7

In der letzten Zeit beobachtete ich an mir, daß das überwältigende jugendliche Gefühl des Verliebtseins fast unmerklich schwächer wurde. Schwer zu sagen, ob ich eine gewisse Erleichterung darüber empfand, daß meine Gedanken nun nicht mehr so ausschließlich von diesem großartigen Thema blockiert wurden, oder ob ich traurig war über die zu erwartende Leere des Alters. Aber seltsamerweise rückte etwas Neues ebenso gleitend, schleichend in mein Halbbewußtsein vor, wie die Liebe sich wegzustehlen schien. Das drohende Vakuum des Liebesverlustes wurde dadurch kompensiert.

Es ist nicht leicht, die Anfänge dieser Wahrnehmung plausibel darzustellen: Zum ersten Mal empfand ich auf dem Friedhof jenes phantastische Gefühl der Macht. Später ertappte ich mich, daß mich mitten auf der Straße eine leichte Euphorie überkam: Niemand kann mir ansehen, daß ich zwei Menschen auf dem Gewissen habe und noch weitere umbringen könnte, wenn ich nur wollte.

Im Autoradio hörte ich Lotte Lenya das Lied von der Seeräuberjenny singen: »Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen, und ich mache das Bett für jeden…«, Jenny hatte sich gerächt für alle Demütigungen. »Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden…«, sang Lotte Lenya mit überzeugender Eindringlichkeit. Auch bei mir wußte niemand, mit wem er redete. Der Chef ahnte nicht, daß er einer Mörderin immer neue unangenehme Aufträge zuschob, Arbeiten, für die er im Grunde zu faul war. Wenn ich in meinem abgelegenen Bürozimmer saß und nach dem gemeinsamen Essen in der Kantine vor meinem geistigen Auge die fressenden und schwafelnden Kollegen Revue passieren ließ, dann rollte so mancher Kopf, und ich sagte bloß »hoppla!«

Macht über andere Menschen war fast besser als Liebe und im Grunde das Gegenteil davon. Wer liebt, ist machtlos, ohnmächtig und abhängig. Und doch wollte ich meine Verliebtheit noch nicht so ohne weiteres streichen, zu stark hatte sie in mein Leben eingegriffen, mir Jugendlichkeit, Schwung und Tatkraft verliehen, ein neues Körpergefühl und eine andere Selbsteinschätzung. Ich wollte weiterhin darum kämpfen, ich wollte noch einmal so einen heiterunbeschwerten Tag erleben wie damals auf unserer Wanderung durch den Odenwald.

Ich tat ein Gelübde, ich betete sogar, obgleich mir mein Glauben von einer unbarmherzig frommen Mutter frühzeitig ausgetrieben worden war. »Falls es dich gibt, Gott«, sagte ich, »dann schenk mir einmal im Leben das Glück der Liebe, das du anderen Menschen wahllos und reichlich in den Schoß wirfst. Ich habe dich nie um etwas gebeten. Jetzt ist es mir ernst. Wenn es dich geben sollte, dann mach, daß mich Witold liebt und wir uns kriegen. Wenn du aber ungerecht und hartherzig bist und dieses Gebet überhaupt nicht zur Kenntnis nimmst, dann werde ich in Zukunft keine Rücksichten mehr auf deine Gebote nehmen.«

Rosi, du willst den lieben Gott erpressen, dachte ich und mußte lachen.

Von Beates Kindern hörte ich nichts. Obgleich ich früher kaum je einen Gedanken an sie verschwendet hatte, beschäftigte mich jetzt ihr weiteres Schicksal. Ob man Beates Wohnung verkauft hatte? Ich entschloß mich eines Tages, ihre Nummer zu wählen. Der Sohn meldete sich, den ich am wenigsten kannte.

»Tag Richard«, sagte ich leise, »eigentlich wollte ich nur fragen, ob Beate irgendeinem Verein oder einer gemeinnützigen Organisation nahegestanden hat, für die ich eine Spende einzahlen könnte.«

Es entstand eine Pause, Richard grübelte.

»Du kannst ja was für Greenpeace überweisen«, schlug er vor.

»Ah ja? Ich wußte gar nicht, daß Beate sich dafür interessiert hat.«

»So direkt nicht«, wich er aus, »aber Greenpeace ist eine gute Sache, und meine Mutter war o.k.«

Ich fragte, wie es seinen Schwestern ginge.

»Der Opa war bis vor kurzem hier, er meinte, er müßte uns arme Kleinkinder versorgen, aber natürlich war es umgekehrt.

Lessi wohnt auch noch hier, ich nur manchmal. Vivian ist wieder in Frankfurt. Wie es uns geht — natürlich schlecht. So was verkraftet man nicht so fix.«

Ich fragte, ob Beates Wohnung verkauft würde. Vorläufig nicht, sagte er, ihre ganzen Sachen seien ja auch drin, das sei alles noch nicht geklärt.

»Unser Vater kümmert sich auf einmal um uns, wie er das die letzten zehn Jahre nie getan hat«, erzählte Richard mit mildem Vorwurf. Ich verabschiedete mich und versprach eine Spende für Greenpeace.

Immerhin hatte ich erfahren, daß Vivian wieder in Frankfurt wohnte, schließlich hatte das Semester auch begonnen.

Wahrscheinlich konnte sie sich mit Witold kaum täglich treffen, denn eine Stunde Fahrzeit hin und eine zurück waren an einem normalen Arbeitstag zu aufwendig. Oder machte das der Jugend nichts aus? Vivian hatte bisher kein Auto besessen, es war möglich, daß sie jetzt Beates Polo fuhr.

Ich rief Witold an. Er klang weinerlich. Gerade habe er eine starke Erkältung hinter sich, die jugoslawische Putzfrau überraschte ihn ständig mit fettem Essen, obgleich sie doch gar nicht kochen sollte, und in der Schule sei er mit wahnsinnig viel Arbeit eingedeckt. Demnächst gebe es Herbstferien, und eigentlich hätte er ein paar Tage mit Vivian verreisen wollen.

