8

Trotz dieses unguten Vorzeichens — denn als solches empfand ich den Traum — trat ich die gemeinsame Fahrt an. Wir starteten mit zwei Autos und ohne das pflichtvergessene Ehepaar Mommsen.

Ich hatte meinen Wagen in Ladenburg vor Witolds Haus stehen lassen, dann fuhren wir nach Schriesheim, um Kitty abzuholen. Da Schröders noch nicht fertig gewesen waren, mußten wir nun wieder zurück nach Ladenburg, um im Konvoi mit ihnen zu starten. Witold war über diese Verzögerung leicht verdrossen.

Beim Kofferpacken hatte ich Witolds ursprüngliche Rucksack-Liste nochmals eingehend studiert. Gegenstände wie Feldflasche, Fahrtenmesser, Hüttenschuhe und Trainingshosen fehlten völlig in meiner Aussteuer, waren aber nun wohl nicht mehr nötig. Auf alle Fälle hatte ich sowohl den Jogginganzug als auch den Seidenpyjama im Koffer. Ich hatte nicht gewagt, nach der Zimmerverteilung zu fragen. Aber bald erfuhr ich, daß man praktischerweise ein Doppelzimmer für Schröders, eins für Kitty und mich und ein Einzelzimmer für Witold bestellen wolle, falls mir das recht sei. Ich fand es taktlos zu sagen, daß ich auch lieber ein Einzelzimmer hätte, weil ich Kitty nicht kränken wollte.

Am frühen Mittag fuhren wir los, am späten erreichten wir Wissembourg. Die Suche nach einer Bleibe begann.

Witold hatte natürlich einen Hotelführer dabei, aber seine angekreuzten Quartiere waren bereits ausgebucht. Da meldete sich Ernst Schröder zu Wort, der eine Geheimadresse wußte, allerdings nicht in Frankreich, sondern gleich an der Grenze auf der deutschen Seite. Dort kamen wir ohne weiteres unter; man konnte zu Fuß in einer Viertelstunde nach Wissembourg wandern und dort am Abend der französischen Küche huldigen.

Ich packte den Koffer aus. Vom Fenster konnte ich direkt auf Weinberge schauen. Ein ganz leichter Regen hatte eingesetzt, aber es war für die Jahreszeit noch erstaunlich warm. Wir beschlossen, erst einmal Kaffee und frischen Apfelkuchen zu bestellen. Gutgelaunt wollten wir anschließend den Regen mißachten und, mit geeigneter Kleidung ausgerüstet, unsere Beine in Bewegung setzen.

Ich nahm einen Schirm mit, Scarlett auch. Die anderen trugen ihre Regenjacken.

Witold sammelte Walnüsse und Roßkastanien, von denen er großzügig einige an mich und Kitty verschenkte, obgleich sie auch uns ständig vor die Füße fielen. Scarlett lehnte die Gabe ab.

»Männer sind und bleiben infantil«, vermerkte sie, »weil ich ihm verboten habe, Pfadfinder zu spielen, will er heute abend bestimmt zum Trost aus Kastanien und Streichhölzern Männchen basteln.«

»Stimmt ganz genau«, pflichtete ihr Witold bei, »du bist doch die Klügste von allen.«

Ich hielt die glatte, pralle Kastanie im Inneren der Jackentasche in meiner Hand und gedachte, sie zur ewigen Erinnerung aufzuheben.

Witold machte den Stadtführer, als Französischlehrer mochte er schon mit so mancher Klasse hier gewesen sein. Er kannte sich aus, zeigte uns malerische Foto-Ausblicke entlang der Lauter, sprach über die Geschichte der Stadt inklusive sämtlicher Katastrophen und beendete den Rundgang mit der Besichtigung der Kirche Saint-Pierre-et-Saint-Paul.

Wahrscheinlich hätte sein Programm noch stundenlang weiterlaufen können, wenn die Schröders nicht von Anfang an darauf gedrungen hätten, spätestens um acht vor einem gedeckten Tisch zu sitzen. Ernst Schröder meinte, er wolle an diesem ersten Abend alle einladen und dafür ein wenig gutmachen, daß seine Frau und er bremsend auf die geplanten Wanderfreuden eingewirkt hätten.

Da wir gegen die Einladung nichts einzuwenden hatten, bestimmte er nun als Gastgeber für alle ein einheitliches Essen: Nach der Gänseleber gab es Fasan auf Sauerkraut und am Schluß frischen Gugelhupf; die Rieslingflasche konnte vom Ober kaum schnell genug erneuert werden. Witold hatte gleich am Anfang in unerhört elegantem Französisch den Kellner um die Karte gebeten, aber eine bodenständig alemannische Antwort erhalten.

