11

Was sollte ich jetzt machen? Ich nahm als erstes das Glas wieder an mich, dann wischte ich Blut weg und betäubte mich mit dieser anstrengenden Arbeit in gebückter Haltung.

Plötzlich mußte ich erbrechen. Ich verfehlte das Klo, und der Anblick und Geruch von Blut, Tod und säuerlichem Mageninhalt ließ mich in die Knie gehen. Ich verließ taumelnd mein kleines, sonst immer pieksauberes Bad und ließ mich im Wohnzimmer aufs Sofa gleiten. In den Schläfen pochte es, das Herz schlug wie ein Preßlufthammer, gleichzeitig trat mir eiskalter Schweiß auf die Stirn. Ein Kreislaufkollaps, ich wußte es. Gnädigerweise verstand es die Natur in Krisenmomenten, den gebeutelten Menschenkopf kurzfristig durch Ohnmacht abzustellen. Aber ich tauchte wohl nur sekundenlang weg. Bald waren Angst und Verstand wieder voll da. Das da im Bad muß verschwinden! sagten sie.

Nach einigen Minuten wählte ich mit zitternden Fingern Witolds Nummer, ich vertat mich zweimal. Er war gleich dran und merkte an meiner tonlosen Stimme sofort, daß eine Katastrophe eingetreten war.

»Was ist, sag doch!« schrie er beinahe.

»Komm sofort«, konnte ich eben noch sagen und auflegen.

Dann sank ich wieder aufs Sofa und fühlte, daß ich nun mit akutem Durchfall rechnen mußte. Es war grauenhaft, das Bad wieder zu betreten, aber es ging nicht anders.

Ich öffnete kurz darauf die Tür für Witold, der mich mit einem ahnenden Entsetzen anstarrte. Ich sah wohl selbst aus wie eine Leiche. Aus dem Schlafzimmer hörte man den Hund wolfsartig heulen.

Er schüttelte mich an den Schultern.

»Nun sag doch!« schrie er, selbst in Panik.

»Ich mußte ihn umbringen!« stieß ich hervor.

»Wen?«

»Den Polizisten.«

Witold glaubte mir nicht.

»Warum, wo ist er, nun dreh mal nicht durch«, er drückte mich aufs Sofa. Auf einmal sah er Blut auf meinem grauen Pullover. Er machte sich eine Zigarette an.

»Ganz ruhig, Thyra«, sagte er, wobei er nun selber zum Nervenbündel wurde, »ganz ruhig. Nun sag mal langsam und vernünftig, was passiert ist.«

»Ich habe ihn umgebracht«, ich konnte es kaum sagen, meine Zähne klapperten.

»Wo denn?« Witold regte sich schrecklich auf.

»Im Bad.«

Er rannte im Glauben hinaus, mich über die Ausgeburten meiner hysterischen Phantasie aufklären zu können. Nach unendlich langer Zeit, wie mir schien, kam er zurück. Er rauchte, ging aufs Telefon zu.

»Witold, er wollte dich verhaften«, sagte ich, »ich mußte es tun.«

»Mich, warum?« Witold blieb zögernd vorm Telefon stehen.

»Er wußte, daß du mit Scarlett zusammen gewesen bist, weil eine Kellnerin meinte, euch im Garten gesehen zu haben.«

Witold starrte mich mit offenem Mund an.

»Das wäre wirklich kein Grund für eine Verhaftung«, fand er.

»Außerdem hat er aus mir herausgequetscht, daß du den Schuß auf Hilke abgefeuert hast; ich kann so schlecht lügen«, log ich.

Witold überlegte offensichtlich, ob er einen Psychiater oder die Polizei anrufen sollte.

»Warum hast du eigentlich den Wahn, mich vor dem Fallbeil retten zu müssen?« fragte er mich streng, aber doch in einer fernen Kammer seines Herzens gerührt, daß ich seinetwegen diesen Polizistenmord begangen hatte.

»Ich habe dich vom ersten Blick an geliebt«, flüsterte ich.

Witold war sichtlich bestürzt. Nun stand er vor der schrecklichen Aufgabe, mich, die ihn liebte und schützen wollte, an die Justiz oder die Nervenheilanstalt auszuliefern.

»Was soll ich denn machen?« fragte er mich und sich, »womit hast du ihn überhaupt erschossen? Etwa mit dem gleichen Revolver wie Hilke…?«

Ich nickte. Dann murmelte ich erklärend: »Wahrscheinlich habe ich ihn aufgehoben, um mich selbst damit umzubringen.

Das Leben hat keinen Sinn für mich, weil du mich niemals lieben wirst.«

Witold konnte nicht gegen seine Natur. Er nahm meine Hand. »Thyra, sag so was nicht! Du weißt, daß ich dich sehr gern mag und dir helfen will.«

Er warf wieder einen abwägenden Blick aufs Telefon.

»Der Hund macht mich wahnsinnig«, schimpfte er, als wieder ein langgezogener Heulton aus dem Schlafzimmer drang. Ich ging hin und ließ den Dieskau heraus. Er begrüßte Witold aufgeregt und wollte zum Badezimmer laufen. Ich hielt ihn zurück.

»War der Polizist mit dem Auto da?« fragte Witold, »wahrscheinlich weiß man auf der Wache, daß er hier ist, und sie werden ihn bald vermissen.«

Er sah auf die Uhr.

»Merkwürdig, daß der Bursche überhaupt so spät noch unterwegs war, es ist ja gleich neun. Bei mir ist er gegen halb acht gegangen.«

Unschlüssig ging er auf und ab.

»Ich seh’ mal in seinen Taschen nach, ob er Wagenschlüssel bei sich hat.«

Witold ging mit Überwindung zurück ins Badezimmer. Er kam mit einer Brieftasche, Schlüsseln, einem Taschentuch und einem Notizblock zurück.

»Ich erinnere mich jetzt, er war bei mir auch mit dem Wagen da, er muß ihn unten stehen haben, ich schau’ mal nach«, sagte er und ging hinunter. Ich hatte die Befürchtung, daß er von einer Telefonzelle aus den Notruf betätigen wollte. Aber Witold kam schnell wieder, einen jungenhaften und verschwörerischen Ausdruck im Gesicht.

»Ich habe den Wagen eine Ecke weiter geparkt, aber es ist gar kein Polizeiauto«, sagte er atemlos, »und nun werden wir überlegen, was weiter zu tun ist.«

Ich hatte inzwischen die Notizen des Toten gelesen, soweit man seine Kürzel und Wortfetzen deuten konnte. Er hatte nach dem Besuch bei Witold geschrieben »R. Hirte aufsuchen.

Verdacht durch Engsterns Aussage — Hühnerbein«. Ich zerriß das Blatt und spülte die Fetzen ins Klo, damit Witold es nicht las. »Man muß die Leiche beseitigen«, schlug ich vor.

