Der Kirschenspucker ärgert sich und heißt Jakob / Mäxchen telefoniert und wartet auf die Zukunft / Die Wagen 1 und 2 und 3 / Der kahle Otto fährt im Auto / Mäxchen fährt im Auto / Jakob fährt im Auto / Die stille Straße liegt wieder still.
„Hallo!“ rief Mäxchen.
Aber der Junge am Fenster ließ sich nicht stören, sondern fuhr in seinen Zielübungen fort. Es war gar nicht so einfach, den grünen Ball mit einem Kirschkern zu treffen. Matrosen hätten es vielleicht geschafft. (Die Kerle sollen ja, wie jedes Kind weiß, wahre Meisterspucker sein. Als Steuermann und Kapitän lassen sie etwas nach. Wahrscheinlich ist es eine Altersfrage.)
„Hallo!“ rief Mäxchen noch lauter.
Der Junge blickte über die Straße, spuckte dann aber, weil er niemanden sah, sorgfältig weiter.
Mäxchen war unruhig. Die Zeit verging. Was konnte er tun? Wie konnte er den Jungen in Trab bringen? Glücklicherweise hatte er einen erfolgversprechenden Einfall. Ich werde ihn so lange beschimpfen, dachte er, bis ihn die kalte Wut packt.
Er rief also wieder „Halloooh!“ und dann, weil der Junge nicht reagierte, sondern die nächste Kirsche in den Mund steckte: „Bist du denn taub, du alter Hornochse?“
Der Junge zuckte zusammen, verschluckte hierbei den Kirschkern und starrte grimmig in Mäxchens Richtung. Welcher Elende gehörte zu dieser unverschämten Stimme?
„Mach kein so dämliches Gesicht!“ brüllte Mäxchen. „Sonst tauschen dich deine Eltern beim nächsten Ausverkauf um!“
Da schwang der Junge drüben die Beine übers Fensterbrett. „Nun wird mir’s zu bunt!“ stieß er hervor. „Was zuviel ist, ist zuviel!“ Er sprang aufs Pflaster, kam über die Straße gesaust, blieb vor dem Gartentor stehen, ballte empört die Fäuste und sah weit und breit keine Menschenseele. „Zeig dich, du Feigling!“ rief er außer sich. „Tritt aus dem Gebüsch, du Abschaum! Ich werde dich zwischen meinen Handflächen zerreiben!“
Darüber mußte Mäxchen laut lachen.
Der Junge hob den Kopf, entdeckte Mäxchen, der oben auf dem Sockel an der Sandsteinkugel lehnte, und sperrte entgeistert den Mund auf. Er wollte etwas sagen, aber es hatte ihm die Sprache verschlagen. Keinen Ton brachte er heraus.
„Weißt du, wer ich bin?“ fragte Mäxchen.
Der Junge nickte eifrig.
„Willst du mir helfen?“
Der Junge nickte noch viel eifriger. Seine Augen leuchteten.
„Ich mußte dich so ärgern“, erklärte Mäxchen, „sonst wärst du nicht herübergekommen. ’tschuldigung.“
Der Junge nickte schon wieder. Oder noch immer. Dann brachte er endlich den ersten Ton heraus. „Nicht der Rede wert, Kleiner Mann“, sagte er. „Ist schon vergessen. Ich heiße Jakob.“
„Ich heiße Mäxchen. Habt ihr Telefon?“
Jakob nickte.
„Halt deine Hand auf!“ sagte Mäxchen. „Aber zerreib mich nicht zwischen den Handflächen!“
Jakob wurde puterrot und hielt die Hand so hoch, wie er konnte. Mäxchen sprang vom Sockel herunter. Mitten in die geöffnete Hand.
Jakob rannte über die Straße, setzte den Kleinen Mann aufs Fensterbrett, kletterte an der Mauer hoch und schwang sich ins Zimmer. Dann ergriff er Mäxchen wieder und lief zum Schreibtisch. Dort stand das Telefon.
„Wen willst du anrufen?“ fragte Jakob.
