9

Pamela Schröder zog einen Trainingsanzug von ihrem Sohn an. »Meine Nachtkleidung taugt nicht für dieses Massenlager«, sagte sie, was ich nicht ganz verstand.

Sie grinste. »Ich schlafe sonst nackt«, erklärte sie schockierenderweise.

Kaum lag ich neben Kitty, da fing sie an zu schnarchen.

Scarlett fluchte.

»Das ist ja entsetzlich, macht sie das immer?«

Ich versicherte, daß Kitty die zwei vorherigen Nächte völlig diszipliniert und tonlos geschlafen hätte.

»Dreh sie mal um«, befahl Scarlett, »dann hört es meistens auf.«

Ich versuchte es. Aber Kitty wendete sich mit Kraft wieder in die ihr vertraute Rückenlage und schnarchte weiter.

Scarlett stand am Fenster. Plötzlich zog sie ihren Anorak an, ergriff die Zigaretten und das Feuerzeug und meinte, sie ginge noch eine rauchen.

Ich sah aus dem Fenster in den dunklen Garten. Dort glühte bereits eine Zigarette. Scarlett war zielstrebig dorthin gelaufen, und schon sah man zwei Glühwürmchen, die auf eine verschwiegene Bank zusteuerten.

Das konnte nur Witold sein, mit dem sie sich traf. Wollten beide nur in Ruhe qualmen, ohne von ihren nicht-rauchenden Zimmergenossen gescholten zu werden, oder hatten sie etwas miteinander? Wenn ich nur hören könnte, was sie sprachen.

Nach fünf Minuten war meine Geduld zu Ende. Hier schnarchte Kitty mit unerschütterlicher Exaktheit, dort saß Witold mit der roten Hexe auf einer Bank. Ich zog mir die Jacke über den Jogginganzug, Socken und Hausschuhe über die bloßen Füße und einen Schal um den Hals. Die herbstliche Nachtluft war zwar nicht eisig, aber feucht und frisch.

Kitty merkte nicht, daß auch ich das Zimmer verließ. Die Treppe zum Erdgeschoß war breit, ich tastete, ohne Licht zu machen, hinunter, schlich durch die offene Tür in den Garten.

Ein Hochgefühl überkam mich. Gleich würde ich wieder teilnehmen an Witolds Privatleben, würde ich Worte hören, die nur für einen bestimmten Menschen gedacht waren. Möglich war natürlich auch, daß ihre Unterhaltung völlig oberflächlich war.

In diesem Garten mit Kieswegen und Blumenbeeten kannte ich mich nicht gut aus. Es dauerte ziemlich lange, bis ich auf Umwegen und mit vielen Pausen in die Nähe der bewußten Bank — die ich ohne glimmende Zigaretten nur erahnen konnte — herangeschlichen war. In diesem Fall wäre es vernichtend peinlich gewesen, wenn sie mich entdeckt hätten. Nun hörte ich sie reden, aber leise und vertraulich, ich mußte noch viel näher herankommen, damit ich sie verstehen konnte. Wie ein Indianer kroch ich auf allen vieren, da die Büsche nur halbhoch waren und nicht genügend Schutz boten.

Scarlett schimpfte auf ihren Mann.

»Ich kann seine Angeberei nicht ertragen. Wenn er einmal angeleiert ist, kommt meistens noch ein Dutzend andere Weibergeschichten aufs Tapet.«

»Für mich war das heute aber eine echte Enthüllung«, meinte Witold, »diese Story hat er mir noch nie erzählt.«

»Wenn sie überhaupt wahr ist«, fauchte Scarlett, »es ist doch äußerst kränkend für mich, wenn er immer in meiner Gegenwart von gehabten Liebesfreuden redet, und geradezu scheußlich finde ich seine Klagen, daß es damit vorbei ist.«

»Du mußt dich rächen«, schlug Witold vor. »Denkst du auch noch oft an Portugal?«

Beide schwiegen.

Pamela Schröder fragte schließlich: »Wo hast du eigentlich diese alte Schachtel auf getrieben?«

»Wen meinst du?«

»Na, diese Thyra, wie sie sich affigerweise nennt.«

»Aus deinen Worten spricht der blanke Neid, weil du in diesem Kreis nicht mehr die Königin der Exotennamen bist.