Das Essen zog sich stundenlang hin. Sowohl an unserem als auch an den Nachbartischen wurde immer lauter gesprochen und herzlicher gelacht. Am Nebentisch, wo anfangs zwei Ärzte über nichts anderes als über die sinkende Zahl ihrer Krankenscheine geklagt hatten, während ihre Ehefrauen ihre Langeweile nicht verhehlten, war inzwischen eine solche Heiterkeit ausgebrochen, daß wir hin und wieder lauschen mußten. Der eine Mediziner war Zahnarzt und erzählte sehr komisch, wie er in jungen Jahren eine Leiche anhand ihres Gebisses datieren sollte. Dabei stellte er fest, daß der Tote eine Prothese hatte. Anhand der Verschleißerscheinungen des Kiefers konnte er trotzdem eine ziemlich genaue Altersangabe nachweisen.

»Wie kann man über so ein makabres Thema Witze machen?« entrüstete sich Kitty mit roten Wangen. Aber Ernst und Scarlett konnten vor Lachen nicht an sich halten, weil zwar nicht die Geschichte selbst komisch war, sie jedoch so zwerchfellerschütternd dargeboten wurde.

Witold und ich fixierten uns mit bitterem Blick. Leichen als Dessert-Gespräch waren uns nicht genehm. Witold mahnte zum Aufbruch. Man müsse noch ein Stück laufen, und zwar bei Regen und Dunkelheit. Morgen wolle man schließlich früh aufstehen und wandern.

Scarlett sagte spöttisch: »Im Frühtau zu Berge! Mich wirst du vor zehn Uhr bestimmt nicht zu Gesicht kriegen!«

Ernst Schröder meinte, da man bis zehn Frühstück bekäme, wäre es am besten, wenn wir uns alle auf elf Uhr für den Start einstellen würden. Witold seufzte: »Hakim, du bist unverbesserlich«, aber er gab nach.

Das Zimmer, das ich mit Kitty teilte, hatte Dusche und Klo.

Ich ließ ihr den Vortritt, da ich am Abend eine gründliche Reinigung betreibe und dafür Zeit brauche. Kitty war in fünf Minuten fertig. Sie trug einen rosa Kinderschlafanzug und rieb sich, auf dem Bett hockend, heftig das Gesicht mit Nivea-Creme ein. Dabei schwatzte sie angeregt, der Wein und das gute Essen hatten sie munter gemacht. Ich verschwand nun meinerseits im Bad, beschloß aber, mein seidenes Verführungsneglige nicht für Kitty zu verschwenden. Als ich endlich ins Bett stieg, las Kitty noch, gähnte aber herzhaft dabei. »Wir sind eine nette Crew«, sagte sie, »ich freue mich auf morgen.«

Auf dem Programm stand eine Wanderung zu den Ruinen der Burg Fleckenstein. »Zum Eingewöhnen«, hatte Witold gesagt. Der Regen hatte aufgehört, und wir liefen durch herbstliche Wälder und Wiesen ohne sonderliche Strapazen.

Witold wollte hin und wieder von Ernst den Namen eines Pilzes wissen, sein Freund sagte aber meistens lakonisch »toxisch« oder »atoxisch«. Im übrigen bildeten sich keine festen Gruppen, Witold sorgte unermüdlich wie ein Hirtenhund dafür, daß die Karawane zusammenblieb.

Scarlett fragte mich neugierig über meinen Beruf aus. Ich gab ihr gern Auskunft. Bislang hatte sich noch niemand dafür interessiert. Aber dann nervte sie mich ausgiebig mit den noch unausgegorenen Berufswünschen ihrer Kinder. Ein wenig interessant war nur die Klage über ihren vielversprechenden Oleg, daß er in punkto Frühreife seinem Papa nachschlagen würde, der in jungen Jahren auch ein rechtes Früchtchen gewesen sei. Ich konnte mir das kaum vorstellen.

Einmal sprach sie auch von Hilke Engstern, mit der sie gut befreundet gewesen war.

»Was war diese Hilke eigentlich für ein Mensch?« wollte ich wissen.

»Ein wenig resigniert neben diesem Ausbund an Charme«, sagte Scarlett, »Rainer muß ja immer im Vordergrund stehen.

Aber sie war sehr klug und eine Persönlichkeit, vielleicht etwas zu empfindlich. Man mußte immer auf der Hut sein, im Nu hatte man sie beleidigt und wußte gar nicht, wieso.«

Nun, ich konnte mir gut vorstellen, daß Pamela Schröder so manchen beleidigt hatte, denn sie hielt mit ihrer Meinung nie hinterm Berg.

»Rainer und ich…«, begann sie wieder, bremste sich plötzlich und meinte dann: »Jetzt habe ich den Faden verloren.«

Ich haßte sie.

Auf der Burg Fleckenstein gab es eine Führung, von einem deutschsprachigen Veteranen nach alter Tradition gemeistert; er warf mit Zahlen um sich, aber diese Längen-, Breiten- und Höhenangaben langweilten; Witold hätte es sicher besser gemacht.

Dieser erste Tag verlief harmonisch, das freundliche Herbstwetter trug einen Teil dazu bei. Unsere Wanderung dauerte vier Stunden, ich fand es erträglich. Am Nachmittag wurde eine kleine Siesta eingebaut, ein zweiter Bummel durch das Städtchen folgte und das abschließende gute Essen.

