DAS VIERZEHNTE KAPITEL

Ruhm am Vormittag / Telefonanrufe / Der erste Besucher ist Direktor Brausewetter / Geld ist nicht die Hauptsache, aber die wichtigste Nebensache / Das Kaninchen im falschen Zylinder / Schlagzeilen und Gerüchte.


Der nächste Tag wurde ein denkwürdiger Tag. Mäxchen wachte auf und war berühmt.

Der Chefportier des Hotels, der sich in seiner vierzigjährigen Laufbahn nicht nur beträchtliche Plattfüße, sondern auch beträchtliche Erfahrungen erworben hatte, sagte schon morgens um neun Uhr zu den Telefonfräuleins: „Das wird kein Ruhm mit dem Wurm drin, meine Damen. Das Kerlchen wird berühmt wie der Schiefe Turm von Pisa. Denken Sie an meine Worte!“

„Tag und Nacht“, versicherte Fräulein Arabella treuherzig, und die anderen Mädchen kicherten und hielten die Hand vor die Telefonmuschel.

Doch viel Zeit zum Lachen blieb ihnen heute nicht. Die Anrufe in der Zentrale rissen nicht ab. Alle Welt wollte den Kleinen Mann sprechen. Darunter war auch eine aufgeregte Frauensperson. Sie erkundigte sich, ob der Kleine Mann schon verheiratet sei.

„Ich habe ihn gestern abend im Zirkus gesehen“, sagte die Frau, „und bin von ihm völlig fasziniert. Ist er noch zu haben?“

„Leider nein“, antwortete Fräulein Arabella. „Er ist seit sechs Jahren mit der Kronprinzessin von Australien verlobt. Und die wird ihn nicht hergeben.“

„Was will er denn bei den Känguruhs?“ fragte die Frauenstimme ärgerlich. „Ich habe einen Laden für Baby- und Kinderkleidung. Das wäre für ihn viel gescheiter. Verbinden Sie mich bitte mit seinem Zimmer!“

Fräulein Arabella schüttelte den Lockenkopf. „Völlig ausgeschlossen, gnädige Frau! Er darf nicht gestört werden. Reichen Sie doch Ihr Gesuch schriftlich ein! Und vergessen Sie nicht, Ihre werte Fotografie beizufügen. Der junge Herr ist sehr schönheitsdurstig.“

Natürlich waren nicht alle Anrufe so albern wie dieser. Doch auch vernünftigere Telefonate zu Hunderten kosten Zeit und Nerven. Den Fräuleins am Klappenschrank und dem Portier in seiner Loge rauchten die Köpfe.

Indessen saßen der Jokus und Mäxchen auf dem Balkon und frühstückten in aller Gemütsruhe.

„Du sollst den Marmeladenlöffel nicht ablecken“, mahnte der Professor.

„Das gilt ab heute nicht mehr“, behauptete Mäxchen. „Wenn man so berühmt ist wie ich, darf man das.“

„Du hast eine etwas merkwürdige Auffassung vom Berühmtsein“, sagte der Jokus.

Die zwei Tauben saßen im Blumenkasten. Das Kaninchen steckte den Kopf zum Balkongitter hinaus. Für die drei Tiere war der ruhmreiche Tag ein Tag wie jeder andere.

Der Kleine Mann zwinkerte vergnügt. „Minna, Emma und Alba“, zählte er auf. „Nun fehlt nur noch Rosa.“

Dann klopfte es dreimal, und der erste Besucher erschien.

Es war aber nicht Rosa Marzipan, sondern der Herr Direktor Brausewetter. Mit der einen Hand schwenkte er den Zylinder, und mit der anderen Hand überreichte er die Morgenzeitungen. „Der Erfolg ist sensationell“, ächzte er und sank in einen Stuhl. „Die Presse ist, ohne dabeigewesen zu sein, außer Rand und Band. Vor dem Hotel türmen sich die Neugierigen. Der Liftboy ist um Jahre gealtert. Und der Portier hat den Kopf verloren und kann ihn nicht wiederfinden.“

Mäxchen lachte, und der Jokus überflog die Zeitungen mit den ersten kurzen Nachrichten über seinen und Mäxchens Riesenerfolg. „Die Lawine rollt“, sagte er befriedigt.

