Aufregung im Hotel / Der falsche Etagenkellner / Es riecht nach Krankenhaus / Kriminalkommissar Steinbeiß erscheint / Mäxchens Erwachen / Eine wichtige Durchsage im Rundfunk / Otto und Bernhard / Der Kleine Mann wünscht ein Taxi, und Otto kriegt einen Lachanfall.
Es konnte sich nur um Menschenraub handeln. Doch wer hatte Mäxchen geraubt? Und warum hatte er’s getan? Noch dazu mit allem Vorbedacht? Denn er hatte ja den Kleinen Mann mit der Puppe ausgetauscht, damit man die Entführung nicht sofort entdecken solle!
Eines der Stubenmädchen hatte einen Kellner aus dem Zimmer herauskommen sehen. Nein, sie habe ihn nicht gekannt, aber gedacht, er sei zur Aushilfe aus einem anderen Stockwerk gerufen worden. Doch weder die Etagenchefs noch das Restaurant hatten dergleichen angeordnet.
„Vermutlich war es also überhaupt kein Kellner“, sagte der Hoteldirektor, „sondern ein Verbrecher, der sich eine weiße Jacke übergezogen hatte.“
Das Stubenmädchen fragte: „Warum hat denn der Junge dann nicht um Hilfe geschrien? Ich hätte es todsicher gehört.“
„Man hat ihn betäubt“, erklärte der Jokus. „Riechen Sie nichts?“
Die beiden anderen steckten die Nasen in die Luft und schnupperten. Der Hoteldirektor nickte. „Stimmt, Herr Professor. Es riecht nach Krankenhaus. Chloroform?“
„Äther“, antwortete der Jokus. Er war am Verzweifeln.
Auch Kriminalkommissar Steinbeiß, der die Untersuchung leitete, konnte nichts Tröstliches berichten. Er hielt, als er ins Zimmer trat, eine weiße Kellnerjacke in der Hand. „Wir fanden sie in einer der Mülltonnen, die im Hof stehen. Der Mann ist wahrscheinlich durch den Lieferanteneingang entwischt, noch ehe abgesperrt wurde.“
„Sonst?“ fragte der Hoteldirektor. „Irgendein Fingerzeig?“
„Nichts“, sagte Kommissar Steinbeiß. „Ich habe meine Beamten wieder fortgeschickt. Sie haben eine Stunde lang jeden Menschen, der das Hotel verlassen wollte, nach Streichholzschachteln abgesucht. Es war zwecklos. In keiner Schachtel befand sich der Kleine Mann. In allen Schachteln steckten Streichhölzer.“
„Der Flugplatz, die Bahnhöfe, die großen Ausfallstraßen?“ fragte der Jokus.
„Wir tun, was wir können“, antwortete Steinbeiß. „Viel
Hoffnung habe ich nicht. Eher findet man die sprichwörtliche Stecknadel im Heuschober.“
„Der Rundfunk?“
„Gibt jede halbe Stunde unsere Suchmeldung durch. Auch die von Ihnen ausgesetzte Belohnung von 20 000 Mark wird regelmäßig bekanntgegeben.“
Der Jokus trat auf den Balkon und blickte zum Himmel hinauf. Doch auch dort oben konnte er sein Mäxchen nicht entdecken. Nach einer Weile drehte er sich um und sagte: „Ich möchte die Belohnung erhöhen. Wer uns den entscheidenden Hinweis gibt, erhält von mir 50 000 Mark.“
„Der Rundfunk wird umgehend verständigt“, meinte der Kommissar. „Vielleicht nützt es. Wenn es sich um eine mehrköpfige Bande handelt, könnte einer der Kidnapper singen. 50 000 Mark sind kein Pappenstiel.“
„Warum denn singen?“ fragte das Stubenmädchen. „Für 50 000 Mark singen? Und was hätten wir davon?“
Der Kommissar winkte ungeduldig ab. „Singen ist ein Fachausdruck und bedeutet soviel wie verraten.“
„Ich verstehe das Ganze nicht“, sagte der Hoteldirektor. „Was, um alles in der Welt, will man mit einem geraubten Jungen anfangen, der fünf Zentimeter groß ist und so bekannt wie Chaplin und Churchill? Man kann ihn an keinen anderen Zirkus verkaufen. Man kann ihn nicht einmal privat herumzeigen. Nicht eine Minute lang! Im Handumdrehen wäre die Polizei da.“
Das Stubenmädchen machte ein geheimnisvolles Gesicht. „Vielleicht will man den Herrn Professor erpressen?“ flüsterte sie. „Vielleicht gibt man ihm Mäxchen erst zurück, wenn er nachts ein Paket mit furchtbar viel Geld in einen hohlen Baum gesteckt hat? So was soll vorkommen.“
Der Hoteldirektor zuckte die Achseln. „Dann müßte die Bande aber doch anrufen oder einen Eilbrief schicken!“
„Oder es sind ganz einfach ein paar Verrückte“, fuhr das Stubenmädchen eifrig fort. „Das gibt es nämlich auch. Dann ist man völlig machtlos.“
Wer weiß, was sie noch alles aufs Tapet gebracht hätte, wenn nicht plötzlich Rosa Marzipan ins Zimmer gestürzt und dem Professor aufschluchzend und mit den Worten „Mein armer Jokus!“ um den Hals gefallen wäre.