Diesmal gab es Coq au Riesling, eine Quiche lorraine vornweg, Sorbet hinterher und viel Wein dazu. Ich hatte kräftiger zugelangt als am Abend vorher, denn der ungewohnte Aufenthalt an der frischen Luft hatte mir Appetit gemacht.

Außerdem war ich, seit ich in Witold verliebt war, immer magerer geworden, so daß ich mir vornahm, mich zu vermehrter Nahrungsaufnahme zu zwingen.

Aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. In der Nacht wurde mir schlecht, ja mehr als das, sterbenselend. Ich wagte nicht, mir in der Hotelküche eigenmächtig einen Tee zu kochen. Schließlich mußte ich mich von dem delikaten Abendessen unter qualvollem Würgen wieder trennen, und mir wurde etwas besser. Schlafen konnte ich indes immer noch nicht. Ich war außerdem nicht gewöhnt, einen fremden Atem neben mir zu hören. Nicht etwa, daß Kitty unruhig schlief. Wie ein kleiner Zinnsoldat lag sie da, stramm und gerade ausgestreckt, ohne im Traum zu zappeln oder mit dem Federbett zu rascheln. Erst gegen vier Uhr schlief ich ein.

Aber schon kurz nach sieben klopfte es leise an unsere Tür.

Ich war sofort hellwach, auch Kitty reagierte prompt. Witold steckte seinen Kopf herein. Nur an der Flüsterstimme konnte ich ihn erkennen. »Ich mache jetzt einen Morgenspaziergang, will jemand mitkommen? Bis zum Frühstück um zehn sind wir längst wieder da.«

Nein, dachte ich, nicht um sieben in der Früh! Schließlich habe ich Urlaub und eine schlechte Nacht hinter mir! Ich schüttelte den Kopf. Bei aller Liebe- das ging zu weit. Aber Kitty willigte fröhlich ein.

»Warte unten fünf Minuten, ich putze mir nur die Zähne und fahre in meine Klamotten!« In Windeseile war sie fertig, fix und leise, und weg.

Aber wie soll man wieder einschlafen nach solcher Unterbrechung? Es war noch gar nicht richtig hell draußen.

Vom Fenster aus sah ich die beiden mit großen Schritten über den tauigen Rasen zur Landstraße gehen.

Ich gähnte mehrmals, machte das Nachttischlämpchen an und griff nach meiner Wirtschaftszeitung. Aber zum ersten Mal im Leben fand ich sie stinklangweilig. Was sollten diese toten Zahlen, wenn man es mit lebendigen Menschen zu tun hatte? – Und mit toten.

Was las Kitty? Einen Bestseller in englischer Sprache. Ich war beeindruckt. Wieder einmal empfand ich mich als alt, ungebildet, spießig und langweilig.

Ich ging mir die Zähne putzen. Kittys kosmetische Ausrüstung war karg, keinerlei Make-up oder Malgeräte standen ihr zur Verfügung. Eine Dose mit Mandelkleie, eine Honigseife und eine Meersalz-Zahnpasta. Wie alt mochte sie sein? Ich öffnete ihre Nachttischschublade: Portemonnaie und Ausweis lagen vertrauensselig vor mir ausgebreitet. Na, doch schon fünfunddreißig, las ich erstaunt. Ich sah nach ihrem Gepäck. Kitty kam mit einer bemerkenswert kleinen Reisetasche aus. Unterwäsche, zwei weiße Blusen, ein zweites Paar Jeans, ein zweiter Pullover, Socken — das war’s. Ich hatte gut und gern die vierfache Menge mitgenommen.

Nun war ich richtig wach, ging unter die Brause, zog mich an. Erst halb neun. Ich trat auf den Flur. Neben unserem lag Witolds Zimmer, der Schlüssel steckte. Kein Mensch zu sehen.

Ich trat leise ein, um auch hier ein wenig zu kundschaften. Was hatte Witold für Zahnpaste?

Als erstes sah ich aber einen vollen Aschenbecher neben dem Bett. Pfui, dachte ich, du bist mir der Rechte! Nachts wird gequalmt, und tags machst du auf Naturmensch und Wandervogel. Auf dem Bett lag ein zerknäulter dunkelblauer Schlafanzug. Wenigstens das Fenster hätte er aufmachen sollen, fand ich. Vorm Waschbecken lag eine ausgefranste Zahnbürste, Rasierkram und ein billiges Aftershave. Auch hier öffnete ich die Nachttischschublade, aber ich spürte dabei eine ängstliche Erregung, die sich zusehends steigerte. Dieses Gefühl hatte ich früher gehabt, wenn ich Witold vom dunklen Garten aus beobachtete. Ein süchtiges Drängen voll Sehnsucht, Furcht und Kraft.

Ein Foto in der Brieftasche: Es schien Hilke mit den Söhnen zu sein, wohl vor einigen Jahren aufgenommen. Hilke lachte, ihr schwarzes Haar glänzte, und sie sah sehr anders aus als damals, als ihre grüne Bluse vom auslaufenden Blut dunkel wurde. Der eine Sohn — wohl der ältere — sah ihr auffallend ähnlich. Ich hatte Witolds Kinder noch nie gesehen und betrachtete sie gierig, aber ohne Zuneigung.