»Warum nur ›eigentlich‹?« fragte ich aufs äußerste interessiert.

»Manchmal denke ich schon«, seufzte der arme Witold, »daß ich ein alter Mann bin. Diese jungen Mädchen sind so sprunghaft. Wir hatten den schönen Plan, eine Woche im Elsaß zu wandern. Nun ruft sie plötzlich an, daß sie mit einer Freundin nach Amsterdam fährt, weil dort eine Party stattfindet! Ich bitte dich, Thyra, sie läßt mich wegen einer Party sitzen! Na ja, ›sitzenlassen‹ ist vielleicht etwas übertrieben ausgedrückt«, korrigierte er sich, »ich habe im Prinzip ja Verständnis für spontane Entschlüsse. Aber ich habe diese Wanderungen durch die Vogesen schon in allen Einzelheiten ausgearbeitet…« Mir gefielen seine enttäuschten Worte sehr, aber ich mußte höflicherweise mein Bedauern zum Ausdruck bringen. Immerhin bot sich die Gelegenheit, ihm ersatzweise einen herbstlichen Wandertag mit einem älteren Semester, wie ich scherzhaft sagte, anzubieten.

»Schade, daß du nicht Urlaub hast«, bedauerte Witold charmant, »ich überlege nämlich, ob ich diese gut ausgearbeitete Wanderung nicht mit einer Gruppe von Kollegen und Freunden…«, ich unterbrach ihn geistesgegenwärtig und behauptete, ich könne jederzeit Urlaub nehmen.

»Wirklich?« es kam gedehnt, »dann warte aber noch ab, Thyra, bevor du den Urlaub einreichst. Mir schwebt so eine Gemeinschaft von acht bis zehn Leuten vor, die ich alle noch nicht gefragt habe. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich Näheres weiß!«

Begeistert war er nicht gerade gewesen, aber das konnte man auch nicht erwarten, wenn er die Wanderung jetzt nur aus Trotz machen wollte und es eigentlich eine Liebesreise mit Vivian hätte sein sollen.

Vivian! Ich führte ein innerliches Zwiegespräch mit ihr, wobei ich mich seltsamerweise in Beates Rolle versetzte.

»Ganz richtig, Vivian«, sagte ich zu ihr, »fahr nach Amsterdam! In deinem Alter ist es viel angemessener, mit Gleichaltrigen ausgelassen zu sein, als mit einem doppelt so alten Lehrer durch die Vogesen zu stapfen. Überhaupt, laß die Männer zappeln! Laß sie leiden! Wer weiß, wie du selbst noch an ihnen leiden mußt!«

Ich sah Vivians Schicksal vor mir: Sie war kein mütterlicher Typ, diese ausgeflippte Kunststudentin. Sie würde wahrscheinlich keine bürgerliche Heirat anstreben, keine Kinder haben. Sie würde eine alte Schachtel werden wie ich, wenn auch mit einer weit bewegteren Vergangenheit.

Auf einmal schien mir Vivian keine Gefahr mehr zu sein, ich wunderte mich, warum ich je mit dem Gedanken gespielt hatte, sie aus dem Weg zu schaffen.

Ohne auf Witolds Rückruf zu warten, trug ich dem Chef meine Urlaubswünsche vor: Nächste Woche wollte ich frei nehmen, um mit Freunden im Elsaß zu wandern.

»Geht nicht, Frau Hirte«, sagte er bestimmt, »da sind doch Herbstferien, und Herr Müller und Frau Flori sind dann im Urlaub. Außerdem wissen Sie doch selbst am besten, daß wir in der nächsten Woche mehrere Terminsachen fertig kriegen müssen. Im September habe ich Ihnen nahegelegt wegzufahren, da wollten Sie ja nicht. Sorry!«

Damit war die Sache für ihn abgetan, er nahm seine Arbeit wieder auf und erwartete meinen Abgang. Ich gehorchte aus Gewohnheit.

In meinem Zimmer überkam mich die Wut. Jahrelang hatte ich unentgeltlich und jederzeit Überstunden gemacht, hatte nie eigene Wünsche geäußert, hatte dem Alten stets den Rücken frei gehalten und ihn auf loyale Weise unterstützt. Ein einziges Mal wollte ich auch etwas — da wurde es natürlich versagt. Was sollte eigentlich sein fortlaufend liebedienerisches Geschwätz?

Es war sein Mittel, mich rücksichtslos auszubeuten.

Ich malte mir genießerisch aus, wie der Chef in sein Zehn-Uhr-Brötchen beißen würde, das immer in seiner rechten, untersten Schreibtischschublade lagerte. Rattengift! Qualvoll würde er eingehen. Aber im Falle seines Ablebens bekam ich erst recht keinen Urlaub, weil man mir dann alle seine unerledigten Aktenberge zur Bearbeitung zuschieben würde.

Ich suchte ihn ein zweites Mal auf.

»Wenn Sie so wenig auf meine Interessen eingehen, wo ich mich seit vielen Jahren für die Ihren stark machte, dann werde ich meine Stellung hier kündigen«, es gelang mir, ganz kalt und prononciert zu sprechen, obgleich ich vor Mordlust schäumte.

Der Chef erschrak richtig.

»Um Gottes willen, Frau Hirte! Es läßt sich sicher ein Weg finden, Sie haben mich mißverstanden! Bisher bin ich noch allen Angestellten großzügig bei der Urlaubsregelung entgegengekommen!«

Ja, dachte ich, wenn man seinen Plänen zustimmte, hat er generös amen gesagt.

