DAS ELFTE KAPITEL

Mäxchen im Maiglöckchentopf / Frau Holzer muß ein paarmal niesen / Beim Facharzt für Unzufriedene / Der Kleine Mann wächst und wird ein Riese / Er sieht sich im Spiegel / Der zweite Zaubertrank / Ein völlig normaler Knabe.


Inzwischen saß also der Kleine Mann auf dem Balkon in einem Blumentopf. Es war ein Topf aus weißem Steingut. Der Hotelgärtner hatte am Morgen zwanzig Maiglöckchen eingepflanzt, weil er wußte, daß sie Mäxchens Lieblingsblumen waren.

„Gibt es ein Gedicht über den Maiglöckchenduft?“ hatte der Junge früher einmal gefragt. Aber weder der Jokus noch der Gärtner kannten eines.

„Wahrscheinlich wäre es so schwierig wie der vierfache Salto“, hatte Jokus vermutet.

„Den vierfachen Salto gibt’s doch gar nicht!“ hatte der Kleine Mann gerufen.

„Eben“, hatte der Jokus geantwortet. „Das ist es ja.“

Nun saß der Kleine Mann, wie gesagt, im Blumentopf, lehnte an einem der zartgrünen Stengel, blickte in die weißen Maiglöckchenwipfel empor, schnupperte den sogar für Dichter unbeschreiblichen Duft und dachte über das Leben nach. Man tut das manchmal. Auch als gesunder Junge. Auch als Kleiner Mann.

Er dachte an seine Eltern und den Eiffelturm, an den Jokus und Fräulein Marzipan, an die vertauschten Fräcke und den Clown Fernando, an Galoppinskis zerbrochene Peitsche und Herrn Magers Hosenträger, an den lauten Zirkus und die leisen Maiglöckchen und . und . und . Und dann schlief er ein und träumte.

Er lief, klein wie er war, im Traum durch eine endlos lange Geschäftsstraße und wußte sich vor lauter Schuhen und Stiefeln nicht zu retten. Es war lebensgefährlich. Die Passanten hatten es eilig, sahen ihn nicht, trabten mit großen Schritten an ihm vorbei und über ihn weg, und er sprang aus Angst vor ihren Sohlen und Absätzen in wildem Zickzack übers Pflaster. Manchmal preßte er sich dicht an die Hauswand, um ein bißchen zu verschnaufen. Dann lief er weiter. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.

Wenn man ihn zertreten hätte, wäre es keinem Menschen aufgefallen. Und der Jokus hätte sein Mäxchen vergeblich gesucht. Vielleicht wäre ein Straßenkehrer mit dem Besen gekommen und hätte ihn mit Zeitungspapier und Zigarettenstummeln auf die Schaufel gefegt und in die Müllkarre geworfen. Welch klägliches und frühes Ende für einen jungen und strebsamen Artisten!

Da! Schon wieder kamen ein Paar schwere Stiefel des Wegs. Im letzten Moment konnte der Kleine Mann beiseite springen! Doch dadurch wäre er fast unter den spitzen Absatz eines Damenschuhs geraten. In seiner Verzweiflung machte er einen Luftsprung und kriegte den Saum eines Mantels zu packen. Er kletterte den Mantel hoch bis zur Schulter hinauf und setzte sich auf einen breiten Kragen.

Der Kragen gehörte zu einem Flauschmantel. Und der Flauschmantel gehörte einer Frau. Sie bemerkte nicht, daß sie nicht mehr allein war, und so konnte Mäxchen sie in Ruhe betrachten. Es war eine ältere Frau. Ihr Gesicht sah gemütlich aus. Sie schien ein Marktnetz zu tragen und allerlei eingekauft zu haben. Manchmal blieb sie vor einem der Schaufenster stehen und musterte die Auslagen. Einmal mußte sie niesen und sagte laut zu sich selber: „Gesundheit, Frau Holzer!“ Mäxchen hätte beinahe gelacht.