»Ganz einfach«, sagte Witold, »nichts leichter als das. Wir nehmen die Leiche und legen sie auf die Straße.«

Er blies Rauch in den Lampenschein.

»Wie stellst du dir das eigentlich vor? Da spiele ich nicht mit! Ich kann dir einen Rechtsanwalt empfehlen, ich kann dir Geld leihen, aber ich kann keine Leichen beseitigen!«

Ich hatte auch keine gute Idee. Schließlich wohnte ich mitten in Mannheim, in einem Mehrfamilienhaus in einer belebten Straße. Aber der Tote mußte verschwinden, das war mein größtes Bestreben.

Witold überlegte auch.

»Verheiratet ist er nicht, aber wahrscheinlich hat er eine Freundin, die auf ihn wartet. Vielleicht ruft sie auf der Wache an, wenn er nicht pünktlich kommt.«

Ich fügte hinzu: »Vielleicht ist sie aber auch daran gewöhnt, daß er spät kommt, und außerdem lebt er am Ende allein. Alles ist möglich.«

»Ich rufe jetzt an«, entschloß sich Witold, »Thyra, wir sind doch keine Gangsterbande. Das Unrecht wird schlimmer, je länger wir warten«, er stand wieder auf.

»Ich habe das nur für dich getan«, warnte ich ihn, »wenn sie mich befragen, muß ich auch alles über dich sagen.«

»Es kommt doch sowieso heraus. Es war ein großer Fehler, daß ich versucht habe, mich bei Hilkes Tod auf diese Art aus der Affäre zu ziehen. Thyra, es hat keinen Zweck.«

Ich weinte, aber es schien diesmal nicht den erwarteten Eindruck zu machen. Immerhin hatte er das Telefon bis jetzt noch nicht angerührt.

»Man könnte den Toten in den Keller tragen«, fiel mir plötzlich ein, »sein Auto kann man in eine Einfahrt stellen, wo früher die Kohle abgeladen wurde. Dann könnte man ihn ziemlich unbemerkt in sein Auto legen und wegfahren.«

»Thyra, die Leiche wird auf jeden Fall untersucht, und dann stellt man natürlich fest, daß er mit demselben Revolver getötet wurde wie meine Frau.«

Witold stutzte. Mit Schrecken fiel ihm ein, daß nun der Verdacht durchaus wieder auf ihn fallen könnte.

»Hättest du doch den Revolver weggeworfen!« schrie er mich an.

Ich wurde nun ruhig.

»Wenn er im Auto liegt, fährst du mit ihm zu einem Steinbruch und läßt das Auto runterfallen und explodieren. Ich fahre mit meinem Wagen hinterher und nehme dich wieder mit zurück.«

»Sag mal, wie viele Krimis…« Aber er schien doch über meinen Vorschlag nachzudenken.

»Es geht nicht. Schon auf der Treppe können wir gesehen werden!«

»Wenn wir bis Mitternacht warten, ist es völlig problemlos.

Meine Nachbarin geht früh ins Bett, die Alten unter mir erst recht, das junge Paar ist sowieso verreist…«

»Ich habe Hunger«, sagte Witold unvermutet. Ich wertete das als positives Zeichen.

»Was soll ich dir machen? Käsebrot, Eier?«

»Ja, ein Brot. Von mir aus Brot mit einem Spiegelei darauf.«

Ich ging in die Küche und ließ Butter in der Pfanne heiß werden. Der Geruch verursachte mir einen Magenkrampf.

Doch ich bin zäh, brachte nach fünf Minuten das Gewünschte auf den Tisch und fragte, was Witold trinken wollte. Er hörte nicht hin, schien nachzudenken und mechanisch zu essen.

Nun wagte ich mich noch einmal ins Bad. Ich wischte wieder gründlich auf und betrachtete mir dann den Toten. Die Kopfwunde hatte nicht allzulange geblutet, nur der kleine Frotteeteppich vor der Badewanne war blutgetränkt. Auch das Hirn war nicht ausgetreten oder sonstige schleimige Substanzen.

Der erste Mann, den ich umgebracht hatte! Ich sah ihn mir eingehend an; er war relativ klein, drahtig und sportlich. Hätte er sich nicht in vollkommener Sicherheit gewähnt, wäre mir die Überrumpelung niemals geglückt. Ein wenig spürte ich jetzt Stolz und Erleichterung, wenn auch die Angst und der stets lauernde körperliche Zusammenbruch noch im Vordergrund standen.

Inzwischen hatte Witold aufgegessen. Er hatte es geschafft, daß mein kleines Zimmer schon in kurzer Zeit voller Qualm war. Aber ich verlor kein Wort darüber, da er ernsthaft zu überlegen schien, wie man die Leiche verschwinden lassen könnte.

»Die Idee mit dem Steinbruch ist nicht so übel«, sagte er, »wenn man die Leiche ungesehen ins Auto geschafft hat, ist alles andere gar nicht so problematisch.«

»Man müßte ihn jetzt schon etwas zusammenfalten«, schlug ich vor, »ich weiß nämlich nicht, wie schnell er steif wird.«

Witold ekelte sich bei meinen praktischen Worten, aber es leuchtete ihm ein. Er stand auf, und ich folgte ihm ins Badezimmer.

»Hast du einen großen Müllsack?« fragte er. Meine Müllsäcke waren leider klein, passend für meinen Küchenmülleimer, denn bei mir fielen ja keine Gartenabfälle an. Ich wickelte die blutige Badematte um den Kopf des Toten und stülpte die größte Plastiktüte darüber.

»Ich könnte ja einen Bettbezug nehmen«, schlug ich vor, »wenn uns dann jemand auf der Treppe sehen sollte, sieht es wie ein großer Wäschesack aus.« Witold sagte nur: »Wir probieren es mal.« Ich holte meinen schlechtesten Bezug aus dem Schrank. Gemeinsam brachten wir den Toten in eine zusammengekauerte Stellung, die er ansatzweise schon vorher eingenommen hatte, und schoben ihn in den Bettbezug. Es war ein sehr unhandliches Bündel. Witold hob es probeweise hoch; er konnte dieses Paket zwar tragen, aber wie ein Sack voll Wäsche sah es nicht aus.

»Wir müssen noch etwas warten«, sagte ich, »es ist erst elf, da laufen noch zu viele Leute auf der Straße und vielleicht sogar auf der Treppe herum.«

Der Dieskau kam plötzlich aus dem Wohnzimmer gelaufen und begann unser Wäschepaket ausgiebig zu beschnüffeln. Ich sperrte ihn wieder ins Schlafzimmer, irgendwie schämte ich mich vor dem Hund.

Wir saßen zusammen und berieten.

»Entweder wir nehmen den Steinbruch in Dossenheim oder den in Weinheim«, überlegte Witold. Ich hatte den Verdacht, daß er einen gewissen sportlichen Ehrgeiz entwickelte, diese Aufgabe vorbildlich zu lösen. Pfadfinderträume, am Lagerfeuer singen, mit dem Taschenmesser schnitzen, Spuren auslöschen, Räuber und Gendarm spielen — solche kindlichen Wünsche waren in seinem Herzen nicht verkümmert, sie warteten geradezu darauf, irgendwann in die Tat umgesetzt zu werden.

