5

Um elf Uhr wurde ich wach und zwang mich, reichlich Tee — der mir guttat — und eine Scheibe Toast zu mir zu nehmen. Ich mußte heute häufig eine Kleinigkeit essen, um nicht diesen sauren Geruch aus leerem Magen auszuströmen. Dann badete ich, wusch mir die Haare und fönte sie. Vormittags konnte Witold nicht kommen, da mußte er unterrichten. Aber ob er nun gleich nach dem Mittagessen oder erst später kam, da konnte ich nur spekulieren. Im seidenen Pyjama wartete ich ab zwei Uhr nachmittags, räumte die Teetasse weg, holte sie wieder heraus, putzte mir erneut die Zähne. Um sechs war ich reichlich nervös. Da rief endlich Witold an; er will sich drücken, dachte ich.

»Na, Rosemarie Luise Thyra, geht’s heute besser?« fragte er.

»Kaum«, flüsterte ich.

»Also dann komme ich noch geschwind vorbei; ich hatte eine Menge um die Ohren heute, es dauert noch eine kleine Weile.«

Wieder eilte ich zum Spiegel. Rosmarie, stellte ich fest, du bist zu dünn. Männer mögen Busen, und wo ist deiner?

Aber ich sah nicht mehr so abstoßend aus wie gestern, vielleicht hatte ich eine Chance, wohlwollend betrachtet zu werden.

Um acht kam er schließlich, rief schon auf der Treppe mit künstlicher Munterkeit: »Essen auf Rädern!« und registrierte nicht, daß ich heute kein Häufchen Elend mehr war. Er trug eine Plastiktüte in die Küche und packte Apfelsaft, Cola und Zwieback aus.

»Und für die leidende Seele«, sagte er und kramte aus der Jackentasche eine Musikkassette, »unerhört schön traurige Musik. Brahmslieder. Als es mir so schlecht ging, habe ich sie dauernd abgespielt. Meine persönliche Therapie geht so: Tränen über fremdes Leid vergießen, wenn man von der eigenen Trauer versteinert ist.«

Ich dankte ihm. Tränen hatte ich schon genug über eigenes Leid vergossen. Solche Musik würde mir voraussichtlich nicht die Bohne gefallen, aber woher sollte Witold das wissen?

»Komm«, sagte er, »steh nicht in der Küche herum, leg dich aufs Sofa. Ich bleib’ noch ein paar Minuten bei dir.«

In meinem seidenen Nachtanzug lagerte ich mich malerisch, mindestens wie Goethe in der Campagna.

»Ich sah gestern schrecklich aus, du mußt dich vor mir geekelt haben«, murmelte ich.

»Je nun, so sieht jeder aus, wenn es ihm schlecht geht.«

Witold schien wirklich wenig Aufmerksamkeit auf mein Äußeres zu verschwenden.

»Weißt du, es ist auch für mich schlimm, daß Beate tot ist«, begann er auf einmal.

Mußte ich mir das anhören? Ja, ich mußte.

»Thyra, du bist eine treue Seele, ich will dir was beichten: Ich habe mich verliebt.«

Ich blieb gelassen, so gut es ging, schließlich hatte ich das ja mehr oder weniger gewußt. Aber wie sollte ich mich dazu äußern.

»Auch ich habe Beate geliebt«, sagte ich leise, es war nicht gelogen.

»Sie war schon toll«, sagte Witold, »diese wunderbare Tochter hatte eine wunderbare Mutter.«

Ich verstand ihn nicht. »Wer, Lessi?«

»Nein doch! Lessi mag ein nettes Mädchen sein, aber ich hätte mich nimmermehr in sie verliebt. Ich meine natürlich Vivian!«

Ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.