Ich habe sie in Weinheim auf der Kerwe kennengelernt.«

»Rainer, jetzt lügst du. Solche hölzernen Gretchen lassen sich nicht auf der Kirmes ansprechen.«

»Sie war ja auch nicht allein dort. Hat Ernst dir nicht davon erzählt? Als du in Amerika warst, sind Ernst und ich auf die Kerwe gegangen und haben dort Thyra und ihre Freundin zufällig kennengelernt.«

»Ach ja, die Freundin ist doch die, die vom Turm gefallen wurde?«

»Stimmt, Beate hieß sie, eine wirklich nette Frau. Wie die Sache mit dem Turm nun de facto war, kriegt nicht mal unsere Superpolizei heraus.«

»Rainer, du hast es raffiniert eingefädelt, auf diesem Elsaß-Trip deine Fans um dich zu scharen…«

»Gehörst du etwa dazu?«

Scarlett lachte und verlangte Feuer für die zweite Zigarette.

»Ich habe eben ein Rascheln gehört«, sagte sie zu meinem Schrecken.

»Mäuse, Katzen, Löwen und Tiger. Und außerdem der eifersüchtige Ernst mit einem Hirschfänger«, scherzte Witold.

»Ach, wenn er doch eifersüchtig wäre! Ich habe das Gefühl, es interessiert ihn gar nicht, was ich so treibe.«

»Sollen wir das mal wieder testen?« schlug Witold vor.

»Auf so ein Angebot warte ich schon lange«, erwiderte Scarlett, »und als erstes könntest du mich etwas wärmen, es wird nämlich kalt hier draußen.«

Witold schien den Arm um sie zu legen, die beiden Zigaretten waren sich sehr nahe. Ich hatte Lust, beide auf der Stelle zu lynchen.

»Um wieder auf deine Verehrerin zu kommen«, begann Scarlett erneut, »merkst du gar nicht, daß sie alles täte, um deine Gunst zu erringen?«

»Na und, will das nicht jede Frau?« fragte Witold frech.

Scarlett schien ihn zu mißhandeln, denn er schrie etwas zu laut: »Au, bist du verrückt!«

»Und die liebe Kitty hast du dir auch unterworfen. Hast du eigentlich mal mit ihr geschlafen?«

»Mein Gott, Scarlett, du muß mich ja wahnsinnig lieben, daß du so viel Eifersucht produzierst!«

»Du Hund von einem trauernden Witwer! Irgendeine Frau hast du, das spüre ich genau. Oder war es etwa diese Beate?«

»Nicht schlecht geraten. Aber, liebe Scarlett, du dürftest allmählich bemerkt haben, daß ich das Alter unter dreißig bevorzuge!«

Mitten in diesem Geplänkel fing sie an zu schluchzen. Das Weib war raffiniert, denn auf der Stelle brach Witolds Tröster-und Helfernatur durch, — er flüsterte und schien sie zu liebkosen.

Mir war, als würde mein Herz zerschnitten. Diese Frau hatte einen netten Mann und zwei Kinder, sie hatte Schönheit und Temperament, Geld und Freunde. Warum nahm sie sich diesen Mann, wo sie doch wußte, daß Kitty und ich ihn brauchten.

Ganz leise und sanft sagte sie: »Im Auto ist es ein bißchen wärmer!«

Jetzt schlichen die beiden davon, so wie ich vorhin herbeigeschlichen war. Kurze Zeit später hörte ich den Motor von Witolds Auto. Anscheinend hatten sie wenigstens den Anstand, es nicht direkt auf dem Parkplatz zu treiben.

Ich brauchte nun nicht mehr zu schleichen. Zitternd ging ich wieder ins Haus und legte mich neben Kitty, die Ahnungslose.

Ich wartete. Zwei Stunden waren vergangen. Kitty schnarchte diskreter, ich schlief immer wieder sekundenlang ein, wachte aber sofort mit dem Entsetzen auf, daß ich meinen Kampf um Rainer Witold Engstern verloren hatte. Nicht an Vivian, die junge, auch nicht an Kitty, der ich den Sieg um ein Haar gegönnt hätte, sondern an eine Teufelin. Im Mittelalter hätte man sie verbrannt.