Dazu kam seine ausgeprägte Ader, den großen Bruder zu spielen, der alle Frauen als kleine Schwester sieht und an die Hand nimmt, sie dazu bringt, ihn zu verehren, sie tröstet und anleitet. Er war genau der richtige Komplize. Abgesehen davon standen seine Moral und Entschlußkraft auf wackligen Füßen; ich war, was die Schnelligkeit einer pragmatischen Entscheidung angeht, ihm weit überlegen.

»Um zwölf hole ich den Wagen wieder her. Du kannst mir ja schon zeigen, wo die Kellereinfahrt ist.«

Ich begleitete Witold nach unten, er besah sich die Stelle, wo er den Wagen hinstellen sollte. Er war zufrieden.

»Wir werden die Leiche auf den Rücksitz legen, nicht in den Kofferraum. Auf dem Weg nach Weinheim werden wir in der Nacht bestimmt nicht aufgehalten. Auf jeden Fall nimm eine alte Decke mit, die wir auf den Toten legen. Hast du einen Reservetank mit Benzin im Auto?«

Nein, natürlich nicht. Und dabei fiel mir ein, daß mein Tank praktisch leer war.

»Dann nimm meinen Wagen«, bestimmte Witold, »es wäre ja ein schlechter Scherz, wenn wir beim Heimfahren steckenblieben, weil kein Benzin mehr im Tank ist.«

Ich fahre ungern mit fremden Autos, aber ich nickte gehorsam. Witold würde mir helfen, da durfte ich keine Zicken machen. Die Zeit verstrich sehr langsam. Der Tote lag ordentlich gebündelt im Bad, die Tür war geschlossen. Der Hund klagte leise. Die Lichter waren bis auf eine kleine Lampe im Wohnzimmer gelöscht. Wenn es schellen sollte, wollte ich nicht öffnen. Eine alte Decke lag bereit. Witold qualmte mir weiter die Bude voll und redete viel dummes Zeug.

Kurz vor zwölf ging er den Wagen holen. Ich war allein und sofort wieder ängstlicher. Als Witold zurückkam, mußte er zuerst eine weitere Zigarette rauchen. Dann sagte er, fast zu forsch: »Packen wir’s an!« Ich schlich in den Flur. Alles war still. Ich winkte Witold, er schulterte das Bündel, ich knipste mein Flurlicht aus. Er ging leise und langsam, die Bürde war schwer. Zweimal mußte er absetzen.

Im Treppenhaus sah ich, wie bei dem alten Ehepaar das Flurlicht anging. Wir verharrten reglos. Sie konnten unter Umständen durch den Spion gucken; ob wir in ihrem Blickwinkel waren? Doch es blieb still, Witold setzte zur zweiten Treppe an. Als wir schließlich auf der Kellertreppe waren, hörten wir die Haustür aufgehen und erstarrten wiederum.

Endlich waren wir unten, und ich öffnete die Kellerausgangstür. Vor mir stand im Schatten der fremde Wagen. Witold setzte die Leiche ab und gab mir den Autoschlüssel. Ich schloß auf, und er packte das große Paket auf den Rücksitz, ich breitete die Decke darüber. Wir atmeten beide auf.

»Weißt du, wo der Steinbruch in Weinheim ist?« fragte Witold, »du mußt nämlich voraus fahren und bei irgendwelchen Auffälligkeiten — Unfall, Polizeistreife oder so — Warnzeichen geben.«

Ich wußte nicht, wie man zum Steinbruch kommt. »Dann mußt du diesen Wagen fahren, es ist ganz einfach«, sagte Witold, wie mir schien, fast etwas erleichtert. Wollte er sich drücken?

»Ich fahre mit meinem Wagen voraus«, ordnete er an, »du folgst mir in Sichtweite. Wenn irgend etwas nicht in Ordnung ist, stelle ich kurz die Warnblinkleuchte an. Dann mußt du anhalten und abwarten.«

Ich nickte beklommen und stieg in das fremde Auto, einen ermordeten Kriminalkommissar auf der Rückbank. Das war alles wie ein Traum. Rosemarie Hirte sitzt im Büro und arbeitet, sie fährt nicht eine Leiche um Mitternacht in den Porphyrbruch.

Witold fuhr vor und sah sich um, ob ich mit dem fremden Wagen zurecht kam. Vorsichtig setzte ich ihn in Bewegung, im Prinzip lagen die Gänge nicht anders als bei meinem eigenen Auto, das Licht hatte Witold schon für mich angestellt. Im Konvoi fuhren wir über die Autobahn in Richtung Bergstraße.

Es war wenig Betrieb um diese Zeit, und ich fühlte mich beim konzentrierten Fahren von der Angst des Entdecktwerdens etwas abgelenkt. Witold wollte mich nicht reinlegen, er wartete sofort, wenn sich der Abstand unserer Autos vergrößerte. Ich war ihm unendlich dankbar.

Wir fuhren in einem mittleren und möglichst unauffälligen Tempo nach Weinheim. Witold kannte sich aus und bog zielstrebig in eine steil berganführende Straße ein. Auf einem Parkplatz oben am Berg hielt er an, und ich stellte den Polizistenwagen neben den seinen. Alles war dunkel und menschenleer. Links führte die Straße weiter zu einer der beiden Burgen.

»Wir lassen meinen Wagen am besten hier stehen und fahren im anderen zum Steinbruch. So weit ich mich erinnere, ist es nämlich ein unbefestigter Weg.«

Froh, nicht mehr selbst fahren zu müssen, kletterte ich auf den Beifahrersitz. Witold nahm wortlos den Benzinkanister aus seinem Wagen und verstaute ihn neben der Leiche. Plötzlich gab er mir einen brüderlichen Kuß: »Jetzt gibt es kein Zurück mehr«, sagte er traurig und fuhr langsam und nur mit Standlicht den holprigen Weg entlang.

Aber schon nach hundert Metern tauchte eine Schranke auf, an die sich Witold nicht erinnern konnte. Wir stiegen aus und betrachteten im Licht vom Schweinwerfer und einer Taschenlampe das massive Vorhängeschloß.

»Unmöglich, das kriege ich nicht auf«, meinte Witold, »wir müssen umkehren und es in Dossenheim versuchen.«

Das war mir ein gräßlicher Gedanke, aber um dieses Schloß zu zerbrechen, war mindestens ein Vorschlaghammer nötig.

»Hast du wenigstens eine Haarnadel?« fragte Witold, und ich schüttelte schuldbewußt den Kopf. Er kehrte zum Wagen zurück.

Noch einmal leuchtete ich mit der Taschenlampe auf die Schranke. Ein leiser Schrei der Begeisterung entfuhr mir, Witold blieb stehen.