Witold lachte. »Ja, Thyra, so ist es. Ich bin in Vivian verliebt. Durch dich habe ich Beate kennengelernt und bei ihr wiederum ihre hinreißende Tochter.«

Ich stotterte: »Vivian ist doch fast noch ein Kind!«

»Aber ich bitte dich«, Witold fühlte sich angegriffen und reagierte gereizt, »sie ist eine schöne junge Frau von sechsundzwanzig Jahren, und an Reife kann sie es mit so manchem aus meinem Jahrgang aufnehmen.«

Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Beate, ich habe dich völlig umsonst umgebracht.

Witold sah mich etwas bestürzt an. »Ja«, meinte er, »du bist fix und fertig, und ich schwatze da von Verliebtsein.

Wahrscheinlich findest du es auch völlig geschmacklos, daß ich kurze Zeit nach Hilkes Tod so empfinden kann. Ich wollte deswegen auch nicht, daß es irgend jemand erfährt, aber du weißt ja sowieso mehr von mir als alle meine Freunde, dich wollte ich einweihen.«

Unter Schluchzen fragte ich: »Wußte das Beate?«

»Vivian wollte es ihr anfangs nicht sagen, sie hatte Befürchtungen, ihre Mutter würde es nicht gutheißen, weil ich ja einige Jährchen älter bin. Beate hat ihre Kinder nie ausgefragt, aber vielleicht hat sie etwas geahnt, weil Vivian immer, wenn sie zu Hause zu Besuch war, das Auto ihrer Mutter auslieh und mich besuchen kam. Na, jedenfalls hat Vivian ihrer Mutter einen Tag vor dem Unfall alles erzählt.«

Es war entsetzlich. Aber mitten im Geflenne kam mir eine geniale Idee.

»Ach Witold, weißt du denn nicht, daß Beate selbst in dich verliebt war?«

Jetzt fiel ihm der Unterkiefer herunter.

»Nein, das glaube ich nie! Hat sie dir das etwa gesagt?«

»Ja, sie hat es mir anvertraut. Sie dachte wahrscheinlich, daß deine Besuche ihr galten.«

Witold starrte mich an. Ihm ging einiges durch den Kopf.

»Es muß Beate tief getroffen haben«, setzte ich meine Gedankengänge unbarmherzig fort, »als Vivian ihr von eurer Beziehung erzählt hat.«

»Um Gottes willen!« entsetzte sich Witold. »Du meinst doch nicht, daß sie sich meinetwegen umgebracht hat?«

Ich schwieg, zuckte mit den Schultern. Witold war ein Narziß, es leuchtete ihm sofort ein, daß man aus unglücklicher Liebe zu ihm von einem Turm springt.

»Thyra, ich beschwöre dich!« sagte er erregt und ergriff meine Hand, »das darfst du nie im Leben Vivian sagen! Sie ist ein überaus empfindsamer Mensch, sie würde sich für den Tod ihrer Mutter verantwortlich fühlen!«

»Nein, ich sage ihr natürlich nichts. Aber wenn mich die Polizei ausfragt, kann ich es auch nicht verschweigen.

Immerhin ist es ein denkbares Motiv.«

Witold sah auf meinen blauen Teppich und grübelte.

»Daß ich gar nichts davon gemerkt habe! Aber doch — im nachhinein ist mir, als wäre ich blind gewesen! Natürlich, mir fallen jetzt Situationen ein, wo sie mich so seltsam angesehen hat. Ach, wir Männer sind so unsensible Wesen!«

Das Telefon klingelte. Es war Vivian.

»Hallo Rosi«, sagte sie, in ihrer leicht arroganten Art, »falls Rainer noch bei dir ist, möchte ich ihn sprechen.«

Ich gab Witold den Hörer. Er sagte ein paarmal »ja« und »nein« und schließlich: »Dann eben morgen. Paß auf dich auf und gute Nacht.«

Er schien sich mir gegenüber für diesen Anruf rechtfertigen zu wollen. Eigentlich hätte er vorgehabt, heute nachmittag zu ihr zu fahren, aber die ganze Zeit über seien so viele Verwandte dagewesen: Beates Vater, ihre zwei Schwestern und zwei Brüder. Er hätte nun Vivian abends abholen wollen, damit sie ein bißchen an die frische Luft käme. Aber nun sei auch der Architekt, Beates Exmann da; die Kinder sollten alle drei mit ihm die Todesanzeige aufsetzen.