Ich mochte doch etwas länger geschlafen haben. Plötzlich meinte ich, von einem Geräusch geweckt worden zu sein. Kitty atmete ruhig; war Scarlett zurückgekommen und im Bett? Ich knipste das Lämpchen an. Es war halb vier, das Zusatzbett war leer. Mein ebenfalls leerer Magen knurrte, ich empfand brennenden Durst. Ich machte das Licht wieder aus und tappte die vier Schritte zur Badezimmertür, um Wasser zu trinken.

Die Bäder waren in diesem alten Haus nachträglich eingebaut worden. Man hatte von dem an sich großen Raum eine Ecke abgeknapst und in ein Mini-Bad verwandelt. Auf abenteuerliche Weise war es dem Architekten gelungen, ein schwenkbares Bidet, eine kleine Wanne, Klo und Waschtisch unterzubringen und somit den Vorschriften Genüge zu leisten.

Im Bad brannte Licht, aber es war nicht abgeschlossen.

Scarlett lag in der Wanne. Ich starrte sie an wie ein Gespenst.

Sie war ein wenig verlegen.

»Komm ruhig rein«, sagte sie, »ich schließe nie ab. Ich war so durchgefroren, da hilft mir nur ein heißes Bad.«

Ich nahm das Zahnputzglas und füllte es mit Wasser.

»Du warst nicht im Bett?« fragte ich.

Sie reagierte gereizt und aggressiv. »Wenn du es schon weißt, warum fragst du dann.«

In mir kochte es. »Du denkst wohl, eine alte Schachtel, ein hölzernes Gretchen, müßte gleichzeitig auch noch blöde sein?

Ich weiß, mit wem du draußen warst.«

Scarlett war kampfbereit. »Du hast uns belauscht«, stellte sie fest, »und zwar, weil du ihn selber willst. Pfui Spinne, ich finde das zum Kotzen!«

»Scarlett, wie du dich affigerweise nennst, was du gemacht hast, ist natürlich edel und anständig«, konterte ich.

»Ich habe wirklich nichts Unrechtes getan«, sagte sie, »aber wenn prüde und zu kurz gekommene Jungfern hinter allem und jedem Sünde wittern und andere Menschen belauschen, dann ist das für mich der Inbegriff von Schlechtigkeit.«

Ich schnaubte vor Haß und rang nach Worten, um es ihr heimzuzahlen.

Scarlett hob ihren hübschen kleinen Fuß mit den rotlackierten Zehnägeln hoch und betrachtete ihn zufrieden.

»Was war mit Beate?« fragte sie.

Mir stockte der Atem. »Wieso?«

»Sie hat was mit Rainer gehabt«, fabulierte das Biest, »und du hast sie aus Neid vom Turm gestoßen.«

Ich griff nach dem elektrischen Lockenstab, den Scarlett bei ihrem abendlichen Aufputz benötigt hatte. Der Stecker war eingeschaltet. Blitzschnell fegte ich ihn in die volle Badewanne.

Durch den Kurzschluß ging die Spiegelleuchte aus, aber die Deckenlampe zum Glück nicht. Scarlett wurde ohnmächtig.

Oder war sie tot?

Ich schloß geistesgegenwärtig die Tür ab. Ob Kitty von unserem — nicht sehr lauten — Gespräch wach geworden war?

Was sollte ich nun machen?

Ich zog den Stecker aus der Steckdose, den Lockenstab aus der Wanne. Ich besah mir die Nackte und fühlte den Puls, war mir aber nicht ganz sicher, ob ich ihn schwach spüren konnte oder nicht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß sie lebte. Sie würde bald zu sich kommen, schreien, mich verraten: Nicht nur, daß ich sie ermorden wollte, sondern auch die Sache mit Beate.

Meine Ärmel durften nicht naß werden. Ich krempelte sie hoch, setzte mich auf den Wannenrand und schob ihren Kopf langsam hinunter, bis er ganz unter Wasser war, dafür aber die Beine aus der kleinen Wanne ragten. Ich sah auf die Uhr und hielt den Kopf eine gute Viertelstunde in dieser Lage. Scarlett bewegte sich nicht. Die Augen stierten mir grün zwischen den roten, tangartigen Haarsträhnen entgegen, ihr sommersprossiger Körper erschien mir lappig und schwammig.

Sie war tot.