»Schau mal«, rief ich, »die Zapfen der Halterung sind durchgerostet!«

Wir untersuchten den Mechanismus erneut und stellten fest, daß man die Schranke mit etwas Kraft einfach hochheben konnte; dabei blieb das Vorhängeschloß weiterhin intakt und für andere Fahrzeuge abweisend. Witold hob die Schranke hoch, ich fuhr mit dem Wagen darunter durch, dann tauschten wir wieder die Plätze und fuhren weiter.

Es kam mir unendlich lange vor, daß wir so zwischen Kastanien, Eichen und Buchen entlangholperten. Schließlich endete der Weg vor einem mannshohen Drahtzaun.

»Verflucht, der war doch damals noch nicht da!« schimpfte Witold. Wir stiegen wieder aus. Witold stellte das Licht ab und nahm die Taschenlampe. Gemeinsam gingen wir den Zaun auf beiden Seiten ein Stück ab; er war massiv, und auf seiner Rückseite befand sich gerollter Stacheldraht.

Witold öffnete den Kofferraum des fremden Wagens und untersuchte im Schein der Lampe, die ich ihm hielt, den Inhalt des Werkzeugkastens. Er war gut bestückt, es fand sich tatsächlich eine kräftige Zange.

»Gut«, lobte Witold den Toten, »hätte ich in meinem Wagen nicht gehabt. Aber dafür hat er keine Taschenlampe.«

Er probierte etwas ungeschickt, den dicken Draht zu knacken. Es gelang zwar nicht mühelos, doch es klappte schließlich. Aber trotz abwechselndem Handhaben von mir und ihm dauerte es über eine halbe Stunde, bis wir eine Reihe Maschendraht von oben bis unten durchgeknipst hatten. Aber auch die untere Verankerung gab nicht ohne weiters nach, ein zwei Meter breites Stück mußte auch hier gekappt werden.

Als wir endlich fertig waren, nahmen wir den Toten vom Hintersitz, entfernten Plastiktüte und Badematte und setzten ihn auf den Fahrersitz ans Steuer. Witold überschüttete die Leiche, die Sitze und die Matte mit Benzin und löste die Handbremse.

»Jetzt heißt es schieben!« forderte er mich auf. Wir mühten uns gemeinsam ab, aber wir kamen nicht über einen ungeschickt liegenden großen Stein. Witold stieß den Toten ein Stück zur Mitte und klemmte sich neben ihn.

»Ich fahre ein Stückchen zurück und dann mit Schwung über den Stein«, erklärte er mir, »stell du dich an den Rand mit der Taschenlampe!«

Ich kletterte über die Stacheldrahtrolle, leuchtete und wartete. Auch mit Motorkraft gelang es nicht auf Anhieb.

»Wir waren blöde«, sagte Witold, »wir hätten das Loch ein paar Meter weiter rechts schneiden sollen, da wäre es kein Problem gewesen. Wahrscheinlich müssen wir nun noch mal mit der Zange arbeiten.«

Er stieg wieder aus. Wir waren beide erschöpft.

»Ich probier’ es noch einmal«, meinte er und drückte sich wieder neben den Toten. Ich stellte mich an den Rand des Abgrunds und gab Lichtzeichen.

Witold fuhr wieder ein Stück zurück. Mir kam es so vor, als hätten wir eine Menge Lärm gemacht, aber es war in dieser Jahreszeit unwahrscheinlich, daß ein Liebespaar oder sonst jemand mitten in der Nacht hier herumlief.

Mit Schwung kam Witold nun herangeprescht und schaffte es, den Stein zu überspringen. Aber offensichtlich kam er nicht an der rechten Stelle zum Stehen — der Wagen flog über meinen hellen Taschenlampenkreis hinaus und krachte in die Tiefe.

Hatte Witold nicht halten können, oder war es ein neuer Plan gewesen, im letzten Moment abzuspringen?

In abgrundtiefer Entfernung begann es zu knallen und zu brennen. Ich verharrte wie eine Statue und starrte hinunter.

Außer dem lodernden Feuer und bunt explodierenden Päckchen konnte ich in der dunklen Wolfsschlucht nichts erkennen.

Nun war Witold auch tot. »Spring hinunter, Rosmarie!« sagte die Stimme meiner Mutter. Ich trat ganz nah an den Abgrund und beschloß, nicht lange zu fackeln. In der Ferne hörte ich eine Feuerwehrsirene, die mir die Realität der Situation zum Bewußtsein brachte. Ich mußte hier weg.

Ich lief mit der Taschenlampe in der Hand durch den dunklen Waldweg. Beim besten Willen ging es nicht schnell.

Dabei meinte ich dauernd, menschliche Stimmen vor, hinter und neben mir zu hören. Witolds Wagen stand einsam auf dem Parkplatz. Der Schlüssel steckte in der hinteren Klappentür; Witold hatte ihn glatt vergessen, als er das Benzin herausholte.

Wo war der Kanister geblieben? Wahrscheinlich stand er noch im Wald und machte diesen Mord auf den ersten Blick ganz deutlich: Zaun durchgeknipst und Leiche mit Benzin übergossen. Selbst wenn alles völlig verbrannt war, würde man nicht zweifeln, daß es sich um keinen Unfall handelte.

Mechanisch nahm ich die Wagenschlüssel, schloß auf, setzte mich in Witolds Wagen und fuhr los. Zu Fuß hatte ich einen allzu langen Weg nach Hause.

Nach Hause? Ich durfte Witolds Wagen auf keinen Fall in Mannheim vor meine Wohnung stellen. Wo er nun tot war, sollte man ihn auch für den Täter halten, das würde ihm nicht mehr weh tun. Also mußte ich das Auto vor seinem Ladenburger Haus parken. Es mußte so aussehen, als hätte er den Polizisten erschossen und dann die Leiche beseitigt, unter Umständen dabei Selbstmord begangen.

Aber würde er im Falle eines Selbstmordes nicht eher zum Revolver greifen und sich zu Hause erschießen, statt vorher noch die Plackerei im Steinbruch durchzustehen?

Ich fuhr also nach Ladenburg. In Weinheim hörte ich verschiedenartige Sirenen und Martinshörner, aber ich traf merkwürdigerweise keines der zugehörigen Fahrzeuge. Aus Unkenntnis konnte ich nicht in Schleichwege einbiegen und mußte meinen Weg mitten durch die Stadt nehmen.

Anscheinend versuchte man von unten an den brennenden Wagen heranzukommen und war zu meinem Glück gar nicht erst von oben an den Abgrund herangefahren.

In Ladenburg stieg ich bei Witolds Haus aus und ließ die Schlüssel stecken. Zuvor wischte ich sie jedoch gründlich ab, ebenso das Lenkrad und die Schaltung.