»Na, dann kann ich auch noch ein paar Minuten hierbleiben«, schloß Witold. »Übrigens, ehe ich es vergesse, die Beerdigung wird am Freitag sein, bis dahin bist du wieder auf den Beinen«. Ich wäre lieber noch lange krank gewesen, aber zur Beerdigung mußte ich wohl oder übel hinfahren.

Witold fragte plötzlich: »Wo warst du eigentlich am Samstag?«

Ich hatte mir schon lange eine Antwort zurechtgelegt, allerdings hatte ich erwartet, daß nicht er, sondern die Polizei diese Frage stellen würde.

»Ach, da fing diese blöde Krankheit doch an. Mir ging es schon am frühen Morgen nicht gut, ich habe mit Müh und Not ein paar Lebensmittel besorgt, mich aber gleich wieder ins Bett gelegt. Warum fragst du?«

»Ach, vergiß es. Mir ging gerade durch den Kopf, wie seltsam es ist, daß zwei Frauen innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne sterben und wir in beide Fälle irgendwie verstrickt sind, du und ich. Es gibt schon merkwürdige Zufälle.«

Ich nickte und lehnte mich ermattet zurück. Witold hielt das für ein Zeichen, daß er aufbrechen müsse, damit ich, die Patientin, zur Ruhe käme.

»Ich ruf dich morgen an«, versprach er mit einer gewissen Herzlichkeit und trat ab.

Bevor er kam, bevor ich ihn traf, war ich immer in Hochform. Ich malte mir unsere Begegnungen aus: voll Seelenverwandtschaft, Liebe und erotischer Spannung. Wenn’s dann vorbei war, blieben Enttäuschung und Zweifel. War er überhaupt so einmalig? Wünschte ich ihn wirklich so glühend als Liebhaber?

Ein Glück, daß ich den Revolver nicht benutzt hatte. Man hätte schnell herausgefunden, daß es die gleiche Waffe war, mit der Hilke Engstern erschossen worden war. Zumindest Witold konnte dann zwei und zwei zusammenzählen, denn ich war ja als letzte im Besitz des Revolvers gewesen. Ich durfte ihn auf keinen Fall je wieder gebrauchen, mußte ihn schleunigst beseitigen. Dumpf brütete ich vor mich hin: Wenn man mich als zweifache Mörderin entlarven würde, dann bliebe mir immerhin noch die Möglichkeit, mich selbst zu erschießen.

Diese apokalyptischen Gedanken machten mich wohltuend unglücklich. Witold liebte Vivian, und ich hatte meine beste Freundin umgebracht. Was sollte das alles noch. Leise sagte ich: »Rosi, erschieß dich lieber gleich.«

Da fiel mein Blick auf Witolds Kassette mit den Brahmsliedern. »Für die kranke Seele«, oder so ähnlich hatte er gesagt. Ich legte die Musik in den Recorder, vielleicht enthielt sie ja eine versteckte Botschaft. Am Ende waren es gar keine Brahmslieder, und Witold hatte die Kassette für mich besprochen: eine Liebesbotschaft für mich.

Nun hörte ich das Lied von der Jungfrau, die ihr Hochzeitskränzlein aus Rosen winden wollte. — Nein, das war kein Thema für mich!

»Sie ging im Grünen her und hin, statt Rosen fand sie Rosmarin.«

Oder war es doch eine geheime Nachricht, denn Rosmarie war ja ich? Nun kam der Schluß:


»Sie ging im Garten her und hin, statt Röslein brach sie Rosmarin. ›Das nimm du, mein Getreuer, hin! Lieg bei dir unter Linden, mein Totenkränzlein schön!‹«

Jetzt stellte ich die Musik ab und weinte hemmungslos.