Ich trocknete mir gründlich die Arme ab, wickelte Scarletts Lockenstab in ein Hotelhandtuch und lauschte am Schlüsselloch, ob irgendwelche Laute von Kitty zu vernehmen waren. Nichts zu hören. Vorsichtig drehte ich den Schlüssel herum und öffnete unendlich leise die Tür. Kitty schlief fest wie seit Stunden. Mit dem Lockenstab im Handtuch schlüpfte ich aus dem Bad, schloß die Tür, tastete mich an meinen Koffer und versteckte das feuchte Bündel unter meinen Kleidern. Dann versuchte ich, mich ohne die geringste Erschütterung auf das Bett gleiten zu lassen. Kitty drehte sich ein wenig und murmelte »Rainer«.

Nun lag ich da und wußte, daß ich wieder krank werden würde. Diesmal fand man eine Leiche in meiner unmittelbaren Nähe. Das eine Handtuch war naß, Scarlett aber lag in der Wanne und hatte es nicht benutzt; das zweite Handtuch fehlte ganz — war das nicht überaus verdächtig? Ob mich jemand nachts im Garten gesehen hatte? Vielleicht hatte Ernst seiner Frau nachspioniert? Sah man einem Körper an, daß er einen Elektroschock erlitten hatte — gab es Spuren? Bei Starkstromverletzungen, das wußte ich, kam es zu schweren Verbrennungen. An Scarlett war mir äußerlich nichts aufgefallen, aber ich war weder Arzt noch von der Kripo. Auf keinen Fall durfte ich als erste aufstehen und die Leiche finden.

Witold würde Kitty wieder frühzeitig wecken. Sie würde dann ins Bad huschen, und ich mußte von ihrem grauenhaften Schrei geweckt werden.

Ich lag im Bett, es wurde langsam hell, ich wartete auf Witolds Klopfen und auf Kittys Schrei, aber es war schließlich acht, und nichts rührte sich.

Während die Minuten dahinschlichen, überlegte ich, ob ich Witold überhaupt noch wollte. Ich hatte solche Opfer für ihn gebracht, meine Freiheit, mein soziales Ansehen und auch alle meine bisherigen Lebensgewohnheiten aufs Spiel gesetzt.

Wenn er mich plötzlich — was unwahrscheinlich war, lieben würde, mit mir Tisch und Bett, Geld, Urlaub, Freunde und Gewohnheiten teilen wollte, war das eigentlich erstrebenswert?

Alles kam mir fragwürdig vor; er war mir im Grunde unendlich fremd. Verzweiflung überfiel mich; warum hatte ich drei Frauen umgebracht? Die erste mehr oder weniger aus Versehen, da konnte ich mir nicht viel vorwerfen. Eine schlimme Sache war der Mord an Beate, total überflüssig. Ich mochte nicht daran zurückdenken. Aber die heutige Tat — das Ertränken einer Hexe — erfüllte mich mit einer gewissen Genugtuung. Diese Frau hatte mich im Gegensatz zu den anderen aufs tiefste beleidigt.

Kitty rührte sich. Ich mußte mich fest schlafend stellen. Aus der Matratzenbewegung war zu schließen, daß sie sich aufsetzte, die Füße aus dem Bett schwang, wahrscheinlich auf die Uhr sah. Ich wußte, daß es halb neun war. Sie gab einen winzigen Laut der Verwunderung von sich, reckte und streckte sich und tappte auf bloßen Füßen ins Bad.

Der erwartete Schrei kam nicht, dafür eine von ihr bisher nicht benutzte resolute Lehrerinnenstimme: »Thyra, komm sofort!«

Das Kommando war durchdringend laut, so daß ich gehorchen mußte. Mit fahlem Gesicht und Übelkeit im Magen begab ich mich an den Ort meines Verbrechens. Die Fenster im Bad waren völlig beschlagen. Kitty hielt Scarletts Kopf aus dem Wasser.

»Pack an!« befahl sie, »halte sie unter dem rechten Arm, wir legen sie über den Wannenrand, damit das Wasser aus der Lunge laufen kann.«

Der schlaffe Oberkörper wurde mit vereinten Kräften über den Rand gehängt, lauwarmes Wasser tropfte in Mengen auf den Boden.

»Hol sofort die Männer! Ich halte sie in dieser Lage«, ordnete Kitty weiter an.

Ich raste ins Zimmer neben uns und machte auf, ohne anzuklopfen. Witold rasierte sich vor dem Waschbecken, Ernst schlief noch.