Ein Brief von Vivian, allerdings schon vier Wochen alt. Ihre Handschrift war kaum zu lesen, der Text erging sich in Andeutungen und sprunghaften Assoziationen, mit denen ich nichts anfangen konnte. Nur der Schluß war klar: LOVE, YOURS EVER VIVIAN. Auch die Anrede vermochte ich schließlich zu entziffern: »Geliebter Pharisäer!«

Solche Briefe konnte ich nie und nimmer schreiben, englische Bücher konnte ich nicht lesen, Brechtlieder konnte ich nicht singen, und Kinder konnte ich schon gar nicht mehr kriegen.

Noch einmal starrte ich auf den Aschenbecher, das muffige Bett und die schweißigen Socken auf dem Teppichboden. Wie seltsam hatte es die Natur eingerichtet, daß die Menschen fähig waren, über solche ekelhaften Details hinwegzusehen, und sogar versessen daraufwaren, ein solches Nachtlager zu teilen.

»Hast du Lust, in dieses Bett zu kriechen, Rosi?« fragte ich mich. Meine Zweifel waren groß. Zum ersten betrafen sie meine Empfindlichkeit gegen Gerüche und meine Abneigung gegen Entblößungen, zum anderen meine Ängste, den Erwartungen eines Mannes nicht gerecht zu werden. Liebte ich Witold wirklich?

Ich ging wieder in mein Zimmer, legte mich mit Kleidern aufs Bett und nahm meine Zeitschrift. Aber statt zu lesen, starrte ich an die Decke.

Die Tür wurde aufgerissen. Kitty wehte herein, Frische im Gesicht und Begeisterung in den Augen. »Es war sooo schön«, sagte sie herzlich, »morgen mußt du unbedingt auch mitkommen!«, und sie drückte mir eine geknickte lila Aster und eine späte rosa Rose in die Hand. »T’is the last rose of summer«, sang sie und warf dabei Stück für Stück ihrer Kleidung aufs Bett. »Hab’ doch noch gar nicht gebraust«, sagte sie, schon nackt. Zutraulich blieb sie vor meinem Bett stehen:

»Morgens ist es am schönsten, Nebel steigt aus den Wiesen, Herbstzeitlosen blühen, im Dorf wird die Milch zur Sammelstelle gefahren. Und diese herrlichen Bauerngärten, sooo große Dahlien…«, zeigte sie mit beiden Händen.

Ich mußte sie gegen meinen Willen ansehen, denn ich habe große Scheu vor Nacktheit. Kitty, die Unauffällige, das mußte wohl jeder zugeben, sah unbekleidet wunderschön aus. Ihr Körper war kräftig, dabei aber schlank, und strahlte eine natürliche Lebensfreude aus. Singend hopste sie unter die Dusche. Was machte sie so glücklich?

Ich beschloß, nicht zu weinen. Kitty war schließlich mit fünfunddreißig Jahren immer noch ledig; sollte ich sie beneiden, sie hassen? Das wäre verschwendete Energie.

Einer Schicksalsgenossin tut man nichts an. Hassen mußte ich eine andere Art von Frauen: die Mütter.

Beim gemeinsamen Frühstück klärte uns Witold auf, daß Kitty heute Geburtstag hatte. Der Grund für ihre Fröhlichkeit war also nicht eine Liebeserklärung von Witold — ich ärgerte mich, daß ich beim Nachlesen in ihrem Ausweis nur auf das Geburtsjahr geachtet hatte. Witold hatte Kittys Kaffeetasse mit Efeu und roten Hagebutten garniert. Sie sollte bestimmen, wie der Tag heute verlief.

»Toll!« sagte die bescheidene Kitty strahlend, »dann wünsche ich mir, daß wir ein Stück weiterfahren, ein neues Hotel suchen und ein anderes Stückchen Elsaß anschauen.«

»Stadt und Kultur oder Land und Natur?« fragte Ernst.

»Natur!« verlangte Kitty, »ein bißchen Dörfer mit Gärten, und vor allem gutes Essen.«

»Na, so anders war es bisher ja nicht«, meinte Scarlett, »wir haben nicht gerade gedarbt bis jetzt!«

Wir fuhren also los, und Kitty, die vorn neben Witold saß, durfte wie ein Fahrlehrer »rechts«, »links« und »stop« sagen.

Sie wählte allerkleinste Straßen, begeisterte sich für Bauernhäuser, entdeckte einen Storch und hieß uns nach zwei Stunden in einem kleinen Dorf nach einer Herberge suchen.

Hier wolle sie bleiben und nirgendwo anders. Die Herberge an der Hauptstraße hatte nur ein Zimmer frei, verwies uns aber an ein ehemaliges Gutshaus, das jetzt als Hotel umgebaut sei. Es war schwer zu finden, aber traumhaft schön.

»Wenn wir hier was kriegen«, sagte Kitty kindlich, »dann habe ich ein ganzes Jahr lang Glück!«

Sie hatten zwei Doppelzimmer frei, aber in das eine könne man noch ein Zusatzbett schieben.