Witold, ich bin keine Rose, ich bin nur Rosmarin, und ich werde auch nie einen Rosenkranz zur Hochzeit tragen, sondern ein Totenkränzlein schön.

Irgendwann in der Nacht verließ ich das Sofa, zog den Seidenpyjama aus und das hoffnungslos Geblümte an und legte mich ins Bett. Am nächsten Morgen ging ich zum Arzt und ließ mich für die ganze Woche krankschreiben. Als ich wieder zurückkam, stand ein Polizist vor der Tür, der gerade im Begriff war, wieder zu gehen. Er wollte meinen Namen wissen und war erleichtert, daß er nun nicht ein zweites Mal kommen müsse. Mir fiel mit Entsetzen der Revolver im Koffer ein.

Auf dem Weg treppauf erzählte er, daß er erst bei mir zu Hause angerufen habe und dann im Büro, wo er gehört habe, daß ich krank sei und daß er mich wahrscheinlich in meiner Wohnung anträfe. Ich hielt ihm die gelbe Krankmeldung hin.

Er lächelte: »Ist doch klar, man muß zum Arzt, wenn man krank ist. Es dauert auch nur fünf Minuten, dann bin ich wieder weg.«

Er war freundlich, jung und kein hohes Tier, überlegte ich, nicht gleich fünf Mann Mordkommission. Der Polizist begann:

»Sie sind eine Freundin von Frau Sperber, deren Todesursache wir aufklären müssen. Die Selbstmordtheorie halten wir für sehr unwahrscheinlich, aber trotzdem erkundigen wir uns bei ihren Freunden, ob sie eventuell mal Gedanken in dieser Richtung geäußert hat.«

»Was sagen denn die anderen Freunde?« fragte ich.

»Alle meinen übereinstimmend, daß sie sich das nicht vorstellen können, sie sei nie depressiv gewesen.«

»Im Prinzip kann ich mir das auch nicht denken. Allerdings habe ich gehört, daß Beate am Tag davor eine Aussprache mit ihrer Tochter hatte. Vivian hat ihr erzählt, daß sie sich mit einem doppelt so alten Mann angefreundet hat.«

»Ja, das wissen wir bereits, die Tochter hat es uns schon mitgeteilt. Aber ihre Mutter hat das sehr gelassen aufgenommen.«

Ich druckste herum. »Sie müssen mir versprechen, daß Sie vertraulich behandeln, was ich Ihnen hierzu noch sagen kann.

Also, auf keinen Fall ein Wort davon zu den Kindern, das bin ich meiner Freundin schuldig!«

Mit einer gewissen Neugier sah mich der junge Mann an.

»Soweit es möglich ist, werden wir Ihre Mitteilung vertraulich behandeln.«

»Beate hat mir kürzlich mitgeteilt, daß sie selbst in diesen Mann verliebt war.«

Der Polizist fand das zwar interessant, aber er meinte: »Bei einer stabilen Frau wie Ihrer Freundin wird das schwerlich für einen Selbstmord ausreichen. Und wie soll man erklären, daß sich eine Mutter von drei Kindern an diesem Samstag völlig normal verhält, einkauft, schwimmen geht und dann plötzlich auf einen einsamen Turm im Walde steigt um sich hinunterzustürzen?«

Ich mußte zugeben, daß das rätselhaft sei.

»Nein, das war bestimmt kein Selbstmord«, versicherte er.

»Außerdem hat die Obduktion ergeben, daß sie vorher Alkohol — wahrscheinlich Sekt — getrunken und auch etwas gegessen hat.

Es sieht eigentlich so aus, als hätte sie sich mit einem Mann getroffen — Sektfrühstück oder so was.«

»Ihr Freund ist am Wochenende bei seiner Familie in München«, wandte ich ein.