„Die Kriminalpolizei“, sagte Mäxchen. „Denn wenn ich den Jokus im Hotel anrufe - aber den Jokus kennst du nicht.“ „Erlaube mal!“ meinte Jakob. „Natürlich kenne ich den Professor Jokus von Pokus! Ich kenn euch alle beide. Aus dem Zirkus und vom Fernsehen und aus der Zeitung und überhaupt!“
„Denn wenn ich den Jokus anrufe, kommt er sofort und dreht dem kahlen Otto den Hals um. Und anschließend erst recht dem Bernhard. Das würde nur stören.“
„Schon kapiert“, sagte Jakob. „Otto und Bernhard, die Kidnapper.“ Er blickte auf einen Zeitungsausschnitt, der in der Schreibunterlage steckte. „Das ist der Aufruf von der Polizei. Mit der Telefonnummer und so weiter.“
„Tüchtig, tüchtig, Freund Jakob“, meinte Mäxchen und rieb sich endlich wieder einmal vor Wonne die Hände. „Wenn du wen an der Strippe hast, legst du den Hörer auf den Schreibtisch, ja? Dann red ich selber.“
Jakob wählte die Telefonnummer und sagte nach einer Weile: „Verbinden Sie mich bitte mit Herrn Kriminalkommissar Steinbeiß! Der hat keine Zeit? Das ist aber schade. Na, dann richten Sie ihm einen schönen Gruß vom Kleinen Mann aus!“ Jakob grinste Mäxchen an und murmelte: „Das saß! Den Wachtmeister hat fast der Schlag getroffen!“
Drei Sekunden später dröhnte aus dem Telefon eine Stimme, als ob der Kommissar mitten im Zimmer stünde: „Hier Steinbeiß! Waaas ist los?“
Mäxchen kniete sich vor die Sprechmuschel und rief: „Hier spricht der Kleine Mann! Mäxchen Pichelsteiner! Ich bin entwischt! Aus dem Hause Kickelhahnstraße 12! Otto wird gleich wiederkommen! Jetzt bin ich im Haus gegenüber ..
„Hausnummer 17“, flüsterte Jakob hastig. „Bei Hurtig. Erdgeschoß links.“
„Hausnummer 17, bei Hurtig, Erdgeschoß links! Haben Sie mich verstanden? Moment, ich muß erst zur Hörmuschel sausen!“
Mäxchen rannte also zu Hörmuschel.
„Wir sind sofort bei dir!“ rief der Kriminalkommissar. „Sei inzwischen vorsichtig! Sonst noch was?“
Mäxchen sprang an die Sprechmuschel zurück und steckte vor lauter Aufregung beinahe den Kopf hinein. „Kommen Sie bitte nicht mit Sirene und Blaulicht. Otto ist noch in der Apotheke und riecht sonst Lunte! Und die hauptsächlichste Hauptsache, Herr Krimissar, nein, Herr Missionar, oje, bin ich durchgedreht. Sagen Sie dem Jokus nichts! Noch nicht, noch nicht! Bitte bitte und dreimal bitte! Er regt sich so leicht auf! Geht’s ihm denn gut? Und der Rosa Marzipan auch? Und .“
Jakob hielt das Ohr fest an die Hörmuschel gepreßt und winkte ab. „Schweigen im Walde. Wahrscheinlich springt der wackre Beamte soeben aus dem dritten Stock direkt ins Auto. Mit zwanzig Pistolen im Halfter.“
„Eilig währt am längsten“, meinte Mäxchen. „Trag mich bitte ans Fenster!“
Jakob legte den Telefonhörer auf die Gabel. „Es wird mir eine besondre Ehre sein, Herr von Pichelsteiner.“
Sie saßen am offnen Fenster und warteten ungeduldig auf die Zukunft. Wer würde zuerst durchs Ziel gehen? Kriminalkommissar Steinbeiß mit seinen Leuten? Oder der kahle Otto mit den Baldriantropfen?
Jakob spuckte wieder Kirschkerne nach dem grünen Ball und traf noch immer nicht. „Zielspucken ist schwer“, stellte er fest. „Fast so schwer wie das Leben.“
„Wieso ist das Leben noch schwerer?“ fragte Mäxchen. „Mein lieber Mann!“ seufzte der andre Junge. „Es sieht trübe aus. Vater fort. Mutter fort. Sohn nährt sich von Obst. Ist das etwa nichts?“
„Wann haben sie dich denn verlassen?“ fragte Mäxchen erschrocken.
„Heute früh.“
„Für immer?“
„Nicht ganz. Morgen abend kommen sie zurück.“
Da mußten beide lachen.