»Frau Hirte, das ist nicht Ihr Ernst mit der Kündigung! In letzter Zeit ist einiges auf Sie zugekommen; ich habe vom Tod Ihrer Freundin gehört. Sie kriegen diesen Urlaub auf alle Fälle, und wenn ich persönlich einen Teil Ihrer Arbeit übernehmen müßte!«

Das war zwar geschafft, aber ob aus der Wanderung überhaupt etwas wurde? Ob Witold am Ende zwar mit seinen Freunden wanderte, mir jedoch absagte? Aber eigentlich hätte er dann gar nicht davon anzufangen brauchen.

Ein weiteres Problem beschäftigte mich. Diese anderen Freunde und Kollegen von Witold —, ob die mich akzeptierten?

Und schließlich machte mir das Wandern an und für sich auch Sorgen; ich war unsportlich und untrainiert, vielleicht auch die Älteste in diesem Verein. Wenn das eine Gruppe ehrgeiziger und ausdauernder Athleten war, denen es gar nichts ausmachte, täglich acht Stunden in zügigem Tempo über Berg und Tal zu marschieren, womöglich mit einem schweren Rucksack auf dem Buckel, konnte ich da mithalten? Nein!

Ich hoffte inbrünstig, daß Ernst Schröder mit von der Partie wäre; erstens, weil ich ihn als einzigen von Witolds Freunden kannte, zweitens, weil ich ihn als korpulent, bequem und phlegmatisch in Erinnerung hatte, vielleicht sogar älter als ich.

Mit diesem freundlichen Dicken im Gefolge würde wahrscheinlich kein Überlebenstraining angestrebt.

In Gedanken beschäftigte ich mich hoffnungsvoll mit meiner Wanderkleidung. Ein bißchen kam es mir vor, als hätte ich den lieben Gott erfolgreich erpreßt und es stünde mir eine gute und fröhliche Zeit bevor.

Die Erfolgsmeldungen häuften sich. Schon am übernächsten Tag rief Witold an. Er hätte eine Gruppe interessierter Wandersleute aufgetrieben, und man wolle sich am kommenden Sonntag in Schröders Wochenendhäuschen in Bickelbach treffen, um alles Weitere zu besprechen. Ich wüßte ja, wo die Hütte wäre, und sollte um vierzehn Uhr dort sein, bei schönem Wetter wolle man noch ein Stündchen Spazierengehen. Witold war liebenswürdig und schloß mit den Worten: »Ich freue mich, daß du dabei bist. Also bis übermorgen!«

Na, wenn er sich schon freute, ich war fast außer mir! Ich kaufte mir noch am gleichen Tag Wanderschuhe und begann mit dem Einlaufen, indem ich sie vorm Fernseher anbehielt.

»Rosi«, sagte ich laut zu mir, »und wenn dir die Füße beim Wandern vor Schmerz absterben, du muckst dich nicht! Denk an die kleine Seejungfrau, die auch ausgehalten hat für ihren Prinzen.«

Im übrigen wollte ich im Moment viel lieber die bezaubernde See-Jungfrau sein als die blutrünstige SeeRäuberjenny. Ich besorgte mir für alle Fälle einen Vorrat an Heftpflaster; mit dem Kauf eines Rucksacks wollte ich lieber noch warten, weil ich darin unerfahren war wie ein neugeborenes Kind.

Pünktlich um zwei Uhr kam ich in Bickelbach an. Ich trug die neuen, besonders leichten Wanderschuhe, die ersten Jeans meines Lebens und einen meiner dunkelblauen Urlaubspullover. Witolds Auto war noch nicht da, anscheinend nur das von Ernst Schröder. Da ich ihn ja kannte und er mich wahrscheinlich vom Inneren des Hauses aus kommen sah, stieg ich wie damals im Sommer die ausgetretenen Stufen empor.

Die Tür wurde aufgerissen. Eine Frau reichte mir die Hand.

»Ich bin Pamela Schröder, und Sie sind bestimmt von Rainer hierherbestellt worden.«

Ich stellte mich vor und trat ein. Auf der hölzernen Eckbank lag Ernst Schröder und schlief, umstopft von verschiedenen Sofakissen. Ich wollte die Stimme dämpfen, aber seine Frau lachte nur. »Den kann nichts in seiner Ruhe stören, je lauter es zugeht, desto gemütlicher schnarcht er.«

Sie setzte Wasser auf, räumte Tassen aus dem Schrank.

Fragend sah sie mich an.

»Wie viele sind wir eigentlich?«

Ich zuckte mit den Achseln. Pamela Schröder war rothaarig und wirkte auf Anhieb wie das Gegenteil von ihrem sanft schlummernden Mann. Sie war eine temperamentvolle Aktivistin, ein dominanter Typ, auffällig anzusehen. Obgleich sie uralte, viel zu große Hosen mit Flicken trug, mochte sie nicht auf Stöckelschuhe und eine violette Brokatbluse verzichten. Sie war flink in den Bewegungen, ihre rot lackierten Krallen griffen zielsicher nach Geschirr und Besteck.

Dabei plauderte sie lässig mit einer Zigarette zwischen den Lippen, während ich etwas ungeschickt meine Hilfe anbot.

Ernst gähnte plötzlich, öffnete die Augen und sah teils verschmitzt, teils schuldbewußt auf die unbarmherzigen Vorbereitungen zum Kaffeetrinken. Schließlich stand er mit einem Ruck auf, begrüßte mich und verschwand im Klo.

Ich hörte einen Wagen und spähte aus dem Fenster. Endlich!

Witold kam, neben ihm saß eine blonde junge Frau.

Sie kamen herein. Ich musterte mit tiefstem Mißtrauen seine Begleiterin. Witold erklärte atemlos, daß drei Interessenten abgesagt hätten, aber das Ehepaar Mommsen noch zu erwarten sei. Pamela rechnete. »Also wären wir sieben«, stellte sie fest und übergab mir ohne Erklärung den Stapel Teller. Ich begann den Tisch zu decken, wobei mir die Blonde sofort half. Witold stellte uns vor.