»Ja, das ist bekannt. Aber er hat kein Alibi, nur die Aussage seiner Frau. Möglich ist immerhin, daß er Frau Sperber am Turm traf und ihr eine sehr unangenehme Nachricht — beispielsweise, daß es aus wäre zwischen den beiden — mitgeteilt hat. Aber wieder sagen alle, daß die Bindung an diesen Mann nicht tief war und sie deswegen kaum sehr verletzt wäre, wenn er sich von ihr trennen wollte. Wenn Sie sagen, daß Frau Sperber in den Freund ihrer Tochter verliebt war, dann bestätigt das ja diese Theorie.«

»Und wenn sie nun ihrerseits ihrem Freund Jürgen eine Trennung vorgeschlagen hat?« warf ich eine neue Version in die Waagschale.

»Könnte sein, aber es wäre kaum ein Grund, sie gleich in den Abgrund zu stürzen. Aber ich sagte ja schon, daß wir diesen Herrn Jürgen Faltermann überprüfen, sein Alibi hätten wir gern etwas konkreter nachgewiesen. — Ist Ihnen vielleicht sonst noch irgend etwas aufgefallen, was eben nicht zur Sprache kam?«

Ich verneinte und fragte, ob man also letzten Endes an einen Unglücksfall denke.

»Ehrlich gesagt«, meinte der Polizist, »ich persönlich glaube das nicht. Wer fährt schon mutterseelenallein in den Wald und trinkt Sekt auf einem Turm! Das macht man doch nicht. Ich glaube, daß irgend jemand dort bei ihr war, der sich aber nicht zu erkennen gibt. Wenn dieser Jemand ein reines Gewissen hätte, würde er sich melden. Ob es nun Mord, Selbstmord oder ein Unfall war, kann also im Augenblick nicht geklärt werden.

Wenn Sie mich aber so direkt fragen, mein Tip ist Mord«, unter diesen Worten gab er mir die Hand, steckte seine Aufzeichnungen weg und verabschiedete sich.

Kaum hatte ich meine Ausgehkleider abgelegt und vorsichtshalber nicht die schlimmsten Fetzen, sondern Hosen und Pullover angezogen, da schellte es. Witold? Nein, es waren Frau Römer und der Dieskau, der mich mit überschwenglicher Freude begrüßte. Frau Römer war atemlos vom Treppensteigen, aber stolz darauf, daß sie — die Kranke — mich, die noch Kränkere, besuchte. Wenn mir nicht gar so mies zumute gewesen wäre, hätte ich mich gefreut.

Frau Römer hatte ebenfalls übers Büro von meiner Krankheit erfahren und brachte mir nun einen Rosenstrauß und einen Kriminalroman (welche Ironie, dachte ich) und die Grüße des Chefs, mit dem sie gesprochen hatte. Sie erzählte mir lange von ihren Plänen: Irgendwann in der nächsten Zeit wollte sie nach Amerika zu ihrer Tochter reisen. Ich erfuhr alles von ihrer Kur, von den Zimmergenossinnen im Krankenhaus und dergleichen mehr. Ich konnte mich schlecht konzentrieren.

»So gut wie jetzt ging es mir schon lange nicht«, sagte die herzkranke und brustamputierte Frau Römer, »ich fühle mich relativ wohl, ich habe Zeit für mich und brauche vielleicht nie mehr ins Büro zurück. Sicher habe ich noch ein paar gute Jährchen vor mir.«

Nach einer Krebserkrankung fand ich diese Haltung erstaunlich. »Frau Römer«, sagte ich weinerlich, »Sie haben allerhand eingesteckt im Leben und behalten trotzdem Ihren Optimismus. Das geht mir ganz ab.«

Sie betrachtete mich eindringlich. »Eine schwere Krankheit bringt auch neue Impulse, überhaupt alles Schwere, das man übersteht! Hören Sie, Frau Hirte, wichtig ist: Niemals aufgeben!« Und beschwörend nahm sie meine Hand, als wüßte sie, was in mir vorging.