„Tante Anna“, berichtete Jakob, „ist vom Storch ins Bein gebissen worden. Ich konnte das meinen Eltern nicht ausreden. Sie wollten sich unbedingt den Storch ansehen oder den Biß ins Bein oder das Baby.“
„Und sie haben dir nur eine Tüte Kirschen hiergelassen?“ „Bewahre!“ sagte Jakob gekränkt. „Ich war reich wie drei Sparbüchsen. Sollte im ,Spaten‘ essen. Heute mittag und heute abend und morgen mittag. Aber ...“
„Aber was?“
„Wie ich in die Schule will, steht Fritz Griebitz davor und weint. Und hält seinen kleinen Dackel im Arm, der ihn immer hinbringt und abholt. Ein Auto hatte ihn totgefahren. Puffi hieß er.“
„Oh“, murmelte Mäxchen.
„Da haben wir Geld gesammelt. Fürs Begräbnis und den nächsten Puffi. Und wie wir ins Klassenzimmer kommen, guckt der Lehrer auf die Uhr. Mann, war der sauer! Und der verheulte Fritz . Und der tote Dackel beim Pförtner . Und nur noch achtzig Pfennige bis morgen abend . Und dauernd Kirschen . Ist nun das Leben schwer oder nicht?“
Mäxchen nickte verständnisvoll. Er knabberte und nagte an einer Kirsche, die er mit beiden Händen festhielt. Es sah aus, als wolle er einen Riesenkürbis stemmen, der auf der Weltausstellung die Goldene Medaille erhalten hat. Dabei sagte er: „Noch ein Weilchen, Jakob, und wir essen miteinander Ananastörtchen.“
„Schon wieder Obst!“ meinte Jakob niedergeschlagen.
Kriminalkommissar Steinbeiß und Inspektor Müller Zwo kamen zu Fuß schnell die Kickelhahnstraße entlang. Drei Autos mit den übrigen Beamten warteten gleich um die Ecke in der Dreisterngasse.
„Drüben ist die Hausnummer 12“, murmelte der Inspektor. „Dort war er eingesperrt.“
„Sehr stille Straße“, sagte der Kommissar. Dann griff er sich an seine Backe. „Wer schießt denn hier mit Kirschkernen?“
„Entschuldigen Sie“, rief der Junge, „ich wollte den grünen Ball treffen!“
„Seit wann seh ich wie ein grüner Ball aus?“ schimpfte der Kommissar.
„Nummer 17, Erdgeschoß links“, murmelte Inspektor Müller Zwo. „Wir sind am Ziel.“
Der Kommissar trat zu dem offenen Fenster. „Heißt du zufällig Hurtig?“
„Hurtig heiße ich schon“, gab Jakob zur Antwort. „Aber von Zufall kann gar keine Rede sein.“
Inspektor Müller Zwo grinste.
„Kriminalpolizei!“ knurrte der Kommissar. „Wir wollen den Kleinen Mann abholen.“
Jakob meinte: „Das wollen manche. Darf ich mal Ihren Ausweis besichtigen?“
Zunächst juckte es Herrn Steinbeiß gewaltig in den Fingern. Doch dann rückte er mit seinem Ausweis heraus und zeigte ihn dem vorlauten Bengel.
Jakob studierte das Papier gründlich. „Es sind die Richtigen, Mäxchen“, sagte er.
Jetzt erst steckte Mäxchen den Kopf über die Brüstung. „Willkommen, meine Herren! Wie geht’s ihm?“
„Wem?“
„Dem Jokus!“
„Er bildet sich zum Hungerkünstler aus“, sagte der Kommissar trocken.
Mäxchens Gesicht verdunkelte sich. Aber nur eine Sekunde
lang. Dann strahlte er wieder und rieb sich die Hände. „Heute abend ißt er mindestens vier Schnitzel! Ich freue mich schon aufs Zusehen!“
Plötzlich hörten sie eilige und tapsige Schritte!
Mäxchen stieg auf die Fensterleiste. „Das ist der kahle Otto“, flüsterte er.
Otto kam drüben ein bißchen im Zickzackschwips die Straße entlang und hielt eine große, dicke Flasche umklammert.
„Sind das lauter Baldriantropfen?“ fragte Jakob verblüfft.
Mäxchen kicherte. „Das ist Schnaps! Seine Flasche war leer. Deshalb lief er ja so schnell zur Apotheke.“
„Na, da wollen wir mal“, sagte Herr Steinbeiß zu Herrn Müller Zwo.
„Moment!“ flüsterte Mäxchen. Dann sprang er auf den Ärmel des Kriminalkommissars und hockte, ehe man bis drei zählen konnte, in dessen Brusttasche.