»Das ist Frau Zoltan, eine Kollegin von mir.«

Meine gute Laune verflog. Wahrscheinlich hatte er diese Dame für sich mitgebracht. Die Schröders waren ein Ehepaar und die noch nicht anwesenden Mommsens ebenfalls; also bekam ich mal wieder meine vertraute Rolle als alte Tante zugewiesen.

Ernst kam vom Klo, der Tisch war fertig gedeckt, ein Zwetschgenkuchen wurde von Pamela aus dem Auto geholt, Frau Zoltan schlug Sahne. Als nach einer halben Stunde das ominöse Ehepaar nicht aufgetaucht war, begannen wir mit dem Kaffeetrinken. Von der Wanderung wurde noch gar nicht gesprochen.

Der sorgsame Hausvater Ernst Schröder schlug vor, daß wir uns als zukünftige Wanderkameraden alle duzen sollten.

Eigentlich betraf das nur mich, ich hatte die beiden Frauen ja noch nie zuvor gesehen. Pamela Schröder meinte, jeder (bis auf ihren Mann) würde sie Scarlett nennen, und ich sollte das auch so halten. Frau Zoltan hieß Kitty und hatte keine Extrawünsche. Witold sagte ganz selbstverständlich, ich hieße »Thyra« und kehrte somit die »Rosemarie« völlig unter den Tisch. Sofort regte man sich über diesen seltsamen Namen auf, und Witold hatte wieder die gute Gelegenheit, Gorm Grimme zu zitieren, wobei Kitty die Verse leise mitsprach, während die Schröders verdutzt lauschten.

Kitty war in Witold verliebt, das war mir spätestens nach einer Stunde klar. Doch sah es nicht nach einer herausfordernden, sondern einer stillen und hingebungsvollen Zuneigung aus, die offenbar nicht im gleichen Maße erwidert wurde. Witold versprühte Charme und Witz, er bestritt über weite Strecken die Unterhaltung und sonnte sich im Erfolg.

Scarlett war ihm aber in gewisser Weise ebenbürtig, denn auch sie liebte große Auftritte und lechzte danach, im Rampenlicht zu stehen. Mit zwei solchen Entertainern und Windmachern waren wir anderen drei zum bloßen Publikum degradiert, aber wir genossen die Darbietungen natürlich und klatschten Beifall.

Das Ehepaar Mommsen erschien nicht.

»Bevor der angekündigte Regen einsetzt, sollten wir uns noch ein wenig die Beine vertreten«, ordnete Witold an. Der Himmel bewölkte sich. Aus den drei Autos wurden zwei Schirme geholt, im Haus war noch ein weiterer. Witold hatte zusätzlich eine Wetterjacke dabei. Für alle Fälle waren wir nun gegen den Regen gerüstet, denn Pamela wollte nicht mit Spazierengehen, sondern auf die Mommsens warten und das Geschirr spülen.

Wir liefen also los. Zu meinem großen Bedauern war Witold mit seinem Freund im Nu ein Stück voraus, und wenn Kitty und ich ihnen durch beschleunigtes Gehen in Reichweite kamen, schienen sie sofort einen Zahn zuzulegen. Kitty lachte.

»Die beiden müssen über den Oleg reden!«

Wer war Oleg? Kitty erklärte mir, daß die Schröders zwei Kinder hätten, die fünfzehnjährige Annette und den achtzehnjährigen Oleg. Der Junge sei ein intelligenter Tunichtgut, bereits zweimal sitzengeblieben, jedoch sehr frühreif, was seine skandalösen Frauenaffären anginge. Ernst wolle sicher aus Rainer Engstern herausquetschen, was man im Lehrerzimmer für Klagen hatte. Ich fragte Kitty, ob sie ihn auch unterrichte.

»Ja, bei mir hat er Geschichte und bei Rainer Französisch.

Ich persönlich kann seinem Charme schlecht widerstehen, irgendwie kommt er bei mir immer mit einem blauen Auge davon.«

Kitty war mir sympathisch, ungeachtet meiner Ängste, daß sie es auf Witold abgesehen hatte. Sie war klein und drahtig, ein Pfadfindermädchen mit gesunder Gesichtsfarbe; ihr Äußeres war unauffällig, ihre Kleidung verhalten. Sie beobachtete mit kritischen Augen, manchmal spöttisch, aber niemals bösartig. Zuweilen machte sie eine trockene Bemerkung, die überaus witzig war. Ich hatte das Gefühl, einem zuverlässigen, ein bißchen introvertierten Menschen zu begegnen. Kitty schien nicht verheiratet zu sein, was eigentlich verwunderlich war.

Erst als wir fast wieder im Bickelbacher Holzweg angekommen waren, blieben die Männer stehen und warteten auf uns. Nun ging Kitty mit Ernst Schröder voran, um mit ihm den Oleg zu besprechen. Ich trödelte absichtlich, um Witold noch einige kostbare Minuten ganz für mich zu haben. Ich fragte ihn nach Kitty.

»Eine sehr liebe Kollegin«, betonte er, »allgemein geschätzt.

Wir haben früher mehrere Klassenfahrten zusammen gemacht, da sind wir ein perfektes Gespann gewesen.«

Der Pferdevergleich paßte zu Kitty, obgleich sie sicherlich kein Ackergaul, sondern ein freundliches Pony war.

»Ist sie verheiratet?«

»Aber nein, erstaunlicherweise hat sie noch nicht den Richtigen gefunden. Aber Kitty stellt eben Ansprüche, und das mit Recht«, stellte er fest. Ob sie ihn für den Richtigen hielt?

»Und wie ist es mit Vivian gelaufen?« fragte ich, bestimmt etwas zu indiskret.

Aber Witold sprach nicht ungern über Intimitäten. Sein Gesicht nahm einen ärgerlichen Ausdruck an.

»Unsere letzte Aussprache war sehr unerfreulich. Ich weiß gar nicht, ob ich in diese Beziehung noch investieren soll; der Altersunterschied macht sich eben doch bemerkbar. Kann sein, daß Vivian sich unter Freundschaft etwas anderes vorstellt als ich. Wie es nun weitergehen wird, weiß ich nicht — vielleicht geht es eben nicht mehr weiter.«

Wir schwiegen beide. Das Häuschen tauchte auf.