Als sie vor einem Wäschegeschäft stehenblieb, um die Preise der Tischtücher, Handtücher, Taschentücher, Frottiertücher und Servietten zu begutachten, hatte der Kleine Mann Langeweile und las deshalb die Schilder an der Haustür neben dem Schaufenster. Da gab es eine Waschanstalt für schmutzige Kinderhände, ein Erholungsheim für halbtote Lebkuchen und das Schild eines Arztes, das der Junge atemlos anstarrte. War denn das zu glauben? Auf dem Schild stand:

In diesem Augenblick nieste die Frau noch einmal. „Es wird schönes Wetter“, meinte sie, „die Schöpse niesen!“ Und schon wieder hielt sie seufzend die Luft an, und wieder machte sie: „Hatschi!“

Da sagte der Kleine Mann: „Gesundheit, Frau Holzer!“ „Danke vielmals“, antwortete sie fröhlich. Dann stutzte sie, drehte sich nach allen Seiten um und fragte: „Wer hat mir denn da eben Gesundheit gewünscht?“

„Ich!“ rief Mäxchen fidel. „Aber Sie können mich nicht sehen, weil ich nur fünf Zentimeter groß bin und auf Ihrem Mantelkragen sitze.“

„Fall bloß nicht runter!“ sagte sie besorgt und trat dicht an das spiegelnde Schaufenster heran. „Ich glaube, jetzt seh ich dich. Junge, Junge, bist du aber winzig! So etwas gibt’s nicht alle Tage! Willst du mit mir nach Hause kommen? Hast du Hunger? Bist du müde? Tut dir der Bauch weh? Soll ich dir bei mir vielleicht eine Wärmflasche machen?“

„Nein“, erklärte Mäxchen. „Sie sind furchtbar nett, aber mir fehlt nichts. Ich möchte nur, daß Sie mich nebenan in die erste Etage tragen und links bei dem Doktor Wachsmuth klingeln. Klingelknöpfe sind für mich zu hoch.“

„Wenn’s weiter nichts ist!“ meinte Frau Holzer resolut, marschierte in den Hausflur, stapfte treppauf und drückte im ersten Stock auf die Klingel. Dabei las sie das Schild. „Was es so alles gibt“, sagte sie. „Ein Facharzt für Unzufriedene?“ Sie lachte. „Der würde an mir nicht reich! Von mir aus könnte der Mann ...“

Doch bevor sie mitteilen konnte, was der Medizinalrat von ihr aus könne, öffnete sich die Tür, und sie erblickten einen alten Herrn im weißen Arztkittel und mit ungeheuer viel Bart im Gesicht. Er musterte Frau Holzer kurz vom Scheitel bis zur

Sohle und schüttelte den Kopf. „Sie haben sich wohl in der Tür geirrt?“ fragte er finster. „Sie sehen so zufrieden aus, daß mir sämtliche Hühneraugen weh tun.“

Sie lachte ihm mitten ins Gesicht. „Herrje, sind Sie ein Giftpilz!“ rief sie. „Sie sollten mal zum Arzt gehen! Beispielsweise zum Doktor Wachsmuth!“

„Wäre zwecklos“, brummte er. „Ich kann allen Leuten helfen, nur mir selber nicht.“

„So sind die Ärzte“, meinte Frau Holzer und wollte weiterreden. Doch sie mußte wieder niesen.

„Gesundheit, Frau Holzer!“ sagte der Kleine Mann.

Da machte der Medizinalrat Stielaugen. „Teufel, Teufel“, knurrte er, „das ist ein Patient nach meinem Geschmack!“ Und schon hatte er Mäxchen gepackt und Frau Holzer die Tür vor der Nase zugeschlagen.

„Warum bist du unzufrieden?“ fragte der Arzt, als sie im Ordinationszimmer waren.

„Ich möchte größer sein“, gab Mäxchen zur Antwort.