»Abgemacht!« rief Kitty.

»Ja doch«, sagte Ernst Schröder, »dann gibt es halt ein Buben- und ein Mädchenzimmer.«

Das Haus war uralt, mit sehr dicken Wänden und einer breiten Außentreppe. Die grünen Schlagläden verwitterten allmählich oder fehlten ganz; unsere Zimmer lagen im ersten Stock, es gab noch einen zweiten. Zum Essen mußte man über einen gepflasterten Hof gehen, denn im ehemaligen Gesindehaus war das kleine Restaurant untergebracht.

Wir drei »Mädchen« hatten das größere Zimmer. Ich saß auf dem breiten Fensterbrett und hatte das Restauranthäuschen im Blick. Fünf Katzen hatten sich vor der Tür versammelt. Sobald sie von außen geöffnet wurde, flitzten sie wie die Irrwische hinein. Wenige Minuten später wurde die Tür von innen geöffnet, ein Koch trat auf die Schwelle und warf die Katzen allesamt, eine nach der anderen, die Stufen hinunter. Das hinderte sie jedoch nicht daran, sich zu sammeln und mit dem nächsten Gemüsehändler oder Metzger erneut durchzuschlüpfen.

Nachdem wir die hübschen herbstlichen Bilder genug bewundert hatten, wurde die heutige Wanderung in Angriff genommen. Der Garten des Weingutes stand voller Sonnenblumen. Hunde und Kälber, Kinder und Winzer wuselten herum. Kitty freute sich wie eine Schneekönigin.

Der Koch lief uns nach. Ob wir heute abend Baekaoffa wünschten.

»Ja!« sagte Kitty.

Ich fragte schüchtern, was das wäre, denn mein Magen war nach dieser Nacht immer noch hochempfindlich. Der Koch sprach von Schweineschwanz, Hammelschulter und Rinderbrust, die er mit Kartoffeln, reichlich Zwiebeln und Knoblauch, Gewürzen und viel weißem Pinot stundenlang in einer irdenen Terrine in den heißen Ofen stellen würde. Meine Wanderkameraden begeisterten sich schon beim Zuhören.

Sollten sie sich nur immer ihren Schweineschwanz zu Gemüte führen, ich würde mir einen Haferbrei bestellen.

Auch das Wandern machte mir heute nicht viel Spaß. Ich hatte Magenkrämpfe. Zum Frühstück hatte ich nur Tee getrunken, und eigentlich wäre ich am liebsten im Hotel in diesem urgemütlichen Bauernbett geblieben, hätte das Fenster weit aufgemacht, ein wenig gedämmert und auf die fremden Laute von Mensch und Tier draußen gelauscht. Aber sollte man mich für eine alte Ziege halten, kränklich, säuerlich, eine Spielverderberin? Ich biß die Zähne zusammen und lief und lief…

Schließlich kam ich mir wie ein napoleonischer Krieger vor, der durch Rußlands endlose Steppen und Sümpfe marschiert, den sicheren Tod vor Augen.

Keiner merkte mir etwas an. Aber als ich drei Stunden lang nur »ja« und »nein« gesagt hatte, schaltete der stets pflegefreudige Witold schließlich doch, daß der Soldat Thyra nicht ganz auf dem Posten war. Ich gab zu, das gestrige Essen nicht vertragen zu haben. Witold holte aus seiner Anoraktasche einen Flachmann.

»Trink ein Schlückchen, das hilft!«

Weil er es war, der mir die scharf riechende Flüssigkeit unter die Nase hielt, gehorchte ich. Es war ein scheußlicher Kräuterschnaps, der aber wirklich half.

»Nun?« fragte er gespannt und wartete auf eine Erfolgsmeldung. Ich nickte matt.

»Paß auf«, sagte er, »wir steuern jetzt eine Straße an, dort winke ich einem Auto, und du fährst zurück ins Hotel!«

Wider Erwarten klappte es. Ein Lieferwagen voller Farbeimer und Malerutensilien hielt sofort an. Witold konnte nun auch sein perfektes Französisch an den Mann bringen und erklären, daß Madame von einem heftigen Unwohlsein befallen sei.

»Dann fahre ich auch mit«, sagte Scarlett plötzlich, »wenn ich noch mal drei Stunden zurücklatschen soll, dann wird mir das auch zuviel!«

Sie tat dem Fahrer gegenüber so, als wolle sie mich Schwerkranke betreuen, kletterte hinten hinein und setzte sich auf eine farbverschmierte Leiter. Sie winkte den anderen königlich zu, während ich mich unendlich erleichtert neben dem Fahrer auf den Sitz fallen ließ.

Scarlett plauderte in gräßlichem Französisch und unter heftigem Gestikulieren mit dem Fahrer, der durch seinen Rückspiegel mit ihr in Blickkontakt stand. Obgleich mir ihre vielen Fehler auffielen, wäre ich doch nie imstande gewesen, mich in dieser Sprache zu unterhalten. Als wir ankamen und uns bedankt hatten, sagte Scarlett: »Leg du dich mal gleich ins Bett, ich geh’ noch einen Kaffee trinken«, und verschwand im Restaurant.