Nun stand ich dort auf der Straße und überlegte, wie ich heimkommen sollte. Bahn, Taxi oder Straßenbahn schienen mir viel zu auffällig, einen Wagen anhalten erst recht.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als einen weiten Fußmarsch durch die kühle Herbstnacht zu starten. Wie weit?

Ich wußte es nicht. Die kurze Stecke mit dem Auto würde sich endlos dehnen, wenn ich sie erwandern müßte. Natürlich konnte ich mich irgendwo verstecken und am frühen Morgen eine Straßenbahn besteigen. Da fiel mir ein, daß ich in der Aufregung kein Geld mitgenommen hatte, nur meine Ausweise und die Hausschlüssel steckten in der Manteltasche.

Ich marschierte los. Es war sternklar. Ich ging möglichst im Schatten, drückte mich durch kleine Straßen und vermied es, Geräusche zu machen.

Mör-de-rin! trommelte mein Puls. Zu diesem Rhythmus konnte ich zügig wandern. Warum hatte ich bei der Ausführung meiner Taten immer so viel Glück gehabt? Warum war ich nie verdächtigt oder gar überführt worden?

Wieder half mir der Zufall: Ich fand ein unabgeschlossenes Herrenfahrrad, schwarz, alt und klapprig. Ich zögerte keine Minute, es zu ergreifen. Überdies stand es neben einem Müllcontainer und gehörte am Ende zum Sperrmüll. Als ich mich noch mühte, das Rad zu besteigen, öffnete sich ruckartig der Deckel des Müllcontainers. Ich fiel vor Schreck mit dem Fahrrad zu Boden. Wie der Vogel aus einer Kuckucksuhr steckte ein Stadtstreicher seinen Kopf heraus und schrie:

»Diebe, Mörder!«

Mein Entsetzen war kaum zu schildern, aber gleichzeitig brach der Fluchtinstinkt wieder mächtig durch — weg hier, weg von diesem Unhold, der es sicher mit allen zehn Geboten noch weniger ernst nahm als ich.

Bevor er aus seiner Bettkammer herausgeklettert war, hatte ich es geschafft, mich hochzurappeln, aufzusitzen und unter Aufbietung aller meiner Kräfte halb stehend davonzuradeln.

Nach einigen Minuten mußte ich anhalten und verschnaufen, aber ich war erfüllt von Euphorie: entkommen!

Als ungeübte Radfahrerin fiel es mir nicht leicht, mit diesem Fahrzeug heimzugelangen, zumal es keine Lampe hatte. Aber immerhin hegte ich doch die Hoffnung, nicht die ganze Nacht auf den Füßen verbringen zu müssen.

Es war noch stockdunkel, als ich nach Mannheim kam.

Überall gingen Lichter an. Frühschichtler begaben sich unter die Dusche, Autos waren in Richtung Stadt unterwegs. Das Rad stellte ich auf einen Parkplatz und ging die letzten Minuten zu Fuß. Als ich auch noch die Treppe überwunden und meine Wohnung erreicht hatte, beschloß ich, sie nie mehr zu verlassen. Ins Bett gehen und nie mehr aufstehen. Am besten einschlafen und nie mehr aufwachen.

Kalter, miefiger Rauch schlug mir entgegen, ein Wadenkrampf fuhr mir ins rechte Bein, ein voller Aschenbecher und ein vom Stuhl gerutschter sandfarbener Pullover erinnerten mich an Witold, der noch vor einigen Stunden unversehrt hier gesessen hatte.

Ich öffnete das Fenster, taumelte ins Schlafzimmer und warf mich angekleidet aufs Bett. Ein schwarzer Schatten schoß hervor und stürzte sich auf mich. Es war der verängstigte Dieskau, den ich am Abend nicht mehr ausgeführt hatte. Ins Bett gehen lohnte sich kaum. Ich müßte doch bald aufstehen und ins Büro gehen. Trotzdem blieb ich auf dem Bett liegen, kraulte den Hund an den Ohren und war zu keinen klaren Entschlüssen, geschweige denn Taten mehr fähig.

Ich wollte krank sein, ich wollte im Krankenhaus in einem sterilen weißen Bett hegen, nur wildfremde Menschen sehen, mit niemand sprechen müssen. Keine Verantwortung mehr, keine Pflicht. Ich wünschte mir einen pflanzenhaften Zustand des Verdämmerns.

Aber nach einer halben Stunde stand ich auf und ging unter die Dusche. Ich machte mich bürofein, räumte auf, trank etwas Tee und führte den Dieskau kurz auf den Grünstreifen. Mit der Zeitung in der Hand kam ich wieder nach oben, aber aus Erfahrung wußte ich, daß nächtliche Ereignisse nie am folgenden Morgen veröffentlicht werden, es sei denn, sie seien von weltweiter Bedeutung.

Pünktlich wie stets verließ ich mit dem Hund die aufgeräumte Wohnung und fuhr ins Büro. Diesen Tag durchzustehen würde mir sicher besonders schwerfallen.

Kurz vor der Mittagspause bekam ich einen Anruf von der Polizei, ich sollte mich für ein kurzes Gespräch in meinem Bürozimmer bereithalten. Diesmal kamen sie zu zweit, mit sehr ernstem Gesicht. Ob gestern ein Kollege, ein Kommissar Wernicke, bei mir angerufen habe oder sogar vorbeigekommen sei?

Ich verneinte. Wo ich gewesen sei? Nach Büroschluß sei ich heimgefahren, unterwegs hätte ich allerdings noch etwas eingekauft. Zu Hause hätte ich nach einer kleinen Verschnaufpause gegen Abend einen Hundespaziergang gemacht. Ich wies auf den Dieskau unter meinem Schreibtisch, als ob er als Zeuge aussagen könne.

Ob Herr Engstern mich angerufen oder besucht hätte?

Ich verneinte abermals und sagte, ich hätte ihn zuletzt vor etwa zehn Tagen gesehen. Schließlich fragte ich, so energisch wie es mir noch möglich war, was diese Fragen bedeuteten.

Der eine Polizist, jung und drahtig wie sein toter Kollege, seufzte tief auf. Er sprach abgehackt.

»Morgen werden Sie es ohnehin in der Zeitung lesen. Letzte Nacht ist mein Freund Hermann Wernicke in seinem Wagen verbrannt.«

»Wie ist das passiert?« fragte ich.

»Wenn wir das so genau wüßten, wären wir nicht hier«, erklärte der zweite Beamte, etwas freundlicher, »aber es handelt sich um Mord, das ist sicher. Wernicke war der Lösung dieser ominösen Todesfälle dreier Frauen auf der Spur.

Wahrscheinlich war Engstern der Täter, wenn auch manches noch sehr verworren erscheint. Wir wissen, daß Wernicke zu Engstern wollte, weil er neue Verdachtsaspekte vermutete.

Seitdem wurde er nicht wieder gesehen und erst heute nacht halb verkohlt aus seinem zerquetschten Wagen gezogen.«

Von Witolds Leiche sagten sie nichts. Sollte ich nach ihm fragen?