»Bevor wir dort sind, Witold«, sagte ich leise und schnell, »sag mir um Gottes willen noch rasch, wie diese Pamela ist!«

Witold liebte solche Fragen und grinste.

»Die hat Feuer im Arsch«, sagte er, und ich errötete. »Die Scarlett wollte mal Schauspielerin oder Sängerin werden, daraus ist nichts geworden. Nun ist sie halt Mutter und Apothekers Gattin.«

Nach einer kleinen Gedankenpause sagte er wie zu sich selbst: »Vor ein paar Jahren…«, er sprach nicht weiter. Ich sah ihn fragend an.

»Ach nichts«, er lächelte versonnen, und mir lief eine leichte Gänsehaut über die Arme.

Das Häuschen war nun gut zu sehen, ein weiteres Auto parkte auf der Wiese.

»Na, da sind ja deine Freunde«, sagte ich zu Witold, »wie klug, daß du mit der Wanderplanung noch gewartet hast.«

»Das sind sie nicht«, verbesserte mich Witold, »das ist nämlich Scarletts Auto. Vielleicht sind es die Kinder.«

Wir hatten Ernst und Kitty eingeholt. Ernst verzog das Gesicht, er teilte uns mit, der Sohn habe vor einer Woche den Führerschein gemacht, aber eigentlich nicht die Erlaubnis erhalten, mit dem Wagen seiner Mutter herumzukurven. Im Haus saßen Pamela Schröder, der berühmte Oleg und seine Schwester vor den Resten des Zwetschgenkuchens, der beachtlich geschrumpft war.

»Was ist los?« fragte Ernst.

Annette maulte: »Ach Papa, seit gestern habe ich so schreckliche Halsschmerzen, und im ganzen Haus ist nicht eine Lutschtablette.«

»So ist das halt bei Apothekers«, warf Witold ein.

Die Mutter der Sprößlinge war etwas gereizt. »Wenn es schon seit gestern früh so schlimm war, warum kommst du denn jetzt erst auf die Idee, nach Tabletten zu fragen?«

Oleg behauptete: »Sie wollte den Papa nicht an seinem freien Tag belästigen. Aber jetzt mußte ich sie einfach herbringen, so schlimm ist es geworden.«

Witold zwinkerte ihm zu.

Ernst seufzte: »Na, komm mein krankes Schätzchen, deine Schmerzen haben dich ja nicht daran gehindert, den Kuchen zu spachteln. Im Auto habe ich wahrscheinlich Medikamente.«

Pamela warf ihrem Sohn einen heftigen Blick zu: »Meinst du etwa, dieses Spiel wäre nicht allzu durchsichtig? Auf einmal machst du auf Bruderherz, nur weil du mit meinem Auto fahren willst!«

Oleg widersprach. Er hätte ja auch eine Spritztour nach Frankfurt machen können — dann hätten die Eltern das gar nicht gemerkt — und nicht ausgerechnet nach Bickelbach.

Annette und ihr Papa kamen wieder herein, setzten sich nebeneinander auf die Eckbank, und die Tochter kuschelte sich an den Vater. Ernst strahlte.

Oleg hatte inzwischen eine liebenswürdige Plauderei mit seiner Geschichtslehrerin begonnen, Witold durch mehrere Witze zum Lachen gebracht und seinem Vater die Erlaubnis abgeluchst, zwei Flaschen Wein für eine Party mitzunehmen.

Scarlett wollte, daß die Kinder noch im Hellen heimfuhren, da sie Olegs Fahrkünsten nicht so recht traute.

»Wenn ihr endlich ein Telefon in Bickelbach hättet, dann könnten wir ja von zu Hause anrufen, daß wir lebend angekommen sind«, bemerkte Oleg diplomatisch fordernd, da dies anscheinend ein altes Thema war.

Endlich zogen die Gören ab. Ich hatte die Hoffnung gehegt, daß wir jetzt zur Sache kämen. Aber die stolze Mutter nahm den Besuch ihrer Kinder zum Anlaß, ausführlich ihre Vorzüge zu schildern. Annette: Noch ein richtiges kleines Mädchen, so anhänglich und lieb, im Gegensatz zu ihren Freundinnen noch ohne Freund und diesbezüglich reizend kindlich. Mir stieg die Wut hoch. Aber nun kam das Söhnchen dran. Er spielte Schlagzeug in einer Schüler-Band, und wir vernahmen, daß ein echter Künstler in ihm steckte. Ich hatte Lust zu gehen. Aber schließlich war ich hier, um demnächst mit Witold zu wandern, da mußte ich so etwas vorerst ertragen. Es konnte heiter werden, wenn diese Frau die ganze Zeit von ihren verwöhnten Kindern sprechen wollte, die sie ja offensichtlich bedenkenlos allein ließ.

Witold war es, der unterbrach.

»Da der Familie Mommsen anscheinend irgend etwas dazwischengekommen ist, wollen wir jetzt mit der Lagebesprechung anfangen.«

Ernst grinste mir zu. »Vorsicht, Lehrer!« flüsterte er. Witold nahm aus einer Aktentasche Kartenmaterial und fotokopierte Bögen, die er verteilte.

»Ich habe für jeden Teilnehmer eine Liste gemacht, was er unbedingt dabei haben sollte, da ja nicht jeder so erfahren im Wandern ist wie wir beide«, er wandte sich an Kitty. »Ich hoffe, ihr habt alle einen Rucksack?«

Ich schüttelte den Kopf. Die anderen lasen ihre Listen.

In das Schweigen hinein vernahm man plötzlich Pamelas harte Stimme: »Rainer, das ist totaler Blödsinn. Wenn ihr auch nur den geringsten Wert darauf legt, daß ich mitkomme, dann werden keine Rucksäcke geschleppt!«

»Sondern?« fragte Witold.