Mir war es sehr recht. Frierend zog ich die Wanderkluft aus, den mausgrauen Jogginganzug an und das Federbett über die Ohren. Zehn Minuten später klopfte es. Ein kleines Mädchen von circa zehn Jahren trat mit wichtigem Gesicht an mein Bett, präsentierte mir in einem Körbchen eine Wärmflasche und erklärte, das schicke mir ihre Mutter. Ernsthaft nickte sie und verließ mich; natürlich konnte das bloß Scarlett organisiert haben. Das hätte ich diesem kaltschnäuzigen Vamp nicht zugetraut.

Etwas später kam sie selbst, auf einem Tablett trug sie Tee und Zwieback.

»Du mußt was in den Magen kriegen, sonst stehst du unsere Feier heute abend nicht durch«, sagte sie mit mütterlicher Strenge. Kritisch musterte sie mich.

»Große Passion für Schusters Rappen scheinst du im Gegensatz zu Kitty nicht zu haben. Wahrscheinlich bist du nur wegen seiner blauen Augen mitgekommen!«

Ich trank den Tee, mummelte etwas Zwieback und schlief kurz danach fest ein.

Gegen sieben Uhr wurde ich durch Flüstern wach, das schärfer in mein Unterbewußtsein eindrang, als es normale Lautstärke getan hätte. Scarlett lackierte sich die Krallen.

Kitty fragte: »Haben wir dich wachgemacht? Wie geht es dir denn?«

Mir ging es tatsächlich viel besser, ich bin ja eine zähe Natur. Ich setzte mich auf und fragte, wann denn gefeiert würde.

»Erst machen wir uns schön, Mädels!« sagte Scarlett und imitierte den Ton einer Turnlehrerin aus vergangenen Zeiten.

Ihre roten Haare waren frisch gewaschen und gelockt.

Kitty wühlte in ihrem Reisetäschchen und nahm eines der weißen Baumwollblüschen heraus. Scarlett pfiff.

»Hast du nichts anderes? Du wirst doch heute fünfunddreißig, da mußt du ausnahmsweise mal als Erwachsene auftreten!«

Kitty nahm nichts übel.

»Ich hab’ weder hier noch zu Hause eine Diva-Ausrüstung!«

Scarlett prüfte nun den Bestand ihres eigenen Koffers und holte eine schwere goldbraune Samtbluse heraus.

»Probier die mal, zu meinen roten Haaren paßt die Farbe gut, aber zu blond vielleicht noch besser. Ist ein teures Stück!«

Kitty zog das teure Stück an und sah bezaubernd aus.

Scarlett war neidlos hingerissen. »Ich schenke sie dir zum Geburtstag«, sagte sie großzügig.

Mich beeindruckte diese verschwenderische Geste, sie war meinem Wesen sehr fremd. Aber wegen der Bemerkung über Witolds blaue Augen hatte ich eine heftige Wut auf Scarlett.

Kitty zierte sich überhaupt nicht, die teure Bluse anzunehmen. Sie umarmte und küßte Scarlett und posierte eine Weile vor dem Spiegel. Schließlich wurde ich von den beiden angesteckt, denn auch Scarlett zog Kleidungsstücke an und aus und schubste Kitty übermütig vom Spiegel weg. Ich verließ also das gute Bett und den wärmenden Jogginganzug und machte mich schön. Als wir schließlich zu den Männern stießen, glänzte Kitty in Goldbraun, Scarlett in Smaragdgrün und ich in Hellblau; dazu trug ich Frau Römers Brosche.

Im Lokal saß mir Ernst Schröder gegenüber. Wie gebannt starrte er meine Brosche an, während Kitty und Witold von der Fortsetzung der Wanderung ohne uns Schlappmacher erzählten.

»Woher hast du diese Brosche?« fragte er und musterte mich kalt. Ich wollte nicht die ganze Story von Frau Römer preisgeben.

»Gekauft«, erwiderte ich kurz.

»Wo?«

»Auf einer Antiquitätenmesse«, log ich.

Ernst streckte die Hand aus: »Kann ich sie mal von nahem sehen?«

Ich nestelte das schwere Ding ab und gab es ihm.

Er betrachtete die Brosche eingehend.

»Seltsam«, sagte er.

»Was ist denn so seltsam?« fragte ich, während Zusammenhänge nebelhaft in mir auftauchten.

»Ach nichts«, meinte er, »meine Mutter hatte just die gleiche Brosche, haargenau dieses schwarze Hermesprofil.«

Witold mischte sich ein, nahm die Brosche ebenfalls prüfend in die Hand.