Ich wagte es nicht.

»Wo ist das denn passiert?« klang neutraler.

»Der Wagen ist bei Weinheim einen Abgrund hinuntergestürzt, zuvor hat man meinen bewußtlosen oder bereits toten Freund mit Benzin übergossen«, sagte anklagend der Jüngere der beiden.

Mein Gesicht war blaß und elend, das wußte ich, aber in Anbetracht dieser Schilderung war das wahrscheinlich angemessen.

Man legte mir noch einmal ans Herz, über alles nachzudenken, was Witold in der letzten Zeit zu mir gesagt hatte, und sofort anzurufen, wenn mir irgendeine Ungereimtheit einfiele.

»Was sagt er denn selbst?« fragte ich harmlos.

Sie wechselten einen Blick.

»Er kann nichts sagen«, meinte der eine.

»Warum?« fragte ich, »ist er geflohen?«

»Er liegt im Sterben«, kam die Antwort, »wahrscheinlich geht es heute noch zu Ende mit ihm, ohne daß er das Bewußtsein wiedererlangt. Die Ärzte geben ihm keine Chance.

Er saß ebenfalls in dem abgestürzten Wagen, ist aber herausgeschleudert worden. Wahrscheinlich wollte er abspringen, und es ist im richtigen Augenblick mißglückt.«

Das Entsetzen stand mir in den Augen.

»Wo ist er denn jetzt?« fragte ich.

»Im Johanniterkrankenhaus, aber Besuch ist indiskutabel.

Man beatmet ihn zwar noch, aber Sie sollten sich keine Hoffnung machen.«

Die Polizisten verabschiedeten sich höflich. Der Chef kam gleich nach ihrem Verschwinden herein, und die Neugierde stand ihm im Gesicht geschrieben.

Ich sagte ihm kurz und bündig, es gebe wieder einen Todesfall in meinem Bekanntenkreis.

»Frau Hirte, am meisten machen Sie mir Sorgen!« rief er bestürzt, »sehen Sie doch mal in den Spiegel, Sie sind ja selbst ein Abbild des Elends. Sie müssen auf der Stelle zum Arzt, das ist ein dienstlicher Befehl! Und danach wünsche ich nicht, daß Sie wieder hier auftauchen. Sie legen sich zu Hause brav ins Bett und tun alles, was der Onkel Doktor sagt. Ich glaube fast, Sie haben es mit Ihrer eisernen Pflichterfüllung übertrieben.

Nach so viel menschlichem Leid hält sich auch kein Übermensch mehr auf den Beinen!«

Ich dankte ihm und packte mein Brötchen wieder ein, nahm Hund und Mantel und verschwand. Ich fuhr wirklich beim Arzt vorbei, sah dort aber, daß erst nachmittags ab vier Sprechstunde war.

Also konnte ich mich noch ein wenig hinlegen.

Aber zuvor mußte das Bad desinfiziert werden. Von meiner Drogerie hatte ich eine Riesenflasche Sagrotan mitgebracht.

Ich hatte dort bemerkt, daß mein Hund diese Nacht Durchfall gehabt hätte. Zwei Stunden putzte ich das Bad, aber danach noch die gesamte Wohnung.

Mein sogenannter Hausarzt, der mich in vielen Jahren nur sehr sporadisch zu Gesicht bekommen hatte, war mit meiner auffälligen Gewichtsabnahme und der Leichenblässe auch nicht einverstanden. Mein gesamter Bauch war gespannt und druckempfindlich, und er ordnete weitere Untersuchungen an, als nächstes für den folgenden Morgen eine Blutentnahme zwecks abklärender Laboruntersuchungen.

Zu Hause legte ich mich ins Bett, der Hund neben mir trauerte, die schmerzliche Brahmsmusik lief vom Band, der Revolver und Witolds Pullover warteten neben mir. Der restliche Tag verlief schwarz und violett, mein Leben lief in düsteren Bildern filmartig ab, mein Kopf war nicht mehr fähig zu denken.

Am nächsten Tag brachte die Zeitung einen längeren Artikel über den Polizistenmord. Der mutmaßliche Täter, der auch für drei andere Straftaten in Frage käme, läge auf der Intensivstation mit schwersten Verletzungen, von denen jede für sich zum Tode führen könne.

Ich fuhr zum Arzt und ließ mir Blut abzapfen, wurde für den nächsten Tag wiederbestellt und für zwei Wochen krankgeschrieben. Ich begab mich völlig erschöpft wieder ins Bett. Nie mehr würde ich wie ein normaler Mensch leben können.

Irgendwann erreichte mich Kittys Anruf. Sie weinte und war kaum zu verstehen.

»Ist er tot?« fragte ich.

»Schlimmer, viel schlimmer«, schluchzte Kitty, »er lebt noch, und falls er leben bleibt, ist es das schrecklichste Schicksal, das ich mir denken kann. Querschnittsgelähmt und hirnverletzt.«

»Ist er bei Bewußtsein?«

»Er war es kurzfristig.«

Ich erschrak fast zu Tode.

»Hat er etwas gesagt?«

»Nein. Gnädigerweise ist er wieder in künstlichem Dämmerschlaf. Falls er durchkommt, wird er ohne Sprache, wahrscheinlich auch ohne Gedächtnis und Verstand, im Rollstuhl dahinvegetieren. Ich komme nicht darüber hinweg.«

»Was meinst du zu den Dingen, die er getan haben soll?« fragte ich Kitty.

»Es ist mir egal, was er getan haben soll«, antwortete sie stolz, »ich würde ihn auch lieben, wenn er ein notorischer Mörder wäre, aber er ist keiner. Im Augenblick lebe ich in der wahnsinnigen Situation, daß ich ihm den Tod als Alternative geradezu wünsche.«

Ihre Worte erschütterten mich, ich weinte nun auch. Kitty war ein guter Mensch und ich ein schlechter, aber was bedeuteten solche Begriffe.

Nach einigen Tagen kam der nächste Schlag: Ich erfuhr, daß ich ein Karzinom hatte und eine möglichst schnelle Operation unumgänglich war.

Wohin mit dem Hund? war nun mein erstes Problem.

Ich schickte die Brosche als Eilpäckchen an Ernst Schröder.

In einem kurzen Brief teilte ich ihm andeutungsweise die Wahrheit mit: Daß ich die Brosche nicht gekauft, sondern von ihrer Besitzerin geschenkt bekommen hätte. Gleichzeitig frage ich ihn, ob er seine Kinder bitten könne, für zwei Wochen einen fremden Hund zu versorgen. Ernst rief sofort an, dankte mir sehr und versprach, noch am gleichen Abend den Hund abzuholen. Er kam mit Annette, die sich gleich auf den Dieskau stürzte und diese Aufgabe mit Freude auf sich nahm.

