich vielleicht zum ersten und einzigen Mal verliebt hatte, aber leider zu spät.

Konnte ich es mir leisten, geduldig zu warten, auszuharren, bis Vivian sich eine frische Liebe zulegte? Jeder Tag machte mich unwiederbringlich älter und häßlicher. Vielleicht war noch kurzfristig etwas zu retten — Haare färben, teures Make-up, Vitamine und Hormone —, aber man konnte die Tage zählen, wo auch damit nichts mehr auszurichten war.

Vor fünf Jahren hätte ich einen Mann erwürgen sollen, das wäre nur recht und billig gewesen. Ungern dachte ich an dieses Erlebnis zurück, allein bei der Vorstellung an jenen Menschen stieg mir die Schamröte ins Gesicht. Die letzten Urlaube hatte ich meistens mit einer zähen Reisegesellschaft verbracht:

»Ältere Herrschaften mit etwas Geld besichtigen Ruinen und baden anschließend an der türkischen Riviera« — so etwa hießen meine langweiligen Unternehmungen.

Aber früher war ich gern ganz allein in ausländische Badeorte gefahren und hatte im Prinzip nichts gegen einen gepflegten Ferienflirt einzuwenden. Dieser junge Mann damals, der fast akzentlos deutsch sprach, hatte anfangs Charme und Witz entwickelt, und ich war durchaus einverstanden gewesen, daß er abends in meinem Hotelzimmer blieb. Nach zwei Tagen hatte er mich in eine teure Boutique geführt, weil er fand, daß ich mir ein maritimes Kleidungsstück zulegen sollte. Angetan von seinem sachkundigen Geschmack, ließ ich mich beraten und erstand ein nicht eben billiges Matrosenkleid, dunkelblau mit großem weißen Kragen. Ohne seine Hilfe hätte ich mich nie zu diesem Kauf entschlossen. Es stand mir phantastisch. Groß und schlank wie ich bin, konnte ich diesen Stil hervorragend tragen und wunderte mich bloß, daß ich nicht selbst auf so eine phänomenale Idee gekommen war.

Der Laden vertrieb auch Herrenkleidung. Nachdem der Kauf des Matrosenkleides beschlossene Sache war, wählte mein Begleiter einen ecrufarbenen Seidenanzug für sich aus und zog ihn probehalber an. Er machte mindestens eine so gute Figur darin, wie zuvor ich in meinem Kleid. Ich nickte ihm anerkennend zu. Da zeigte er mir diskret das Preisschildchen und gestand, daß dieser Kauf über seine Verhältnisse gehe und ich ihm dabei unter die Arme greifen müsse. Ich schüttelte sofort den Kopf.

»Wenn du dir diesen Anzug nicht leisten kannst, mußt du eben darauf verzichten«, sagte ich sachlich, aber nicht unfreundlich.

Darauf erwiderte mein Freund mit erschütternder Lautstärke:

»Dann kannst du dir auch keinen jungen Liebhaber leisten.«

Die Verkäuferin konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Ich bezahlte das Kleid, ließ es im Hotelschrank hängen, packte fahrig und fuhr nach Hause.

Wie gern hätte ich diesen bewundernswert gemeinen Gigolo ermordet. Lang dachte ich darüber nach, wie man es hätte anstellen müssen. Im Hotel wäre es nicht leicht gewesen, aber einen Liebhaber konnte man ebenso an verschwiegene Orte locken wie die beste Freundin: Ich hätte ihn von einer Klippe stoßen können.

Frau Römer rief mich freudestrahlend im Büro an. Ihr Rentenantrag war bewilligt worden, und sie brauchte nie mehr in die Versicherung zurückzukommen.

»Morgen schaue ich mal rein und räume meinen Kram aus dem Schreibtisch; im Schrank ist auch noch ein Schirm von mir.«

Ich bot ihr an, die Sachen in den nächsten Tagen vorbeizubringen, schließlich hatte sie kein Fahrzeug, und ihr rechter Arm war stark angeschwollen.

Also begann ich, ihre Habe in einer Plastiktüte zu verstauen.

Nicht nur der Schirm war im Schrank, es fanden sich auch ein Paar Hausschuhe, eine malvenfarbene Strickjacke, coffeinfreier Pulverkaffee, eine silbrige Kaufhaustasse und eine angebrochene Dose mit verdorbener Kondensmilch. In den Schubladen hatten sich Papiertaschentücherpackungen angesammelt, Medikamente, Bonbons, Nähzeug, Prospekte, Sicherheitsnadeln und eine Ersatzbrille.

Ich besah mir die vielfältigen Medikamente. Da gab es Nasenspray, Kopfschmerz- und Migränemittel, Salbe für Sportverletzungen und eine volle sowie eine angebrochene Packung mit einem Digitalispräparat. Ich wußte, daß ihr Herzleiden mit einem Mittel aus dem hochgiftigen Fingerhut behandelt wurde. Mein Interesse war geweckt. Ich las die Gebrauchsanweisung. Digitoxin hieß der gefährliche Bestandteil in der interessanten Pille. »Für myocardiale Insuffizienz, rezidivierende supraventriculäre Tachycardien, Vorhofflimmern und Vorhofflattern infolge von Herzinsuffizienz« — das klang mir wie Musik in den Ohren. Ich beschloß, Frau Römer die volle Packung nicht auszuhändigen, sondern prophylaktisch aufzuheben. Man wußte ja nicht, wofür man so ein starkes Gift einmal brauchen konnte.

Zu Hause wuchs meine Neugierde. Ich beschloß, ein kleines Experiment zu machen: Pralinen füllen mit Gift. Ich würde schon eine geeignete Abnehmerin finden, unter Umständen sogar Vivian.