»Ende neunzehntes Jahrhundert«, schätzte er, »vermutlich noch von der Generation unserer Großeltern. Wer hat denn die Brosche deiner Mutter geerbt?«

»Sie wurde gestohlen, meine Mutter war untröstlich. Sie wollte sie ihrer ersten Enkelin vererben, ich habe ja keine Schwester. Nun, das wäre meine Tochter gewesen. Aber meine Mutter starb, bevor Annette geboren wurde, und die Brosche war längst nicht mehr da.«

Der Baeckaoffa wurde, würzig duftend, auf den Tisch gebracht. Alle griffen kräftig zu. Witold bestimmte, daß ich mir ein paar der Kartoffeln zerquetschen solle, ohne den köstlich eingedickten Weinsud. Ich aß auch ein paar Happen und übersah geflissentlich, wie sich Kitty und Ernst den ekligen Schweineschwanz teilten.

Es wurde getafelt und gebechert wie an den letzten zwei Abenden, die Stimmung war überaus heiter. Ernst Schröder hatte einen unerhörten Durst. Obgleich er wie ein Scheunendrescher über den Baeckaoffa herfiel, war er doch nach zwei Stunden sichtbar angetrunken und sehr redselig.

»Wenn ich die heutige Jugend sehe — speziell meinen vielversprechenden Filius —, dann muß ich vor Neid ganz blaß werden. Was der mit achtzehn Jahren schon alles an Frauen verschlissen hat, das kann ich in meinem ganzen Leben nicht mehr aufholen!«

Scarlett warf ihm einen skorpionhaften Blick zu.

»Mit siebzehn hatte ich mein erstes erotisches Abenteuer, aber dann lange nix mehr. Das war aber damals ganz ungewöhnlich früh«, sagte er angeberisch, »beim Anblick von Thyras Brosche fällt mir alles wieder ein!«

»Erzählen!« rief Witold lustig.

Scarlett zischte: »Du wirst geschmacklos, Ernst.«

»Also, das war schon ein dolles Ding«, fuhr Ernst unbeirrt fort, »ich war ein reichlich verklemmter Schüler, so wie wir das in den fünfziger Jahren alle waren. Eines Tages sprach mich auf dem Heimweg von der Schule eine junge Frau an, weil sie eine bestimmte Straße suchte. Es war zufällig die, in der ich wohnte. Noch größer war der Zufall, daß sie zu den Leuten im Souterrain unseres Mietshauses wollte. Dort war aber keiner zu Hause. Meine Eltern waren für drei Tage verreist. Ich bat das fremde Fräulein zu uns herein, damit sie einen Zettel für diese Leute schreiben konnte.«

Wir waren alle ganz Ohr.

»Ein Roman, den das Leben schrieb«, spöttelte Witold.

»Weiter«, bat Kitty.

Scarlett hatte es aufgegeben, ihren Mann unter dem Tisch zu treten.

Ernst, der große Don Juan, genoß sichtlich unsere Aufmerksamkeit.

»Ob ihr es glaubt oder nicht, ich — der völlig Unerfahrene — habe die noch viel Unerfahrenere gleich bei diesem ersten Zusammentreffen verführt!«

»Ich bin sprachlos!« sagte Witold, »Hakim, wenn du nicht lügst, bist du ein unerhörter Schwerenöter!«

Scarlett kniff jetzt Witold in den Unterarm.

»Du hast es gerade nötig, ihn dafür auch noch zu loben!«

»Wie ging es weiter?« wollte Kitty wissen.

»Meine Geliebte war mindestens acht Jahre älter als ich, damals hatte eine unverheiratete Frau über fünfundzwanzig wahrscheinlich schon Komplexe und Torschlußpanik.« — Ernst lächelte Kitty charmant an, um wiedergutzumachen, daß diese Bemerkung nicht besonders taktvoll war.

»Na ja, um es kurz zu machen: Wir liebten uns inbrünstig und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ich grüner Junge wollte sie natürlich heiraten. Aber um auf die Brosche zu kommen — ich klaute sie meiner Mutter und schenkte sie meiner Angebeteten als Liebespfand.«

»Und was ist aus der Frau geworden?« wollte Kitty wissen.

Ernst betrachtete die Brosche mit abwesendem Blick.

»Ich weiß es nicht. Sie zog plötzlich weg, schrieb mir einen Abschiedsbrief und hinterließ keine Adresse. Ich junger Spund kriegte nie heraus, wo sie hingegangen ist.«

»Meinst du denn, das ist die Brosche deiner Mutter?« fragte Witold.

»Mit Sicherheit wird man das nicht feststellen können, obgleich man bei so einem ausgefallenen Stück schon glaubt, daß nicht viele von dieser Sorte existieren.«

Witold nahm die Brosche wieder in die Hand. Auf einmal sah er Scarlett spitzbübisch an.

»Was meinst du, was ein richtiger Junge in seiner Hosentasche hat?«

Sie rümpfte die Nase: »Pfui Teufel, jetzt ziehst du gleich Blindschleichen und Molche heraus!«

Witold lachte. »Sehr schlecht geraten! Natürlich ein Schweizer Offiziersmesser!«

Er hatte das rote Prachtstück schon in der Hand.

»Thyra, darf ich mal vorsichtig mit dem kleinsten und feinsten Instrument die Rückseite von der Brosche ablösen?