Als Annette schon im Auto saß, sagte ich leise: »Deine Tochter hat eine Schwester, von der du nichts weißt. Du kannst in Ruhe darüber nachdenken, ob du meine Worte zur Kenntnis nehmen willst oder weiterhin davon keine Ahnung hast.«

Ernst drückte mir beide Hände und konnte nichts sagen.

Ich hatte eine grauenhafte Angst vor Narkose und Operation.

Früher hatte ich nie verstanden, wenn meine Bekannten sich vor einem Arztbesuch drückten und bei einer notwendigen Operation in Panik gerieten. Ich hatte sogar ausdrücklich betont: »Für die Ärzte ist das eine reine Routine-Angelegenheit; täglich machen sie solche Schneiderarbeit wie am Fließband — da kann einfach nichts schiefgehen.«

Jetzt, wo es um mich persönlich ging, sah die Fließbandarbeit anders aus. Immer wieder las man ja von Patienten, die aus der Narkose nicht mehr aufwachten, aber dank unmenschlicher Technik als lebender Leichnam noch jahrelang ein Bett beanspruchten. Wäre es eine Lösung für mich, überhaupt nicht mehr aufzuwachen?

Im Krankenhaus wies man mich in ein Zweibettzimmer ein; sämtliche vorherigen Untersuchungen wurden noch einmal wiederholt. Im Nachbarbett lag eine schweigsame Person mittleren Alters, die emsig an einem schockrosa Hütchen für Toilettenpapier häkelte und erst auf zweimaliges Fragen antwortete, sie würde morgen entlassen.

Am Abend vor der Operation kam ein griechischer Anästhesist, um meinen Blutdruck zu kontrollieren, meine Laborwerte, EKG und Thoraxaufnahme zu studieren und mich eingehend nach Familien- und eigenen Krankheiten sowie Allergien zu befragen.

»Haben Sie Angst?« fragte er.

Ich nickte.

»Viele Menschen fürchten sich vor der Narkose, weil sie sich einbilden, beim Aufwachen tot zu sein«, scherzte er (ich fand es überhaupt nicht lustig), »aber ich könnte Ihnen eine Epidural-Anästhesie anbieten, bei der Sie nur in der unteren Hälfte betäubt werden.«

»Um Gottes willen, dann sehe ich ja die rohen Gesichter der Chirurgen und höre, wie sie über Fußball reden und ihre Messer wetzen!«

»Sie würden durch sedierende Mittel in einen schläfrigen Zustand versetzt und die Augen schließen. Für die Ohren gibt es Kopfhörer. Ich habe eine Kassette mit wunderbarer Sirtaki-Musik.«

Gern hätte ich gesagt, er solle sich den Sirtaki an seine grüne Duschhaube stecken. Aber ich blieb höflich und bat ihn, mir eine anständige Feld-Wald-Wiesen-Narkose zu verpassen, damit ich nicht das geringste von der Prozedur mitkriegen könnte.

Anschließend klärte mich ein Chirurg über die Operationsmethoden und -risiken auf. Ich nickte sachverständig, hatte hinterher aber das Gefühl, in meiner großen Aufregung kein Wort verstanden zu haben.

In dieser Nacht schlief ich seltsamerweise gut, eingewiegt durch ein Schlafmittel. Die Frau neben mir wurde in der Frühe von einem verbitterten Mann abgeholt, der es nicht für nötig hielt, mir guten Morgen zu wünschen.

Noch bevor man mich in den OP-Saal schaffte, wurde das ausgewechselte Nebenbett neu belegt. Eine weißhaarige Alte preßte mit schmerzhaftem Druck meine Hand.

»Ich bin die neue Stubenkameradin!«

Meine Kameradin zog einen Schlafanzug aus lila Frottee an und begann ihre Krankenhauszeit mit Purzelbaum, Kerze und Brücke auf der schmalen Bettstatt. Ich erfuhr, daß sie in ihrer Jugend Meisterin auf dem Rhönrad gewesen war. Als sie gerade anfing, mir aus einem Körnerbuch Rezepte für makrobiotische Gerichte vorzulesen, wurde ich abgeholt.

Ich erwachte erst Stunden später, eine Infusion am Arm und eine Krankenschwester an der Seite. Ich lebte noch.

Irgendwann aber setzten Schmerzen ein, langsam dämmerte ich aus Schlaf und Traum hervor und begriff, daß mir Schreckliches angetan worden war. An der Wand vor mir hingen Dürers betende Hände und van Goghs Zugbrücke, von einer passionierten Oberschwester als Hoffnungsträger aufgehängt.

Die Kameradin wurde am nächsten Tag operiert. Als es uns beiden besser ging und sie mir schließlich aus dem Tagebuch einer bayrischen Rutengängerin vorlas, wünschte ich mir eine neue Nachbarin.

Das war einer der wenigen Wünsche, die in Erfüllung gingen, und auch nur, weil ich besonders lange in der Klinik lag.

Die Neue war dachshaarig und wie ein kleines Mädchen ganz in einer einzigen Farbe angezogen: grün die Socken, grün Rock und Pullover, grün Schuhe und Schal. Als die Grüne fertig im moosfarbenen Nachthemd hingestreckt war, kam ihr Mann herein, der im Flur gewartet hatte. Ich hörte wieder einmal vertrauten Berliner Jargon.

»Ick hab’ dir’n Foto von der Kleenen mitjebracht«, sagte er zärtlich und stellte ein Bild im Silberrahmen auf den Nachttisch. Als er weg war, linste ich hinüber. Es war das Foto einer Schäferhündin.

Auf die Dauer entpuppte sich die Hundemutter als gute Anrainerin. Gelegentlich trank sie aus einer eingeschmuggelten Schnapsflasche und bot mir stets herzlich davon an, nachdem sie das Mundstück extra mit dem Ärmel abgewischt hatte.

»Se ham mir ausjenommen wie ’ne Weihnachtsjans«, klagte sie. Wenn sie kalte Füße hatte, saß sie unten auf meinem Bett und steckte vertraulich ihre Eisklumpen unter meine Decke.

Ich hätte mir bei jedem anderen solche Aufdringlichkeit verbeten, aber bei der Berlinerin wirkte es ganz natürlich, und ich schämte mich meiner Starrheit. Sie hatte einen starken Drang nach Körperkontakt und faßte mich beim Reden gern an.

Vielleicht durfte sie sich das alles erlauben, weil sie mich einmal spontan in die Arme genommen hatte. Sie war wohl nachts von meinem leisen Weinen wachgeworden. Auf einmal wiegte sie mich wie eine Mutter hin und her und sagte überzeugend: »Allet wird jut!«

Aber es wurde nichts mehr gut. Niemand besuchte mich.

Vom Büro kam eine vorgedruckte Karte: »Mit den besten Wünschen zur baldigen Genesung«, darunter hatten meine Kollegen unterschrieben. Der Chef schickte immerhin einen teuren Blumenstrauß und eine handgeschriebene Karte, auf der er seinen Besuch ankündigte. Aber er kam nie.