»Komm sofort, ein schrecklicher Unfall!« schrie ich; nicht Kitty, sondern ich war hysterisch geworden. Witold ließ den Rasierpinsel fallen, wischte den Schaum mit einem Handtuch weg und sauste mit nacktem Oberkörper ins Nachbarzimmer, ich hinter ihm her. Ernst Schröder war zwar wach geworden, konnte aber nicht so schnell reagieren.

Kitty kommandierte im Badezimmer: »Ernst soll mir helfen, sie aufs Bett zu tragen, damit ich sofort mit der Mund-zu-Mund-Beatmung anfangen kann. Rainer, du rufst Notarzt und Rotkreuzwagen!«

Ernst kam nun auch verschlafen hereingetorkelt und kriegte einen solchen Schock, daß er stolperte und hinfiel. Trotzdem jagte Kitty Witold zum Telefonieren hinunter, weil er als einziger gut französisch sprach. Ich mußte mit Kitty die Leiche packen und zum Bett tragen; Ernst Schröder rappelte sich indes wieder hoch und half.

Kitty warf eine Decke über die tote Nackte und begann zielsicher mit der Beatmung. Ernst hatte Scarletts Hand genommen und sagte immer wieder: »Sie ist nicht tot.«

Tatsächlich war das Badewasser noch nicht kalt, und daher war wohl auch der Körper nicht starr und unterkühlt.

Irgendwann flitzte Witold die Treppe wieder hoch und löste Kitty bei ihrer Tätigkeit ab. Scarlett sah schrecklich aus, aber zum Glück brauchte ich sie mir nicht anzusehen. Ich wußte, daß die fieberhaften Bemühungen vergeblich waren.

Bemerkenswert schnell hörte man das Martinshorn. Zwei Rotkreuzhelfer und ein Arzt kamen im Galopp mit einer Trage, Sauerstoffgerät, Infusion und Arzttasche. Der Arzt befahl jedoch nach wenigen Handgriffen, die Tote in den Rettungswagen zu bringen. Sie wurde auf die Bahre gelegt, blitzschnell angeschnallt und wiederum in unglaublicher Geschwindigkeit in die Ambulanz gebracht. Dort wurden die Türen geschlossen, und der Arzt begann mit der Reanimation.

Wir standen wortlos herum, konnten nicht sehen, was sich im Inneren des Wagens tat, hatten aber das Gefühl, daß der Sanitätswagen jetzt eigentlich unter Sirenengeheul losfahren mußte. Nur ich wußte, daß er es wegen der Unmöglichkeit einer Wiederbelebung nicht tun würde. Gleichzeitig aber klapperten mir alle Knochen vor Angst, wenn ich an die Konsequenzen einer erfolgreichen Auferstehung dachte.

Nach einer Viertelstunde trat der Arzt mit ernster Miene aus dem Wagen, und man konnte an seinem Gesicht ablesen, was er zu sagen hatte. Er fragte auf Französisch, mit wem er reden könne.

Witold erklärte, Ernst Schröder sei der Ehemann der Verunglückten, spreche aber leider fast gar kein Französisch.

Der Arzt wandte sich trotzdem an Ernst und sagte in mühseligem Deutsch: »Es tut mir leid, mein Herr, man kann nichts machen.«

Zu Witold gewandt, sagte er, daß er noch einige Fragen habe.

Keiner von uns war angezogen. Ich war im Jogginganzug, Kitty im Schlafanzug, Witold nur in der Pyjamahose, Ernst in einem Bademantel. Wir gingen ins Haus. Kitty lief hinauf und holte für Witold einen Pullover. Ich ging nach ihr in unser Zimmer, holte das nasse Hotelhandtuch wieder aus dem Koffer und warf es in eine Badezimmerecke, rollte den Lockenstab in schmutzige Wäsche und vergrub ihn wieder gut auf dem Grunde des Koffers.

Dann zog ich mich rasch an und ging wieder zu den anderen.

Auf dem Flur entdeckte ich den Sicherungskasten. Mit einem Taschentuch öffnete ich ihn und drückte die herausgesprungene Sicherung wieder ein.