Otto wollte, als sie ihm den Weg verstellten, eben ins Gartentor von Nummer 12 einbiegen. „Was is ’n los?“ fragte er giftig und blickte die beiden Männer schief an.
„Kriminalpolizei“, sagte der Kommissar. „Sie sind verhaftet.“
„Ach nee, was Sie nich sagen!“ spöttelte Otto, machte kehrt und wollte auf und davon.
Doch Herr Müller Zwo war fixer. Er packte kräftig zu. „Aua!“ erklärte Otto und ließ die große Flasche fallen. Sie zerbrach. Herr Steinbeiß pfiff auf einer Trillerpfeife. Drei Autos kamen aus der Dreisterngasse und bremsten. Sechs Beamte in Zivil sprangen aufs Pflaster.
„Streifenwagen 1 bringt den Verhafteten sofort ins Präsidium“, befahl der Kriminalkommissar. „Der Inspektor durchsucht mit der Mannschaft von Wagen 2 das Haus und die Wohnung.“
„Erster Stock links“, sagte Mäxchen. „Otto hat die Schlüssel in der rechten Hosentasche.“ Und schon holte ein Beamter die Schlüssel ans Licht.
Der kahle Otto blickte wie vom Donner gerührt auf die Brusttasche des Kommissars. Dann brüllte er: „Du kleiner Mistfliegenpilz! Wie kommst denn du . “ Doch ehe er den Satz zu Ende brüllen konnte, saß er schon, gut bewacht, im Wagen 1, und fort ging’s!
Ein Beamter vom Wagen 2 meldete: „Herr Kommissar! Der Polizeifunk hat uns vor zwei Minuten durchgegeben, daß das Haus Kickelhahnstraße 12 einer südamerikanischen Handelsfirma gehört.“
„Das wundert mich gar nicht“, bemerkte Mäxchen. „Es hängt eben alles mit dem Senor Lopez zusammen.“
Inspektor Müller Zwo fragte verblüfft: „Was weißt denn du von Lopez?“
„Viel nicht“, sagte der Kleine, „aber für jetzt wär’s zuviel.“ Herr Steinbeiß nickte energisch. „Recht hat er. Wir haben’s eilig. Wagen 2 übernimmt das Haus. Wagen 3 fährt mit mir und Mäxchen zum Professor ins Hotel.“
„Nein“, sagte Mäxchen. „Wir müssen erst in den ,Krum-men Würfel‘ und Bernhard beim Mittagessen verhaften. Der ist zehnmal schlimmer als der kahle Otto. Er war auch der falsche Kellner mit der weißen Jacke!“
Der Kommissar mußte lachen. „Mäxchen macht alles, Mäxchen weiß alles! Also los, Wagen 3! In den ,Krummen Würfel‘!“ Er schob sich neben den Fahrer und tastete nach seinem Revolver.
„Moment!“ rief Mäxchen hastig und beugte sich weit aus der Brusttasche. „Wagen 2 soll doch bitte meine Streichholzschachtel mitbringen! Sonst muß ich heute abend im Himmelbett schlafen.“
„Das wäre ja entsetzlich“, sagte Inspektor Müller Zwo und stürmte mit seinen Leuten ins Haus.
„Worauf warten Sie noch?“ fragte der Kommissar den Fahrer vom Wagen 3. „Marsch marsch!“
„Marsch marsch geht nicht“, teilte der Fahrer mit. „Es steht ein Junge auf dem Trittbrett!“
Jakob guckte durchs Wagenfenster. „Bin ich nun zu Ananastörtchen eingeladen worden oder nicht?“
Mäxchen tat einen Seufzer, als sei es sein letzter oder mindestens der vorletzte. „Es ist eine Affenschande“, stammelte er. „Kaum bin ich aus dem Gröbsten heraus, und schon vergesse ich meine besten Freunde!“
Jakob Hurtig stieg flink ein. „Quatsch nicht, Krause!“
Der Wagen 1 war mit dem kahlen Otto auf dem Weg zum Polizeipräsidium. Der Wagen 3 jagte zum ,Krummen Würfel6. Der Wagen 2 stand vorm Hause Nummer 12. Die Kickel-hahnstraße und der grüne Kinderball lagen wieder genau so still wie vor einer halben Stunde.
Auf dem Pflaster glänzten die Scherben einer Schnapsflasche. Sonst hatte sich, wie es schien, nichts verändert.