Ja, ich darf nicht aufgeben, sagte ich laut vor mich hin, als ich wieder allein war. Es ist noch gar nichts verloren. Erstens kommen sie mir nicht auf die Spur, noch nicht einmal der leiseste Verdacht liegt gegen mich vor, geschweige denn irgendein Beweis. Und zweitens ist Witold zwar im Moment in Vivian verliebt, aber wird das lange anhalten?

Vivian! Ich hatte sie kennengelernt, als sie acht Jahre alt war.

In der Pubertät wurde sie überaus schwierig. Sie hatte die Scheidung sehr schwer genommen. Der Vater war ihr Idol gewesen, und nun ließ sie es zeitweise an Beate aus, daß er nicht mehr da war. Damals trug sie nur Klamotten, die man nicht einmal dem Roten Kreuz angeboten hätte. Sie lief in einem abgewetzten Plüschmantel herum, in dem sie wie ein Teddybär in der Mauser aussah. Beate ertrug das mit Anstand; ich wäre ausgerastet. Dann fing sie an zu haschen und zu trinken, und schon mit sechzehn Jahren kam sie so manche Nacht nicht heim. Eine feine Braut hatte sich Witold da angelacht. Aber ich mußte zugeben, daß Vivian heute eine aparte Erscheinung war. Tiefschwarze Haare, eine helle Haut und große Augen, die allerdings hemmungslos ummalt waren.

Ihre pubertäre Lumpenkleidung hatte sie unter geflissentlicher Verachtung des guten Geschmackes im Laufe der Zeit umkultiviert, so daß sie inzwischen wie eine Juliette-Gréco-Nachzucht anzusehen war. Vivian war mit dem Studieren noch lange nicht fertig, sie besuchte in Frankfurt die Kunstakademie oder tat wenigstens so. Sonntags fuhr sie meistens mit der Bahn nach Darmstadt zu ihrem Bruder Richard, und beide rückten dann in dessen Schrottauto bei Beate an. Lessi, die in Heidelberg Sport studierte, war dagegen unentwegt zu Hause und schaffte dort Unordnung. Ich hatte mich für die Kinder meiner Freundin nie sonderlich interessiert, aber wohl oder übel mußte ich mir bei jedem Zusammentreffen anhören, was Beate über ihre Herzchen zu berichten hatte.

Wie konnte sich ein Mann von Witolds Niveau in eine Zigeunerin wie Vivian verlieben? Soweit ich informiert war, hatte es Vivian im Laufe von zehn sexuell aktiven Jahren auf eine unüberschaubare Zahl von Liebhabern gebracht. Selbst die tolerante Beate wollte nicht bei jedem sonntäglichen Familienessen ein neues Gesicht sehen und hatte verlangt, daß Vivians Freund mindestens drei Monate lang ein und derselbe blieb, bevor er angeschleppt wurde. Diese Forderung hatte ihre Tochter dazu veranlaßt, zwei Jahre lang fast gar nicht mehr aufzutauchen. Aber solche Mätzchen schienen überwunden, das Verhältnis von Mutter und Tochter hatte sich normalisiert, ja es war zuletzt eher liebevoll zu nennen gewesen.

Witold rief wirklich noch an. Er schien doch so etwas wie freundschaftliche Gefühle für mich zu entwickeln, wenn sie auch noch weit von Liebe entfernt waren. Nachdem er sich teilnahmsvoll nach meiner Befindlichkeit erkundigt hatte, erzählte ich ihm, daß ein Polizeibeamter bei mir gewesen sei.

Er wollte alles genau wissen, aber ich verschwieg ihm, daß der Polizist an Mord glaubte.

»Weißt du, Thyra«, meinte Witold, »ich glaube ja inzwischen auch, daß Beate eine Schwäche für mich hatte.