Hinter ihr erschien, gemessenen Schrittes, Herr Direktor Brausewetter. Er trug den Zylinder in der Hand und an den Händen, wie immer außer im Bett, Glacehandschuhe. Ihre Farbe war heute mittelgrau. Schwarze Handschuhe zog er nur bei Begräbnissen an und weiße nur bei fröhlichen und festlichen Anlässen. In Handschuhfarben war er äußerst wählerisch.
„Lieber Herr Professor“, erklärte er, „wir sind tief bestürzt, und ich soll Ihnen die Anteilnahme aller Kollegen übermitteln. In der Betriebsversammlung wurde vor zehn Minuten der einstimmige Beschluß gefaßt, nicht aufzutreten, ehe der Kleine Mann wieder in unserer Mitte weilt. Bis dahin bleibt der Zirkus Stilke geschlossen.“
„Soll das helfen?“ fragte das Stubenmädchen.
Direktor Brausewetter blickte sie schief an. „Zunächst einmal ist es ein sichtbares Zeichen der Freundschaft und der Solidarität, meine Liebe!“
„Und vielleicht hilft es sogar“, meinte Kommissar Steinbeiß. „Es erhöht die allgemeine Aufmerksamkeit.“
Rosa Marzipan schüttelte die Locken. „Hier kann nur einer helfen.“
Der Hoteldirektor machte große Augen. „Wer denn?“
„Du hast ganz recht“, sagte der Jokus zu Rosa. „Er ist unsre einzige Hoffnung.“
„Wer denn?“ wiederholte der Hoteldirektor.
Das Marzipanfräulein sagte nur: „Mäxchen selber!“
Als der Kleine Mann zu sich kam, brummte ihm der Kopf. Er lag zwar in seiner Streichholzschachtel. Aber die Lampe an der Decke kannte er nicht. Wo war er eigentlich?
Aus einem Radioapparat tönte Tanzmusik. Blauer Tabakrauch kräuselte sich in der Luft. Und plötzlich sagte eine mürrische Männerstimme: „Otto, sieh doch mal nach, ob der Zwerg endlich aufgewacht ist.“ Weil sich nichts rührte, fuhr die Stimme ärgerlich fort: „Ist es dir lieber, wenn ich dir ’ne schriftliche Einladung schicke?“
„Du bist ein viel zu hastiger Typ“, antwortete eine andere Stimme gemütlich. „Das kann nicht gesund sein, Bernhard. Denk an dein Herz!“ Doch dann wurde ein Stuhl gerückt. Es stand jemand schwerfällig auf und kam langsam näher. Wahrscheinlich war es der Mann, der Otto hieß.
Mäxchen schloß die Augen, atmete ruhig und spürte, wie sich jemand über ihn beugte. Otto schnaufte, und er roch wie ein Zigarrengeschäft, das sich neben einer Schnapsfabrik befindet. „Der Knirps schläft immer noch“, sagte Ottos Stimme. „Hoffentlich hast du ihm nicht zuviel Äther auf die Nase getupft, mein lieber Bernhard. Sonst läßt dir Senor Lopez von einem seiner Neger den Schädel maniküren!“
„Halt die Klappe!“ knurrte Bernhards Stimme. „Ich habe den Auftrag vorschriftsmäßig ...“
In diesem Moment brach im Radio die Tanzmusik ab, und eine dritte Stimme erklärte: „Achtung, Achtung! Wir wiederholen eine wichtige Durchsage!“
„Ich fresse einen Besen, wenn das nicht die Polizei .“ begann Otto.