Der Arzt wollte wissen, ob Pamela herzkrank gewesen sei oder an einer anderen chronischen Krankheit gelitten habe, ferner ob sie regelmäßig Medikamente einnehme. Zu meiner Verwunderung sagte Ernst, seine Frau habe einen angeborenen Herzfehler gehabt, der jedoch nicht behandlungsbedürftig gewesen sei. Allerdings habe sie körperliche Belastungen — wie zum Beispiel anstrengendes Wandern — gemieden. Aber sie sei im Grunde kaum krank gewesen, wenn man von Bagatellen absehe.

Der Arzt schrieb alles auf, Witold dolmetschte hin und her.

Schließlich meinte der Mediziner, die Todesursache sei nicht eindeutig festzustellen, da er die Tote ja nicht als Patientin kenne. Er könne keinen Totenschein ausstellen, sondern müsse in einem solchen Fall eine Obduktion anordnen und auch routinemäßig die Polizei einschalten.

Schließlich verabschiedete er sich, fragte aber zuvor, ob er Ernst noch eine Beruhigungsspritze geben solle. Witold erklärte, Monsieur sei selbst Apotheker und mit jeglichen Medikamenten bestens ausgerüstet.

Der französische Arzt zog bei dem Wort »Apotheker« prüfend die Augenbrauen hoch und musterte Ernst kritisch. Als er wegfuhr, war es fast zehn. Die Leiche war von den Sanitätern, die in der Ambulanz keine Toten transportieren durften, wieder aus dem Wagen genommen und in ein kleines Nebenzimmer im Erdgeschoß gebracht worden. Ernst begab sich zu der Toten, die demnächst abgeholt werden sollte, saß neben ihr und versteinerte.

Die Wirtin war zwar auch völlig außer sich, aber dabei mitfühlend und liebenswürdig. Die anderen Gäste waren zum Glück schon zeitig zu einer Fahrt aufgebrochen, und die große Katastrophe ließ sich vielleicht verheimlichen. Auf mütterliche Art befahl sie uns, erst einmal etwas anzuziehen und dann einen starken Kaffee zu trinken. Die Polizei hatte auch schon angerufen und darum gebeten, im Bad nichts anzutasten.

Kitty und ich duschten in einem anderen Zimmer. Witold war bereits fertig. Er nahm eine Tasse Kaffee vom Frühstückstisch und brachte sie seinem Freund. Kitty und ich tranken ebenfalls Kaffee, aßen sogar ein trockenes Hörnchen.

Witold sah aus wie das verkörperte schlechte Gewissen.

Natürlich hatte er keine Ahnung, wer von uns von seiner nächtlichen Eskapade etwas wußte. Um seine sichtliche Nervosität zu vertuschen, entwickelte er eine übertriebene Geschäftigkeit. Ständig wieselte er vom Frühstücksplatz, wo wir Frauen saßen, in die Küche zur Wirtin und dann in den stillen Raum, wo Ernst bei seiner toten Frau saß und nicht gestört werden wollte.

»Ich mache mir Vorwürfe«, sagte Kitty zu Witold und mir, »gerade in dieser Nacht habe ich wie ein Stein geschlafen, man hätte mich wegtragen können, und ich wäre nicht wachgeworden. Thyra oder ich hätten eigentlich hören müssen, als sich Scarlett spät in der Nacht das Badewasser einlaufen ließ, vielleicht hätten wir ihr noch helfen können.«

»Wahrscheinlich hatte sie eine Herzattacke, verlor das Bewußtsein und ertrank«, meinte Witold, »das könnte doch ganz lautlos geschehen sein. Kitty, du mußt dich nicht verantwortlich fühlen. Unterlassene Hilfeleistung ist wirklich nicht dein Stil, schließlich hast du hervorragend reagiert, traumwandlerisch alles richtig gemacht…«

Das tat Kitty gut. Sie lobte nun auch uns, daß wir phantastisch schnell geschaltet hätten. Wie entsetzlich, daß alles vergeblich war!

»Der arme Ernst!« seufzte sie, »wie geht es ihm denn jetzt?«

Witold meinte, er müsse ihn bald dazu bewegen, jenes Zimmer zu verlassen.

In punkto Kitty schien Witold beruhigt zu sein, aber er wußte natürlich immer noch nicht, ob Ernst oder ich von seinem Rendezvous etwas ahnten. Ich beruhigte ihn, indem ich in seiner Gegenwart zu Kitty sagte, daß ich nach der vorherigen Nacht voller Magenbeschwerden nun auch traumlos und tief geschlafen hätte.