»Mein Gott!« entfuhr es der Rothaarigen, »wir sind doch keine Schulklasse! Es wird wohl Möglichkeiten geben, unsere Koffer mit dem Auto zu transportieren. Ich jedenfalls fühle mich zu alt, um noch Wandervogel zu spielen. Am Ende denkst du auch noch an Zelt und Feuerchen machen, Rainer Engstirn, he?«

Witold beteuerte beleidigt, man werde selbstverständlich in Hotels übernachten, vielleicht ein einziges Mal in einer Jugendherberge mit Familienzimmern. Er breitete die Karte vor uns aus, seine Etappen waren mit orangenem Leuchtstift eingezeichnet.

Nun war es Ernst, der meuterte.

»Hör mal, Rainer, ist ja alles schön und gut. Aber wenn ich ans Elsaß denke, dann fällt mir in erster Linie gutes Essen und ein trockener Riesling ein. Warum sollen wir überhaupt so viel rumlaufen?«

Witold stöhnte. »Es ist doch nicht zu fassen! Wir planen gerade eine Wanderung, und dieser Mensch will überhaupt nicht laufen!«

Ernst Schröder war kein Spielverderber. Er mußte etwas lachen. »Rainer, klar will ich auch ein bißchen laufen, sonst schmeckt es mir doch gar nicht. — Und außerdem mußt du mein hohes Alter berücksichtigen!«

»Was sagt ihr dazu?« wandte sich Witold hilfesuchend an Kitty und mich.

»Ach, mir ist alles recht«, meinte Kitty, »ich kann lange wandern und auch einen Rucksack schleppen — das weißt du ja.

Aber ich finde es auch schön, in diesen herrlichen Gaststuben zu sitzen und Sauerkraut zu essen.«

Ich wußte nicht genau, was ich sagen sollte. Einerseits wollte ich Witold gefällig sein, aber andererseits fand ich es nicht erstrebenswert, mit einem schweren Rucksack über die Berge zu japsen.

»Ich bin keine trainierte Läuferin«, sagte ich.

»Also gut, also ohne Rucksack«, Witold sah seinen Freund forschend an, »aber dann müssen wir mit zwei Autos einen komplizierten Pendeldienst organisieren: mit Koffern und zwei Wagen jeden Morgen zum nächsten Ziel fahren, ein Auto dortlassen, mit dem anderen wieder zurück. Zu Fuß hinwandern und mit dem dortigen Auto das andere wieder holen — claro?«

Ernst lachte. »Rainer, du planst alles immer viel zu versiert und exakt. Wir können doch ganz einfach ins Blaue fahren. Am ersten Tag übernachten wir in Wissembourg und laufen dort ein bißchen in der Gegend herum, dann fahren wir nach Lust und Laune ein Stück weiter.«

Alle außer Witold nickten einverstanden. Er gab seufzend nach und räumte leicht gekränkt seine Karten und Wanderpläne wieder weg.

»Guck nicht so wie die Mater dolorosa«, sagte Scarlett.

Vermittelnd meinte Ernst: »Schaut mal zum Fenster raus, jetzt regnet es wie wild. Das könnte uns nächste Woche genauso passieren, dann ist es doch angenehm, wenn man Koffer, Auto und Hotel in Reichweite hat. Aber nun wollen wir endlich zum gemütlichen Teil kommen. Ich eröffne hiermit die Kaminsaison und mache ein Feuerchen, Pamela schmeißt uns dieweil was Gutes in den Backofen, und du, Rainer, machst mal den Rotwein auf.«

Nun entstand eine familiär-geschäftige Atmosphäre. Die Küche war in den Wohnraum integriert, der das ganze Untergeschoß ausmachte. Scarlett teilte Arbeit aus: Kitty schnitt am großen Eßtisch Zwiebeln und Tomaten, ich wickelte Riesenkartoffeln in Alu-Folie, nachdem ich sie sauber gebürstet, in der Mitte einmal durchgeschnitten und mit gesalzener Knoblauchbutter bestrichen hatte.

»Was gibt’s denn Leckeres?« fragte Witold gefräßig.

Die rote Hexe blies ihm Zigarettenrauch ins Gesicht.

»Ich kann kein Schlemmermahl richten, wenn ich vorher nicht weiß, wie viele wann und ob überhaupt welche kommen.

Es gibt ganz ordinär Kartoffeln, Hühnerbein und Tomatensalat.«

»Ist doch phantastisch«, lobte Witold und entkorkte Rotwein. Ernst saß in meditativer Stimmung am Kamin und sorgte dafür, daß das ganze Zimmer rauchte. Kitty bekam einen Hustenanfall und eilte an die frische Luft. Pamela beschimpfte ihren Mann, daß er Kittys empfindliche Lungen malträtiere, worauf er die vielen Zigaretten von ihr und Witold dafür verantwortlich machte.

Über dem Kamin stand auf einem hölzernen Bord eine alte eiserne Ofenklappentür, davor eine Sammlung von vielen rostigen Schlüsseln. Typisch Scarlett.

Im Backofen brutzelten Huhn und Kartoffeln, die Arbeit war getan, der Kamin brannte nun vorschriftsmäßig. Witold lüftete und holte Kitty wieder herein. Wir rückten alle um das Feuer herum und warteten auf das immer intensiver duftende Essen.

»Was macht dein Hahn?« fragte Ernst.

»Noch ein Weilchen«, antwortete Scarlett.

Kitty stimmte an: »Der Hahn ist tot, der Hahn ist tot«, und Witold setzte mit cremiger Stimme in Französisch ein. Den dritten Einsatz brummte Ernst. Ich schwieg, da ich diesen Kanon nur ungenau kannte und mich außerdem genierte.

»Los, Scarlett, du bist die einzige hier, die singen kann!

Warum schweigt unsere Nachtigall?« fragte Witold.