Vielleicht ist zwischen der Goldplatte und dem Stein eine Locke, ein Juwelierszeichen oder eine Inschrift.«

Ich nickte, und er begann sehr zart, die vielen dünnen Goldzähnchen umzulegen. In die von außen nicht sichtbare Hinterwand war tatsächlich ein Monogramm eingraviert: E.S.

Ernst wurde ganz aufgeregt, es müsse der Name seiner Großmutter väterlicherseits sein, Elise Schröder.

»Das bedeutet«, sagte Ernst, »daß meine frühe Geliebte entweder tot ist und ihre Hinterlassenschaft von den Erben verkauft wurde, oder daß sie in große Armut geriet und sich davon trennen mußte.«

Scarlett meinte spöttisch: »Du siehst das aber sehr durch die romantische Brille! Vielleicht mochte sie deine Brosche nicht besonders, und vielleicht war ihr auch die Erinnerung nicht gar so heilig, wie du glauben möchtest.«

Man aß weiter, der Baeckaoffa blieb lange heiß.

»Wieviel hast du denn dafür bezahlt?« fragte Ernst, den das Thema weiter beschäftigte.

Ich zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht mehr genau, aber sie war sehr teuer.«

Witold interessierte sich für Antiquitäten. »Solche Sachen haben natürlich Liebhaberpreise, ich könnte mir denken, daß sie in einem Heidelberger Antiquitätenladen mindestens dreitausend Mark kostet.«

Ernst sagte sehr leise zu mir: »Ich würde dir die Brosche gern abkaufen, aber fühle dich bitte nicht unter Druck gesetzt, sondern überlege in aller Ruhe. Ich würde jeden Preis zahlen oder dir auch ein Schmuckstück nach deiner Wahl kaufen.«

Ernst Schröder war also der Vater von Frau Römers Tochter!

Verrückt war das schon; sah sie ihm ähnlich? Ich hatte diese Frau, die älter als Kitty war, erst einmal gesehen. Sie war Olegs und Annettes Halbschwester!

Mit einem gewissen Ekel sah ich Ernst Schröder an; er hatte Frau Römers Leben verpfuscht. Dann erinnerte ich mich an Scarletts großartige Geste, wie sie ihre goldfarbene Samtbluse verschenkt hatte.

»Ich mache keine Geschäfte mit dir, Ernst«, sagte ich mit eisigem Hochmut, »ich schenke dir die Brosche für deine Tochter.«

Das war ihm nicht recht. Er regte sich auf, aber immer mit begierigem Blick auf das Erbstück.

»Thyra«, sagte er, »ein solches Geschenk kann ich nie und nimmer annehmen. Wir gehen vor Weihnachten auf eine große Antiquitätenmesse, und du suchst dir dort etwas Wunderschönes aus. Aber du verstehst doch, daß dieses Stück für mich eine ganz persönliche Bedeutung hat?«

Die anderen hatten von unserem Handel nur mit halbem Ohr vernommen. Sie diskutierten über das morgige Programm.

Kitty wollte wieder möglichst lange durch Wald und Feld marschieren, aber diesmal war es Witold, der etwas anderes im Sinn hatte.

»Entweder Colmar oder Straßburg«, schlug er vor, »Kinder, wir können doch nicht eine Woche durchs Elsaß fahren und jegliche Kunst und Kultur dabei aussparen.«

»Na gut, dann Straßburg«, sagte Scarlett, »ich habe mir vor Jahren totschicke Schuhe dort gekauft, diesen Laden finde ich wieder.«

»Banausin«, spottete Witold.

Das Geburtstagskind bewunderte die braunglasierte Keramikterrine, die hübsch mit weißen Blümchen und grünen Blättern bemalt war. »So eine kaufe ich mir in Straßburg, das Rezept vom Baeckaoffa schreibe ich mir genau auf, und heute in einem Jahr lade ich euch alle zu einem Gedächtnisessen ein.«

»Na wunderbar«, sagte Ernst freundlich.

Witold plante halblaut murmelnd die Besichtigung der Kathedrale, des Elsaß-Museums und des Viertels ›La Petite France‹.

Eine gewisse Trägheit nach dem reichhaltigen Essen machte sich breit. Besonders Kitty gähnte ungezwungen. Witold und sie waren ja bereits am frühen Morgen herumgelaufen.

»Wann sollen wir morgen aufbrechen?« fragte Witold.

»Ach Rainer«, maulte Scarlett, »wir haben doch Ferien, das müssen wir doch jetzt noch nicht festlegen. Das findet sich nach dem Frühstück.«

Kitty fragte unter unermüdlichem Gähnen: »Holst du mich morgen zum Frühspaziergang ab?«

»Na klar«, sagte Witold, »ich klopfe wieder an die Tür.

Vielleicht kommt Thyra auch mit.«

»Vielleicht«, antwortete ich.

Kitty wollte ins Bett, und wir brachen nun alle auf. Sie lag in Windeseile im Grand Lit, das ich heute mit ihr teilen mußte, während Scarlett sich das Zusatzbett geschnappt hatte. Kitty streckte alle viere von sich, seufzte »Gute Nacht« und schlief den gerechten Schlaf der fleißigen Wanderer.

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