Ein Polizist wurde von der Wirtin in unser Schlafzimmer und das Bad geführt. Er versiegelte die Badezimmertür, maß zuvor mit einem Thermometer das immer noch vorhandene Badewasser und fragte Kitty, wer in welchem Bett geschlafen habe. Der junge Mann sprach kein Elsässisch. Kitty antwortete in fließendem Französisch, verstummte allerdings, als Witold auftauchte, und überließ ihm die weitere Konversation. Der Beamte sagte, wir müßten alle hierbleiben, bis uns ein Kollege vernommen hätte, und der könne frühestens in zwei Stunden hier sein. Er sah auch nach der Toten, bat aber vorher Ernst Schröder, diesen Raum zu verlassen.

Ernst kam zu uns herein. Auf einmal schüttelte ihn ein Weinkrampf. Kaum konnte man ihn verstehen, aber er klagte sich selbst aufs heftigste an. Er habe mit seinem Geschwätz beim Abendessen Pamela beleidigt, denn seit Jahren könne sie solche Themen nicht ausstehen. Wahrscheinlich sei sie ganz wörtlich an gebrochenem Herzen gestorben. Kitty streichelte ihn wie ein Kind, nahm ihn in die Arme und sprach beruhigend auf ihn ein. Der Polizist kam wieder herein und sagte, er würde hier auf seinen Chef warten. Er ging dann in die Küche, um sich von der freundlichen Wirtin noch etwas Baeckaoffa aufwärmen zu lassen. Wir saßen beklommen da. Nur zu gern hätte Witold gewußt, ob Ernst ihn am Abend hatte wiederkommen hören. Wahrscheinlich mußte er ja noch wach gewesen sein, als Witold mit der Zigarette das Schlafzimmer verließ. Wir erfuhren aber von Ernst selbst, daß er eine, Schlaftablette genommen hatte, da er nach reichlichem Alkoholgenuß häufig überdrehte Zustände habe und nicht recht einschlafen könne.

Die Wirtin brachte uns eine Tasse heiße Zwiebelsuppe.

Schließlich erschien auch der Leichenwagen, aber dessen Fahrer hatte die Anweisung erhalten, auf den Kommissar zu warten, bevor er die Tote zur Pathologie brachte.

Nach gut drei Stunden kam der Kommissar. Auch er hielt sich zuerst bei der Wirtin in der Küche auf, wo bereits die zwei Totenträger und der Polizist saßen. Schließlich ging er mit der Fotoausrüstung und einem geheimnisvollen Köfferchen zu der Toten, die nun abtransportiert wurde. Kitty, die die Leiche gefunden hatte, sollte ihm oben im Badezimmer genau schildern, wann und wie das gewesen sei. Er fragte tatsächlich, warum das Handtuch naß in der Ecke läge, da sich Tote ja nicht abtrocknen. Kitty antwortete, wahrscheinlich habe sie Scarlett damit angefaßt. Scarletts Gepäck wurde in das Polizeiauto getragen. Ich war halbtot vor Angst, daß auch mein Koffer inspiziert würde. Aber es geschah nicht.

Schließlich wurden wir einzeln befragt. Anscheinend hatte einer der anderen Gäste, der unter uns wohnte, gehört, daß um Viertel nach drei noch Wasser lief, hatte sich darüber geärgert und sich die Zeit gemerkt. Kitty und ich sagten aus, daß wir absolut nicht wahrgenommen hätten, daß Scarlett noch so spät gebadet hatte. Auch Ernst erzählte nichts von Witolds später Zigarette, da er das wahrscheinlich vergessen hatte oder für unwichtig hielt. Die Wirtin hatte tief in der Nacht einen Wagen kommen hören, wußte aber nicht, wann. Die Gespräche mit dem deutsch sprechenden Kommissar zogen sich in die Länge.

Er war erst am späten Nachmittag mit uns fertig. Wir sollten am nächsten Tag in sein Büro kommen und die Protokolle unterzeichnen.

Ernst hatte sich nach dem Tränenausbruch und dem Verhör etwas gefaßt. Seine Sorge galt jetzt seinen Kindern. Er wollte ihnen die Nachricht persönlich, aber keinesfalls telefonisch mitteilen. Andererseits mußte er auf alle Fälle hierbleiben, bis alle Formalitäten geklärt und auch die Überführung der Leiche nach Deutschland geregelt war.