Ich verließ, wenn auch ungern, noch einmal die Wohnung und begab mich in den kleinen Laden um die Ecke. Nun, Waschpulver, Vollkornbrot, eine Käseecke und etwas Obst konnte man immer brauchen, des weiteren aber kaufte ich eine Packung Schokoladen-Trüffel, gefüllt mit Orangenlikör.

In der Küche drückte ich eine Tablette aus der silbernen Schutzfolie. War dieses heikle Ding als Ganzes überhaupt in eine Trüffel einzupassen? Vorsichtig bohrte ich die Trüffel mit einem Fleischspießchen an. Zu meinem Erstaunen lief aber keine Flüssigkeit heraus, der Likör war in der zart schmelzenden Schokoladenmasse eingebunden. Es gelang mir, die Trüffel etwas auszuhöhlen, die Pille hineinzuschieben und die Praline wieder zuzudrücken. Sie sah allerdings etwas verformt aus, als habe sie in der Sonne gelegen.

Nun mußte ich einen Selbstversuch riskieren und mein Machwerk in den Mund stecken. Etwas ängstlich las ich ein zweites Mal die Gebrauchsanweisung. Wenn herzkranke Patienten dreimal täglich so eine Tablette schluckten, konnte mir eine nicht schaden. Also Mut! Ich schob mir das Ding in den Mund. Nein, es ging wirklich nicht. Die Zunge hatte den Fremdkörper sofort entdeckt und schokoladenbraun gefärbt wieder ausgestoßen. Zu groß, die Tablette.

Ich nahm sie, wischte die Schokolade mit einem Geschirrtuch ab und begann, die Tablette zu pulverisieren. Mit einem Messer erzielte ich nur Krümel, aber mit einem Hammer kam ich zu einem guten Ergebnis. Die zweite Praline wurde angebohrt und mit Pulver gefüllt, was zwar vorzüglich gelang, aber wiederum eine bemerkenswert matschige Trüffel zur Folge hatte. Ich probierte: Es schmeckte so gräßlich, daß ich die Trüffel angeekelt in den Spülstein spuckte. Pfui Teufel!

Nur ein Mensch mit abgestorbenen Geschmacksnerven konnte so etwas herunterkriegen. Und dabei mußte er — grob geschätzt — mindestens zwölf solcher Trüffel hintereinander wegessen, um aus den Pantinen zu kippen.

Nein, sagte ich mir, Vergiften liegt mir nicht. Wenn ich nun solche Trüffel, in mühevoller Arbeit gebastelt, anonym an Vivian oder den Faltermann schicken würde, was wäre dann?

Vivian würde eine probieren und den Rest wegkippen.

Faltermann würde vielleicht überhaupt nicht probieren (Biertrinker haben andere Gelüste), sondern das Geschenk seiner Frau oder einer neuen Eroberung anbieten. Das taugte alles nichts. Ich aß zornig die restlichen Trüffel auf — gegen alle meine eisernen Prinzipien — und legte das Gift wieder zu Frau Römers anderen Habseligkeiten.

Als ich nach einigen Tagen bei Frau Römer auftauchte, dem Dieskau eine Bratwurst und ihr selbst die kopierte Brahmskassette überreichte, umarmte sie mich erstmalig nach so vielen Jahren freundschaftlicher Verbundenheit, die nie in schulterklopfende Vertraulichkeit ausgeartet war.

»Frau Hirte, Sie sind die einzige aus der Versicherung, die ich vermissen werde. Die ganze Zeit haben Sie sich liebevoll um mich und meinen Hund gekümmert, heute habe ich auch mal etwas für Sie!«

Ein bißchen geheimnisvoll führte sie mich ins Schlafzimmer und hob ein Schmuckkästchen aus dem Kleiderschrank.

»Alles, was ich zu vererben habe, kriegt natürlich meine Tochter. Aber aus bestimmten Gründen möchte ich ihr dieses eine Stück nicht geben. Das schenke ich Ihnen«, und sie steckte mir feierlich eine Brosche an die Bluse. Es war ein altes Erbstück, das Profil eines Hermes aus schwarzem Obsidian geschnitten und von einem feinen Goldrand umrahmt.

»Sie sind verschwiegen, Frau Hirte, das weiß ich seit vielen Jahren. Niemand kennt den Vater meiner Tochter, und ich habe auch keinerlei Kontakt mehr zu ihm. Als das damals passierte, war er siebzehn und ich schon Ende Zwanzig. Ich konnte natürlich keinem erzählen, daß ich mich mit einem Schüler eingelassen hatte, und an Heirat war nicht zu denken. Ich habe ihm nie etwas von der Schwangerschaft mitgeteilt und habe damals meine Heimatstadt sofort verlassen. Diese Brosche hier ist von ihm. Er hat sie seiner Mutter einfach geklaut. Nie habe ich sie zu tragen gewagt, und ich möchte eigentlich auch nicht, daß meine Tochter sie trägt. Ich habe dieses Kind allein aufgezogen und ernährt. Wenn sie diese Brosche trüge, würde ich wahrscheinlich leiden.«

Ich wollte das erinnerungsträchtige Stück nicht annehmen.

»Doch«, sagte Frau Römer, »meiner Tochter gefällt sie gar nicht. Lassen Sie mir doch die Freude!«

Mit gemischten Gefühlen ließ ich also den Schmuck an meiner Bluse baumeln, denn die feine Seide wurde durch das schwere Material arg malträtiert. Ob auch Frau Römer berechnend war? Denn auf die geplante Amerikareise konnte sie den Dieskau nicht gut mitnehmen.

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