Zwei Tage bevor ich entlassen wurde, besuchte mich Frau Römer, frisch aus Amerika zurück.

»Sie machen mir ja Sachen!« rief sie, »ich kam gerade vom Flugplatz, las Ihren Brief und bin auf der Stelle hergekommen.

Noch nichts ist ausgepackt. Und wo ist, um Gottes willen, der Dieskau?«

Ich berichtete von meiner plötzlichen beziehungsweise lang verdrängten Krankheit.

»Den Dieskau habe ich zu Freunden gegeben. Ich werde dort anrufen, damit man Ihnen den Hund zurückbringt.«

Frau Römer beteuerte, sie könne den Dieskau selbst abholen, aber ich gab ihr weder Ernst Schröders Namen und Adresse, noch sagte ich ein Wort über seine Identität. In diese Angelegenheit wollte ich mich nicht einmischen. Ich hörte mir lange Frau Römers Reisebericht an.

»Denken Sie mal, ich habe mir angewöhnt, Eiswasser zum Essen zu trinken! Und wie finden Sie meine neue Frisur?«

Frau Römer, deren falbes Haar schon lange von vielen weißen Strähnen unterwandert wurde, hatte sich einem amerikanischen Meisterfrisör anvertraut, der das Beige rausgezwungen und die neue schneeweiße Pracht mit einem bläulichen Schatten unterlegt hatte.

»Würde Ihnen auch stehen«, sagte Frau Römer.

Sie blieb lange, und es tat mir unendlich gut.

Als sie fort war, rief ich Ernst Schröder an. Er entschuldigte sich sofort — tief beschämt —, daß er mich nicht besucht hatte.

Zum Glück führte er keine Ausreden an.

Er sprach von Witold, der immer noch schwer verletzt und ohne Sprache in der Klinik lag. Er sprach auch von Problemen mit den Kindern, die durch den Tod ihrer Mutter sehr schwierig geworden waren. Einzig dem Hund gehe es gut.

Nun berichtete ich, daß ich bald entlassen werde und daß Frau Römer wieder im Lande sei und den Hund zurückbegehre.

Ernst Schröder seufzte tief.

»Ich werde ihn heute abend hinbringen und mit ihr reden.

Wie sieht sie eigentlich aus, ich kann mich nur an ein zartes, rehäugiges Wesen erinnern?«

»Sie ist brustamputiert und hat blaue Haare«, sagte ich.

»Ach ja?« Ernst schwieg. Dann gestand er: »Dafür habe ich fast eine Glatze und einen Bierbauch.«

Später berichtete mir Frau Römer, daß er noch an jenem Abend bei ihr geschellt habe. Beide erkannten sich nicht. Sie hatte ihren Hund begrüßt und den fremden Mann kaum angeblickt. Als er seinen Namen nannte, sah sie befremdet zu ihm auf. Dann wurde sie blaß, rot, fleckig und scheckig und wieder blaß. Schließlich bat sie ihn in ihre Wohnung, und sie sprachen sich lange aus. Aber eine neue Liebe brach nicht aus.

Schließlich wurde auch ich nach Hause entlassen, aber durch die Operation hatte sich mein Leben auf einschneidende Weise verändert. Man hatte mir einen künstlichen Darmausgang angelegt, und trotz der ständig verbesserten hygienischen Hilfstechniken kam ich mir wie eine Aussätzige vor, die die Gesellschaft von Menschen meiden sollte. Wie Frau Römer bekam auch ich eine Rente auf Zeit, aber ich hatte wenig Hoffnung, je wieder in meinem Büro arbeiten zu können. Ich lebte zurückgezogen und verließ meine Wohnung nur, um das Nötigste einzukaufen und zu den Nachbestrahlungen und ständigen Kontrolluntersuchungen in die Klinik zu fahren.

Gelegentlich griff ich zum Telefonhörer und sprach mit Frau Römer, einmal rief ich Kitty an.

Von der immer noch heftig um Witold Trauernden erfuhr ich, daß die Polizei den Fall Engstern abgeschlossen hatte. Mit vielen Fragezeichen versehen, wurde Witold als der einzig Schuldige bezeichnet. Kitty hatte erwogen, den Fall von einem Detektiv noch einmal gründlich durchleuchten zu lassen, aber sie hatte es wieder verworfen.

»Es nützt nichts mehr, wenn man ihn freispricht«, überlegte sie. »Seine Söhne? Die haben das Haus verkauft und Heidelberg verlassen, der eine studiert in Paris, der andere reist in Südamerika herum. Sollen sie sich doch selbst um alles kümmern… Ich weiß noch nicht einmal, wie ich sie erreichen kann, wenn Rainer stirbt.«

Aber Witold starb nicht. Lange hatte man ihn als lebenden Leichnam an Schläuche und Maschinen angeschlossen; aber die Hoffnung, daß noch ein Rest seiner früheren Persönlichkeit wiederzuerwecken sei und er möglicherweise mehr als ein rein vegetatives Dasein führen könnte, war gleich Null. Nach Rücksprache mit den Söhnen, die entgegen Kittys Aussage immer mal wieder auftauchten und ihren Vater besuchten, stellte man nach Monaten das Beatmungsgerät ab. Wider Erwarten setzte die natürliche Atmung ein, und Witold wurde in ein Rehabilitationszentrum entlassen, von dort schließlich in ein Pflegeheim.

Als ich das erste Mal zu ihm fuhr, überlegte ich wie in jenem verliebten Sommer, was ich anziehen sollte. Würde er sich an mein blaugeblümtes Sommerkleid erinnern? Aber mir war nicht mehr nach weiblich Verspieltem zumute. Ich kleidete mich sehr unauffällig, sehr dezent. Ich war eine alternde Frau und sah auch so aus; vielleicht sollte ich für meine grauen Haare ernstlich Frau Römers Altweiberblau in Betracht ziehen.

Ich besuche Witold zweimal in der Woche und fahre ihn im Rollstuhl spazieren. Er starrt mich an, ohne daß man sagen könnte, ob in seinem Blick Freude, Erkennen oder abgrundtiefer Haß liegt. Wieweit kann er sich erinnern? Kein Arzt vermag es zu sagen. Die Krankenschwestern behaupten, er freue sich über meine Besuche. Jeden Dienstag und Samstag sagen sie: »Rainer, heute kommt die Rosi! Heute ist Wandertag!«

Er verstehe diese Worte durchaus. Zu mir sagt seine Pflegerin immer wieder bewundernd: »Wirklich, Frau Hirte, es ist so nett von Ihnen, sich um den armen Kerl zu kümmern! Sie haben ein Herz aus Gold!«

Man zieht ihm die Windjacke über, eine starke Schwester hievt ihn in den Rollstuhl. Ich knie vor ihm und mache ihm den Reißverschluß zu. Dann schiebe ich mit ihm los. Manchmal erzähle ich ihm, daß ich ihn einmal sehr geliebt habe.

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