Witold schlug vor: »Wenn wir morgen bei der Polizei fertig sind, dann bitte ich dich, Kitty, mit meinem Wagen und Thyra heimzufahren. Ihr könnt hier doch nichts mehr für Ernst tun.

Ich bleibe hier bei ihm, übersetze bei den amtlichen Sachen und fahre ihn schließlich mit seinem Wagen heim. Aber natürlich müssen Annette und Oleg sofort informiert werden.«

Kitty fragte Ernst nach einer Person seines Vertrauens, die auch einen guten Draht zu den Kindern hätte. Ernst kam nun selbst auf die Idee, seine langjährige Apothekenhelferin und ein befreundetes Ehepaar anzurufen, das versprach, sich der Kinder anzunehmen und ihnen behutsam die schreckliche Wahrheit zu sagen.

Dabei fiel mir ein, daß ich bereits sieben Kinder — wenn auch keine kleinen — mutterlos gemacht hatte.

Keiner mochte an diesem Abend essen, aber die Wirtin brachte uns ungefragt eine Kleinigkeit aufs Zimmer, da sie uns vor der üblichen Heiterkeit der anderen Gäste bewahren wollte.

Wir gingen danach ein paar Schritte vor die Tür. Kitty hängte sich bei Ernst ein, sie ließ ihn sprechen, sich anklagen, weinen und hadern. Witold ging mit mir hinterher. Er war ebenfalls fix und fertig. Ein paarmal setzte er an und wollte etwas sagen, es gelang aber nicht.

»Thyra…«, begann er wieder ganz leise, »ach nichts.«

Ich hatte nicht Kittys Fähigkeit, ihn an der Hand zu nehmen.

Außerdem hatte ich auch keine Lust mehr dazu. Dieser Mann, das wurde mir immer klarer, würde, wenn ich viel Glück hatte, mal ein kurzes Techtelmechtel mit mir haben. Aber ich machte mir keine Illusionen, daß er treu und ehrlich bei mir bleiben würde. Beate hatte früher schon so etwas angedeutet: Eine Beziehung zu einem solchen Mann brachte nur Leid. Auch Scarlett hatte von einem »Ausbund an Charme« gesprochen, neben dem seine Frau Hilke stets im Schatten gestanden hatte.

Nein — keine Hand.

Aber plötzlich legte er los und war nicht mehr zu bremsen: »Thyra, drei Frauen sind tot. Eine davon war meine Frau, die hast du nicht kennengelernt, aber du warst bei ihrem Tod dabei.

Wir sind beide in diesem Fall schuldig geworden. Die nächste war Beate, deine Freundin, die ich durch dich kennengelernt habe und deren Tochter meine Geliebte wurde. Ein Zufall, könnte man sagen. Bei der dritten, die die Frau meines Freundes war, sind wir beide während ihres Sterbens nur wenige Meter entfernt gewesen. Ist das auch ein Zufall?« Er fing nervös ein fallendes Blatt auf.

»Wenn ich abergläubisch wäre«, fuhr er fort, »würde ich denken, daß wir — du und ich —, wenn wir zusammen sind, eine geheimnisvolle und unheilvolle Macht ausüben. Aber ich glaube nicht an Übersinnliches. Trotzdem, mir sind diese drei Todesfälle nicht geheuer. Ich weiß, am ersten bin ich selbst schuld. Aber die zwei anderen haben eine gewisse Parallelität dazu — auch da waren es Frauen, die weder krank noch alt waren und auf eine unnatürliche Weise umkamen. Was sagst du dazu?«

Ich überlegte. »Abergläubisch bin ich auch nicht. Es ist mir unvorstellbar, daß wir beide quasi als Todesengel Verderben bringen sollen. Wie könnte das vor sich gehen?«

Witold flüsterte, kaum hörbar: »Mord.«

»Einmal war es Totschlag im Affekt, zweimal war es ein Unfall«, antwortete ich kühl. »Der Unfall auf dem Turm war freilich spektakulär. Der in der Badewanne aber — statistisch gesehen — eigentlich nicht. Die meisten Unfälle, das weiß ich besser als du durch meine Arbeit in der Versicherung, geschehen nicht im Verkehr und Beruf, sondern im häuslichen Milieu.«

Witold gab sich damit zufrieden oder tat wenigstens so.

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