„Wie groß?“

„Das weiß ich nicht.“

„Es ist immer dasselbe Theater“, knurrte der Medizinalrat. „Jeder weiß, was er nicht will. Aber was er statt dessen will, das weiß keiner.“ Er holte mehrere bunte Arzneifläschchen aus dem Glasschrank und ergriff einen Löffel. „Wie wär’s mit zwei Meter fünfzig?“ fragte er trocken. „Noch größer kann ich dich nicht machen, sonst stößt du an die Zimmerdecke. Nun? Heraus mit der Sprache!“

„Zwei Meter fünfzig?“ Der Kleine Mann blickte ängstlich zum Kronleuchter hinauf. „Und wenn es ... wenn es mir ... wenn es uns nachher nicht gefällt?“

„Dann geb ich dir ein Gegenmittel, und du wirst wieder kleiner.“

„Also gut“, sagte Mäxchen mit zitternder Stimme. „Probieren wir’s bitte mit zwei Meter fünfzig!“

Der Medizinalrat brummte allerlei in seinen struppigen Bart, schwenkte aus einer grünen Flasche ein paar Tropfen auf den Löffel und befahl: „Mund auf!“

Der Kleine Mann sperrte den Mund weit auf und spürte eine brennende Flüssigkeit auf der Zunge.

„Hinunterschlucken!“

Der Kleine Mann schluckte den grünen Saft hinunter. Er brannte in der Kehle und rann wie Feuer bis in den Magen.

Der Struwwelbart blickte den Jungen mit funkelnden Augen an und murmelte: „Gleich geht’s los!“ Und er hatte recht.

Plötzlich donnerte es in Mäxchens Ohren. Es zerrte an seinen Armen und Beinen. Die Rippen schmerzten. Die Haare und die Kopfhaut taten weh. Es knackte in den Kniescheiben. Vor den Augen drehten sich Kreise, so bunt wie der Regenbogen, und hundert silberne und goldene Kugeln und Sterne tanzten mittendrin. Er konnte mit knapper Not seine Hände erkennen. Sie wuchsen und wurden immer länger und breiter. Das sollten seine Hände sein?

Schon sah er verschwommen, daß der Glasschrank kleiner wurde, und der Wandkalender senkte sich tiefer und tiefer. Dann klirrte es ein bißchen, weil er mit der Nasenspitze an den Kronleuchter gestoßen war. Und schließlich gab es einen Ruck wie in einem Fahrstuhl, der zu rasch gestoppt wird!

Die bunten Räder vor den Augen drehten sich langsamer. Die Kugeln und Sterne hörten mit ihrem Tanz auf. In den Ohren verebbte der Donner. Die Haare taten nicht länger weh. Die Glieder schmerzten nicht mehr. Und die Stimme des Medizinalrates sagte befriedigt: „Zwei Meter fünfzig.“ Aber wo war er denn, der Doktor Struwwelbart mit dem griesgrämigen Gesicht? Mäxchen blickte sich suchend um. Er hatte die Gardinenstange dicht vor der Nase. Der Kronleuchter, der noch ein wenig klirrte und schwankte, hing in Mäxchens Brusthöhe. Oben auf dem Schrank lag fingerdicker Staub. Und Staub lag auch auf der weißlackierten Holzleiste, die einen halben Meter unter der Zimmerdecke die gelbe Tapete abschloß. In der Ecke hoch über der Tür krabbelte eine schwarze Spinne in ihrem Netz. Mäxchen wich entsetzt zurück. Dabei stieß er mit der Hand gegen ein hohes Bücherregal, und aus der obersten Reihe fiel ein Buch zur Erde.

Der Doktor Struwwelbart lachte. Es klang, als meckere ein alter Ziegenbock. Dann rief er spöttisch: „Ist es denn die Möglichkeit? Ich verwandle ihn in einen Riesen, und der Riese erschrickt vor einer Spinne!“

Mäxchen blickte wütend zu dem Schreibtisch hinunter. Der Medizinalrat meckerte noch immer. „Warum lachen Sie mich aus?“ fragte der Kleine Mann, der plötzlich so groß war. „Schließlich bin ich kein gelernter Riese, sondern war bis vor kurzem nur fünf Zentimeter lang! Haben Sie noch nie gezittert?“

„Nein“, sagte der Struwwelbart. „Niemals. Ich habe Angst nicht nötig. Wenn mich ein Löwe anspränge, verhexte ich ihn noch im Sprung in einen Buchfinken oder in einen Zitronenfalter.“

„Dann sind Sie gar kein Medizinalrat?“

„Nein. Ich bin auch kein Zauberkünstler wie dein Jokus.“ „Sondern?“

„Ich bin ein richtiger und ganz echter Zauberer.“

„Oha“, flüsterte Mäxchen. Er hielt sich vor Schreck am Schrank fest. Und weil der Schrank wacklig war, zitterten beide, der Schrank und der Riese Max.