„Noch dazu aufwärts, Herr Professor“, meinte Brausewetter. „Schade, daß wir uns trennen müssen.“ Er blickte traurig zu Boden.

„Waaas?“ fragte der Kleine Mann. „Das verstehe ich nicht.“ Brausewetter fuhr mit dem Handschuh rund um den Zylinder. „Der Herr Professor dürfte mich schon verstehen.“ „Jawohl“, brummte der Jokus und nickte.

„Ich habe heute nacht kein Auge zugetan“, sagte Brausewetter und stellte den Zylinder unter den Stuhl. „Ich habe ge-

rechnet und gerechnet. Es geht nicht. Der Zirkus Stilke ist wahrhaftig kein Flohzirkus, sondern genießt in der Zunft und beim Publikum erfreuliches Ansehen. Aber Sie beide sind seit gestern abend eine Weltnummer, und das kann ich nicht bezahlen.“

Der Jokus entgegnete: „Sie kennen unsren Preis ja noch gar nicht.“

„Nein. Aber ich bin kein heuriger Hase. Ich weiß, welche Summen man Ihnen von andrer Seite bieten wird. Damit kann ich nicht konkurrieren. Denn ich bin ein solider Unternehmer. Ein anderer Direktor würde vielleicht denken: Mit dieser Weltnummer bin ich jeden Abend ausverkauft, auch wenn ich die Familie Bambus auf die Straße setze .“

„Nein!“ rief Mäxchen.

„Oder wenn ich die Elefanten an einen Zoo verkaufe .“ „Nein!“ rief Mäxchen.

„Oder wenn ich den Feuerschluckern und den drei Schwestern Marzipan kündige .“

„Nein!“ schrie Mäxchen aufgebracht. „Das dürfen Sie nicht tun!“

„Ich tu’s ja auch nicht“, erklärte Direktor Brausewetter würdig, „und deswegen müssen wir uns eben trennen.“

Der Jokus sagte: „Legen Sie die Karten auf den Tisch! Wieviel können Sie uns zahlen?“

„Das Vierfache Ihrer jetzigen Gage. Doch die anderen werden Ihnen das Zehnfache bieten.“

„Nein“, meinte der Jokus. „Das Zwanzigfache. Ich habe nämlich heute nacht auch ein bißchen gerechnet. Und Sie, verehrter Herr Direktor, können uns mehr als das Vierfache bezahlen, ohne Ihren Zylinder oder zwei Elefanten ins Leihhaus zu tragen.“

„Wieviel?“

„Das Fünffache.“

Direktor Brausewetter lächelte gequält. „Aber nur, wenn ich mir das Zigarrenrauchen abgewöhne.“

„Das glaubt Ihnen nicht einmal Ihr Zigarrenhändler“, meinte der Jokus.

„Der zuallerletzt“, sagte Brausewetter und lachte müde.

„Hast du alles verstanden, Mäxchen?“ fragte der Jokus. „Aber leg den Marmeladenlöffel fort, bevor du antwortest!“

Mäxchen legte den Löffel beiseite. Dann sagte er: „Ich habe alles verstanden. Wir könnten anderswo fünfmal soviel verdienen wie bei Direktor Brausepulver, nein, Brausewetter. Und auch nur dann, wenn er sich das Rauchen abgewöhnt.“

„Ein aufgewecktes Kind“, bemerkte der Direktor.

„Aber“, fuhr der Kleine Mann fort, „wie wäre es, wenn der Zirkus Stilke, weil wir jetzt berühmt sind, die Eintrittspreise erhöht? Nur ein kleines bißchen! Und wenn er uns das bißchen extra auszahlte?“

„Ein gefährliches Kind“, stellte der Direktor fest und begann zu schwitzen.

„Jedenfalls keine üble Idee“, sagte der Jokus. „Doch nun zur Hauptsache, Jungchen! Du und ich, wir sind jetzt Kompagnons, und deine Meinung ist ab heute so wichtig wie meine eigne.“

„Fein!“ rief der Kleine Mann und rieb sich vor Wonne die Hände.