„Ruhe!“ zischte Bernhard.
Mäxchen hielt die Luft an und spitzte die Ohren.
„Wie wir bereits gemeldet haben“, sagte die Rundfunkstimme, „wurde in den Vormittagsstunden der Ihnen allen bekannte Kleine Mann aus seinem Hotelzimmer entführt. Der Täter hatte sich als Etagenkellner verkleidet. Die von ihm hierfür benützte weiße Jacke konnte sichergestellt werden. Die Kriminalpolizei bittet das Publikum um tatkräftige Unterstützung. Professor Jokus von Pokus hat die von ihm ausgesetzte Belohnung auf 50 000 Mark erhöht. Zweckdienliche Beobachtungen wollen Sie bitte an den Rundfunk oder direkt an Kriminalkommissar Steinbeiß weiterleiten. Der Zirkus Stilke läßt mitteilen, daß sämtliche Vorstellungen bis auf weiteres ausfallen. Ende der Durchsage!“ Dann erklang wieder Musik.
Nach einer Weile ließ sich Ottos Stimme ehrfürchtig vernehmen. „Donnerwetter! Dieser Jokuspokus legt sich aber mächtig ins Zeug! 50 000? Das nenn ich leichtverdientes Geld! Du nicht auch, Bernhard? Wie wär’s?“
„Du bist und bleibst ein ausgemachter Hornochse“, knurrte Bernhards Stimme. „50 000? Deswegen gibt man doch nicht eine Lebensstellung auf.“
„Schon gut“, murmelte Otto. „Es war nur so ein Einfall.“ „Du bist kein Mann für Einfälle“, antwortete Bernhard ungnädig. „Überlaß das mir, verstanden? So, und jetzt geh ich telefonieren.“ Ein Stuhl wurde energisch zurückgeschoben. „Und paß inzwischen gut auf den Zwerg auf!“
Als die Zimmertür zugefallen war, wagte es Mäxchen, die Augen einen Spalt zu öffnen. An einem unordentlichen Tisch hockte ein großer glatzköpfiger Mensch und hielt eine leere Flasche gegen das Licht. Das war also Otto!
„Durst ist schlimmer als Heimweh“, sagte Otto zu sich selber und setzte die Flasche auf den Tisch zurück, daß es nur so klirrte.
Jetzt oder nie! dachte Mäxchen und spielte Erwachen. Er gab sich einen solchen Ruck, daß die Streichholzschachtel fast umgekippt wäre. Dazu schrie er: „Hilfe! Wo bin ich?“ Dann blickte er verzweifelt um sich, wimmerte und preßte beide Hände vor den Mund. Es war eine schauspielerische Glanzleistung.
Der völlig überraschte Otto war außerordentlich beeindruckt. Er sprang vom Stuhl hoch und zischte wütend: „Willst du gleich die Klappe halten, du kleines Mistvieh?“
Mäxchen brüllte: „Ich will wissen, wo ich bin! Wie reden Sie denn mit mir? Und wer sind Sie eigentlich? Hilfe! Jokus! Hilfeee!“ Er schrie so laut, weil er dachte, irgendwer in der Nähe könne ihn hören. Aber es rührte sich nichts. Niemand hatte ihn gehört. Außer diesem versoffenen Glatzkopf namens Otto.
„Wenn du noch einmal schreist, kleb ich dir ’n Meter Leukoplast übers Maul“, sagte Otto grimmig.
„Dieser Ton gefällt mir nicht“, entgegnete Mäxchen. „Bestellen Sie mir bitte ein Taxi.“
Daraufhin bekam Otto einen Lachanfall. Es war genauer ein Gemisch aus Lachen, Husten, Niesen und Asthma. Es stand zu befürchten, daß er explodieren würde. Aber er explodierte dann doch nicht. Als er sich endlich wieder beruhigt hatte, wischte er sich die Tränen aus den Augen und japste: „Ein Taxi? Wenn’s weiter nichts ist, mein Herr! Bernhard erkundigt sich gerade nach ’nem Flugzeug!“