Aber ich kann mir doch nicht recht vorstellen, daß sie erst einkaufen und schwimmen geht und sich dann das Leben nimmt. Außerdem hätte sie einen Brief an die Kinder hinterlassen. Eine Kurzschlußreaktion scheidet meiner Meinung nach aus, wenn man zuvor Sauerbraten, Weißkohl und Spätzle einkauft. Ein gut durchdacht er Einkaufszettel lag im Portemonnaie.

Aber noch etwas anderes fiel mir ein: Damals, als ich Beate auf der Weinkerwe kennenlernte, bin ich doch mit ihr auf die Schiffschaukel gestiegen. Schwindlig werde sie nie, das hat sie fast zu sehr betont. Es könnte ja sein, daß sie sich darin überschätzt hat: Sie ist auf dem Rand des Aussichtsturms herumbalanciert, hatte vorher aber Sekt getrunken und verlor das Gleichgewicht. Was meinst du dazu?«

»Ja, das könnte schon sein«, versicherte ich. Mit dem Rumturnen kam er nahe an die Wahrheit heran. »Beate wollte bei jeder Gelegenheit ein bißchen turnen und klettern, aber schließlich war sie auch nicht mehr siebzehn.«

»Ganz genau«, stimmte mir Witold zu, »sie war nicht mehr die Jüngste. Sie hätte ihr Alter akzeptieren und solche Eskapaden lassen sollen.«

Das mußt du gerade sagen, dachte ich. Ich ärgerte mich.

Schließlich war ich im gleichen Alter wie Beate, und er war nun auch nicht meilenweit davon entfernt.

Ich hörte am Telefon, wie er an seiner Zigarette zog.

»Thyra«, ging es wieder weiter, »könntest du dir vorstellen, daß dieser Jürgen Faltermann deine Freundin runtergestoßen hat? Beates Kinder halten wenig von ihm und sind ihm eher aus dem Weg gegangen.«

»Ich kenne Herrn Faltermann nicht besonders gut«, sagte ich vorsichtig, »so was traue ich ihm eigentlich nicht zu, aber weiß man, was in einem Menschen vorgeht…«

»Würdest du mir einen Mord zutrauen?« fragte Witold, »na ja, lassen wir das lieber.«

Ich dachte, daß sein Telefon vielleicht immer noch abgehört wurde, und fand es gar nicht gut, wenn man am Ende auf mich aufmerksam würde.

»Von woher rufst du an?« fragte ich ängstlich.

Witold lachte jetzt. »Meine Komplizin ist ein Angsthase. Ich rufe nicht von zu Hause an, versteht sich. Also dann, wir sehen uns auf der Beerdigung. Tschüs, Thyra.«

In den nächsten Tagen dachte ich manchmal darüber nach, ob ich jetzt Vivian umbringen sollte. Aber ich verwarf diesen Gedanken. Erstens wollte ich überhaupt nie wieder jemanden ermorden, weil ich einfach nicht die Nerven dazu hatte.

Zweitens versprach ich dem Geist meiner toten Freundin, mit dem ich nachts häufig Zwiesprache hielt? ihre Kinder nicht anzurühren. Und drittens: Wie sollte ich es überhaupt anstellen? Den Revolver durfte ich nicht mehr benutzen.

Vivian und ich hatten eine distanziert-höfliche Beziehung (genau genommen mochten wir einander nicht), nie hätte ich sie irgendwohin locken können.

Witold liebte sie und sie ihn, so sagte er. Aber das war reine Illusion. Vivian war flatterhaft, über kurz oder lang hatte sie einen anderen, und Witold würde leiden. Wer konnte ihn dann besser trösten als ich? Schließlich wußte ich viel über ihn, das hatte er selbst gesagt, und er wollte ja auch seine Freunde in diese neue Liebschaft noch nicht einweihen.

Es bestand also kein Grund zum Verzweifeln. Niemand verdächtigte mich, und dem Ziel meiner Bemühungen war ich ein ganzes Stückchen näher gekommen.

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