„Was wollen wir tun? Wollen wir bei Direktor Brausewetter bleiben? Oder wollen wir für die fünffache Summe zu einem anderen Zirkus oder in ein so berühmtes Variete wie das ,Lido‘ in Paris gehen? Überlege dir’s gründlich, bevor du antwortest! An unserer Entscheidung hängt sehr, sehr viel Geld.“

Mäxchen furchte die Stirn. „Weißt du schon, was du selber möchtest?“

„Ich weiß es.“

„Ich glaube, ich weiß es auch“, erklärte der Kleine Mann. „Ich möchte, daß wir bei Herrn Brausewetter bleiben. Er hat damals meine Eltern engagiert und war immer gut zu mir. Wie ein Onkel.“

„Bravo“, sagte der Jokus. „Wir sind uns also einig.“ Er wandte sich an den Zirkusdirektor. „Unser Beschluß ist einstimmig. Wir bleiben Ihnen erhalten.“

„Oh“, murmelte Brausewetter. „Das nenne ich nobel.“ Er fuhr sich gerührt über die Augen.

„Die Einzelheiten besprechen wir am Nachmittag“, meinte der Jokus lächelnd. „Das Geschäftliche ist für meinen Partner und mich zwar nicht die Hauptsache, wie Sie gemerkt haben .“

„Aber?“ fragte Mäxchen neugierig.

„. aber die wichtigste Nebensache“, fuhr der Seniorpartner fort.

Der Direktor verbeugte sich knapp. „Selbstverständlich, Herr Professor! Selbstverständlich! Immerhin darf ich jetzt der Presse und dem Rundfunk mitteilen, daß Sie bei mir bleiben?“

Der Jokus nickte. „Tun Sie das, mein Bester.“

Und schon sprang Brausewetter hoch. „Dann will ich mich beeilen!“ Er angelte den Zylinder unterm Stuhl hervor und setzte ihn vor lauter Übermut schief auf den Kopf. Doch der Zylinder wackelte wie verrückt hin und her. „Was soll das denn heißen?“ fragte er verdutzt und nahm den Zylinder schnell wieder ab.

Da hüpfte mit einem Riesensatz das weiße Kaninchen heraus! Es war zu Tode erschrocken und hoppelte eiligst ins Zimmer und ins Körbchen.

„Sie!“ Der Jokus drohte Herrn Brausewetter mit dem Finger. „Das ist unlauterer Wettbewerb! Alba hat in fremden Zylindern nichts zu suchen!“

Der Direktor lachte und drohte gleichfalls. „Erzählen Sie das nicht mir, sondern Ihrem Kaninchen!“ Und schon lief er, so schnell er seinen Bauch tragen konnte, aus dem Zimmer und aus dem Hotel, um den Redaktionen, dem Funk und den Agenturen brühwarm zu berichten, welches Glück dem Zirkus Stilke widerfahren sei.

Schon wenige Stunden später erfuhren die Leser in der Stadt die große Neuigkeit. Die Boulevardblätter brachten die Meldung sogar auf ihrer ersten Seite. Die großen Überschriften lauteten:

Der Text der Nachrichten, auch im Funk, war allerdings noch recht mager. Denn wer unter den Reportern war schon am Abend vorher zufällig im Zirkus gewesen? Noch gab es keine Fotos in den Zeitungen. Und auch die Ansagerin im Fernsehen vertröstete das Publikum auf die nächste Abendschau.

Der Erfolg war zunächst nicht viel mehr als ein Gerücht. Wer hatte denn ahnen können, daß der clown Fernando zwei Fräcke vertauschen würde? Und daß sich Professor Jokus von Pokus daraufhin entschlösse, den Kleinen Mann der Öffentlichkeit vorzeitig zu präsentieren?

Immerhin, zweitausend Zuschauer hatten die Sensation miterlebt und den winzigen Zauberlehrling mit eignen Augen gesehen. Das Gerücht, das die Stadt durchlief, hatte also vier tausend Beine. Und daß es nur ein Gerücht war, machte das Ganze fast noch spannender, noch aufregender, noch interessanter.

An diesem Abend vorm zweiten Auftreten des Kleinen Mannes drängten und drängelten sich über hunderttausend Menschen vorm Zirkuszelt.

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