»Rainer, ich bin für euren Kinderchor nicht geeignet«, entgegnete Pamela.

Kitty sang unverdrossen das nächste Lied, und Witold stand ihr bei. Schließlich fragte er wieder: »Womit könnten wir denn deine Gunst und Kooperation erringen, holde Philomele?« und verneigte sich dabei tief vor Pamela.

»Wenn schon, dann ohne euer Gejaule«, meinte sie abschätzig, »ich singe doch nicht am Lagerfeuer ›kein schöner Land in dieser Zeit‹!«

Jetzt mischte sich Ernst ein. »Sie will mit Leidenschaft genötigt werden. Meine Damen und Herren! Sie hören jetzt die berühmte Brecht-Interpretin mit Songs»aus der Drei-Groschen-Oper!«

Auf einmal tat ich auch den Mund auf: »Ach bitte! Das Lied von der Seeräuberjenny!«

Scarlett sah mich nachdenklich an, dann nickte sie. Mit einer Handbewegung brachte sie alle zum Schweigen, ergriff einen Teller und ein Küchenhandtuch als Requisiten und schwang sich behende auf den eisernen Kasten, der neben dem Herd stand.

Alle waren von ihrem Vortrag hingerissen. Scarlett hatte zwar keine liebliche Singstimme, aber sie artikulierte hart und glasklar mit faszinierender Eindringlichkeit, so daß wir für kurze Zeit unsere gewärmte Bauernstube in ein lumpiges Hotel verwandelt sahen und die gerade noch kochende Hausfrau in eine Milva. Der Beifall war frenetisch, aber die Primadonna gab keine Zugabe, sondern piekste mit einem Stäbchen in Kartoffeln und Fleisch, ob der gewünschte Weichheitsgrad erreicht war. Ich geriet in einen Taumel zwiespältiger Gefühle.

Durch Witold lernte ich Menschen kennen, wie sie mir im Versicherungsbüro nie über den Weg gelaufen wären! Wenn ich doch auch so eine verrucht-verräucherte Sünderinnenstimme hätte wie die fuchsige Exotin, wenn ich doch irgend etwas so gut könnte, daß alle Beifall klatschen würden!

Doch, dachte ich, ich kann etwas, es weiß nur keiner; ich habe mehr Macht als die anderen alle zusammen. Aber leider jubeln sie nicht mir zu, sondern der Rothaarigen. Auch wenn sie mein Lied für mich gesungen hatte, konnte ich ihr den Erfolg nicht verzeihen.

Nun wurde das Essen aufgetragen. Witold legte sich eine Küchenschürze über den Unterarm und servierte artig.

»Wünschen Gnädigste noch ein Hinkelchen? Geruhen El Hakim noch einen Rotspon zu süffeln?«

Der Tisch war ohne Tischtuch gedeckt, die Hausfrau hatte ihn nur mit einem suspekten Lappen von Asche und Zwiebelschalen befreit. Mir fiel mein gepflegtes, steifes Diner für Witold ein, und ich schämte mich rückwirkend.

Unsere beiden Stimmungskanonen waren in Form. Kitty gackerte nach zwei Gläsern Wein wie ein übermütiges Mädchen, und Ernst entwickelte einen bärenhaften Charme.

Plötzlich sagte Scarlett, der Rotwein mache müde und faul, Sekt müsse her. Sie holte eine Flasche. »Wer will auch?«

Keiner meldete sich. Sie nahm zwei Gläser aus dem Schrank und gab mir das eine.

»Du bist viel zu gedämpft, dir täte ein Gläschen sicher gut!«

Ich wagte nicht zu widersprechen, obgleich ich bezweifelte, daß mich die Mischung aus Kaffee, Kuchen, Rotwein, Sekt, Huhn und Kartoffeln besonders munter machen würde.

Scarlett nahm das Glas, trank einen ergiebigen Schluck, ergriff ein Hühnerbein und stellte sich auf ihren Stuhl, als ob sie eine weitere Darbietung zum besten geben wollte.

Ich wurde kalkweiß und stöhnte. Beate stand hoch auf der Turmbrüstung vor mir, Sektglas in der einen, Hühnerbein in der anderen Hand.

»Um Gottes willen, was ist mit dir?« fragte man von allen Seiten. Ich konnte mit Mühe herausbringen, mir sei nicht gut, ich wolle lieber heimfahren.

»Aber dann warte doch ein bißchen, so kannst du dich doch nicht ins Auto setzen«, riet der besorgte Apotheker und wollte mir ein Kreislaufmittel anbieten. Aber ich blieb stur, sagte eilig meinen Dank und verließ den Raum.

Als ich das Auto aufschloß, kam Witold angerannt. Ich ließ mich auf den Sitz fallen, und er pochte an die Scheibe der rechten Tür, die ich für ihn öffnete.

»Soll ich dich nicht lieber heimfahren?« fragte er, sehr zart und einfühlsam, »was war denn auf einmal los mit dir?«

Weil er so lieb war, mußte ich hemmungslos weinen. »Sekt und Hühnchen, das war Beates letzte Mahlzeit«, schluchzte ich. Witold legte den Arm um mich.

»Thyra, ich versteh’ dich nur zu gut. Wenn ich mit den Schröders zusammen bin, dann taucht in bestimmten Situationen immer wieder Hilke auf, denn unzählige Male haben wir zusammen in diesem Häuschen gesessen, getrunken, gefeiert. Dann vergeht mir auch von einer Minute zur anderen das Lachen.«

Ich nickte und lehnte mich ein wenig an seine Schulter. Die Berührung war so wunderbar, daß ich seinen Pullover gründlich mit meinen Tränen einweichen mußte.