„Setz dich auf den Stuhl, damit du in den Spiegel schauen kannst!“ befahl der Zauberer. „Du weißt ja noch gar nicht, wie du jetzt aussiehst.“

Mäxchen nahm Platz, blinzelte in den Spiegel, zuckte zusammen und rief außer sich: „Um alles in der Welt! Das bin ich? Das soll ich sein?“ Er hielt entsetzt die Hände vor die Augen.

„Ich finde dich recht passabel“, bemerkte der Zauberer.

„Aber deinen eignen Geschmack, den scheinen wir nicht getroffen zu haben.“

Mäxchen schüttelte den Kopf wie wild und murmelte verzweifelt: „Ich finde mich abscheulich. Eine Giraffe ist nichts dagegen!“

„Wie groß möchtest du denn statt dessen sein?“ fragte der Zauberer. „Aber überleg dir’s diesmal gründlicher!“

„Ich wußte es von Anfang an“, sagte Mäxchen zerknirscht. „Doch dann packte mich die Neugierde, und jetzt könnte ich mich links und rechts ohrfeigen.“

„Wie groß willst du sein?“ fragte der Struwwelbart energisch. „Rede nicht um den heißen Brei herum!“

„Ach“, seufzte Mäxchen, „ach, Herr Zauberer - ich möchte so groß sein wie jeder normale Junge in meinem Alter! Nicht größer und nicht kleiner und nicht dicker und nicht dünner und keine Sehenswürdigkeit wie eine seltene Briefmarke oder ein Kamel mit drei Höckern und nicht frecher und nicht ängstlicher und nicht dümmer oder gescheiter und .“

„Na schön“, knurrte der Zauberer und griff nach einer roten Flasche und dem Löffel. „Ein ganz normaler Bengel willst du werden? Nichts ist leichter. Sperr den Mund auf!“

Mäxchen, der zweiundeinenhalben Meter große Riese, sperrte brav den Mund auf und schluckte den dicken roten Saft. Er leckte sogar den Löffel ab.

Und schon sauste und donnerte es in seinen Ohren. Der Kopf tat weh. Die Rippen und die Gelenke zwickten und krachten. Das Herz klopfte. Die bunten Kreise wirbelten vor seinen Augen wie ein Feuerwerk.

Und dann wurde es still.

„Schau in den Spiegel!“ befahl der Zauberer.

Mäxchen traute sich kaum. Er hob die Lider nur ein paar Millimeter. Doch dann riß er die Augen weit auf, sprang vom Stuhl hoch und warf mit einem Jubelschrei die Arme in die Luft. „Ja!“ schrie er aus Leibeskräften. „Ja! Ja! Ja!“

Und im Spiegel hatte ein Junge die Arme in die Luft geworfen. Ein hübscher Junge von zwölf oder dreizehn Jahren. Mäxchen lief zum Spiegel hin und schlug mit beiden Händen gegen das Glas, als wolle er das Spiegelbild umarmen. „Das bin ich?“ rief Mäxchen.

„Das bist du“, sagte der Zauberer krächzend und lachte. „Das ist Max Pichelsteiner, ein völlig normaler Knabe von fast dreizehn Jahren.“

„Ich bin ja so glücklich!“ sagte Mäxchen leise.

„Hoffentlich bleibt’s dabei“, meinte der Medizinalrat. „Und nun schau, daß du weiterkommst!“

„Wie soll ich Ihnen danken?“

Der Zauberer stand auf und zeigte zur Tür. „Geh weiter und danke mir nicht!“

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