»Komm, komm, ist ja schon gut«, beschwichtigte er mich, »weißt du, wir trauern beide um einen vertrauten Menschen und können es nicht so recht rauslassen. Ich habe inzwischen beschlossen, eine Therapie zu beginnen, die Sache mit Hilke kann ich ohne kompetente Hilfe nicht verkraften. Im Grunde war es auch Quatsch, zur Ablenkung ein Techtelmechtel mit einem jungen Mädchen anzufangen.«

»Warum kannst du die Sache mit deiner Frau nicht verkraften?« schniefte ich, nur um weiter so innig an seiner Schulter zu lehnen und von seinem Arm gehalten zu werden.

Aber Witold ließ schon wieder locker.

»Ich fühle mich schuldig. Wegen mir ist sie tot. Dir mache ich keine Vorwürfe.«

»Aber eure Beziehung war doch schon gestört…«, wandte ich ein.

»Das ändert nichts an meiner Schuld, sie wird eher noch größer. Sieh mal: Daß Hilke getrunken hat, dafür bin ich doch irgendwie verantwortlich.«

»Warum denn?«

Witold ließ mich nun ganz los und zündete sich rücksichtslos eine Zigarette an.

»Es ging schon früh los. Hilke stammt aus einer Arbeiterfamilie, sie hat die Hauptschule besucht. Jahrelang hat sie darunter gelitten, daß ich sie ständig belehren und erziehen wollte. Mir ist das selbst gar nicht so aufgefallen. Und — na ja — treu war ich auch nicht.«

»War sie es denn?« fragte ich.

»Ja, viele Jahre lang. Aus Trotz hat sie mich schließlich auch betrogen. Vielleicht glaubst du jetzt, ich hätte einen Schuldkomplex, und das stimmt wahrscheinlich auch, aber sicher ist, daß ich ihr viel angetan habe, zum Teil natürlich ohne Absicht.«

Plötzlich küßte er mich leicht auf die Stirn, sagte tschüs, er werde mich morgen anrufen. Es war nicht mehr die Rede davon, daß er mich heimfahren wollte.

Wieder einmal lag ich schlaflos im Bett. Bilder verfolgten mich: Beate auf dem Turm, Scarlett auf dem Stuhl, die junge Kitty neben Witold im Wagen.

Außerdem begann der Glanz um Witold in leiser Trauer zu verblassen, aber schließlich war er ein Mensch mit Fehlern und ich kein Backfisch, der einen Mann schwärmerisch idealisiert.

Ich hatte genug Lebenserfahrung, um die liebenswerten Schwächen eines Menschen zu akzeptieren. Eitel war mein Held, das hatte ich schon früh bemerkt, und geltungsbedürftig.

War er mit mir allein, konnte er muffig, aber auch fürsorglich sein, erst in Gesellschaft wurde er spritzig. Daneben fiel mir eine gewisse Launenhaftigkeit und latente Hypochondrie auf — nun, damit ließ sich leben.

Zu seinem Freund Ernst Schröder hatte er ein kumpelhaftes, zuweilen rivalisierendes Verhältnis: Der gemütliche Apotheker war nicht zu unterschätzen; er tat zwar so, als könne er kein Wässerchen trüben, aber er schien sich doch stets durchzusetzen. Seine Frau behandelte ihn nicht gut, spottete häufig über ihn und machte ihn geradezu lächerlich, aber trotzdem schien auch sie ihm letzten Endes zu gehorchen.

Auch zu Witold war sie ehrlich bis zur Schamlosigkeit. Auf mich wirkten die Scharmützel dieser beiden Wortgewandten spannungsgeladen; da glomm ein Funken, der leicht zu Feuer werden konnte.

Scarlett und Vivian: Zwei Paradiesvögel, war das Witolds Geschmack? Kitty und ich, wir waren ganz bestimmt die Antagonisten dazu, die Aschenputtel. Im Märchen bleiben die Pechvögel die Sieger. Wie aber ist es im Leben?

Gegen Morgen schlief ich erst ein und träumte einen sehr plastischen Traum. Ich lag in meinem Bett, das dringend frisch bezogen werden mußte. Auf dem Kopf trug ich Lockenwickler von großer Scheußlichkeit, wie ich sie in meiner Jugend benutzt hatte, auf dem Gesicht eine Kräutermaske. Gekleidet war ich in das übelste aller Nachthemden, von dem ich mich schon längst getrennt hatte. Der Raum war ungelüftet, Geschirr mit verkrusteten Essensresten stand auf dem Boden, der Spiegel war von Fliegenkot gesprenkelt.

Ich, Rosemarie Hirte, war im Begriff des Verfaulens, obgleich ich mit Wicklern und Creme dagegen ankämpfte.

Die Tür flog auf: Witold, Ernst, Kitty, Scarlett, Hilke, Beate und Vivian tänzelten herein, alle in modischer Freizeitkleidung, gebräunt (bis auf Vivian) und sportlich, lustig und erfolgreich.

»Wir haben dir etwas mitgebracht«, sagte Witold, der Samariter, und krönte mich mit einem Kränzlein aus Rosmarin.

Das war zuviel, ich murmelte qualvoll: »Ho…«, »ho…«, und kam nicht auf das Zauberwort, »hoppla«, so wie Kalif Storch nicht auf »mutabor« und Ali Babas Bruder nicht mehr auf »Sesam, öffne dich« gekommen waren. Aber Kitty half mir, kniete sich neben mich und flüsterte in mein Ohr das rettende »Hoppla!« Ich sprach es laut, worauf sechs Köpfe unter mein Bett rollten. Kitty, die zum Lohn heil geblieben war, lüftete gründlich, ergriff einen Besen und fegte die Stube rein.

Die Häupter, die sie wie faules Obst mit dem altmodischen Reisigbesen vor sich her trieb, hatten ihr braungebranntes Aussehen schlagartig verloren und zeigten die angemessene Leichenblässe, nur Vivians im Leben so morbider Kopf blühte blutrot auf. Auch der Tau auf meinem Rosmarinkranz perlte in klebrigen Blutstropfen auf meine Stirn und rann als feurige Spur über mein gecremtes Gesicht.

Mit einem gräßlichen Schrei wachte ich auf.

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