DAS NEUNZEHNTE KAPITEL

Ausführlicher Bericht über Senor Lopez / Die Burg in Südamerika / Bilder von Remscheid und Inkasso / Flugkarten für Freitag / Magenkrämpfe, nicht ganz echt / Der kahle Otto rennt in die Apotheke / Mäxchen sitzt auf dem Gartentor.


Der Mittwoch wurde ein ereignisreicher Tag. Otto hatte schon morgens einen respektablen Schwips und erzählte aus freien Stücken allerlei über den geheimnisvollen Senor Lopez. Später kam Bernhard aus der Stadt zurück, zeigte Otto die Flugkarten für Freitag, die er besorgt hatte, ging aber bald wieder fort, weil er hungrig war.

„Ich werde im ,Krummen Würfel‘ essen“, sagte er, „und in einer Stunde löse ich dich ab.“

„Ist gut“, meinte Otto. „Wenn sie Eisbein mit Sauerkraut haben, sollen sie mir zwei Portionen aufheben. Das wird genügen. Ich habe heute keinen rechten Appetit.“

Als Bernhard gegangen war, bekam Mäxchen plötzlich gräßliche Magenkrämpfe und wimmerte und jammerte, daß sich Otto die Ohren zuhielt. Aber ich glaube, es ist gescheiter, wenn ich zunächst ausführlicher berichte, was der kahle Otto, ein paar Stunden früher über den geheimnisvollen Senor Lopez erzählt hatte.

Also, Otto war schon zum Frühstück betrunken gewesen. Voll wie eine Strandhaubitze. Vielleicht hatte er die Kaffeekanne mit der Schnapsflasche verwechselt gehabt. Oder er hatte versehentlich mit Himbeergeist gegurgelt. Jedenfalls begann er ungefragt:

„Dieser Lopez, das ist ein toller Hecht. Senor heißt Herr. Ein toller Herr, dieser Hecht. Reicher als die Bank von England. An jedem Finger zwei bis drei Ringe. Einen so ’n Ring, und ich kauf die Schweiz! Aber was mach ich mit der Schweiz? Na ja, wie dem auch wolle: Lopez gehört mindestens das vierte Drittel von ganz Südamerika! Kupfer und Zinn und Kaffeebohnen und Silberminen und Hazi ... Hazi ... Haziendas mit lauter Ochsen, von der Weide bis zum Corned beef, marsch marsch, rin in die Konservenbüchsen! Hat ’ne Art Burg drüben. Zwischen Santiago und Valparaiso. Mit eignem Flugplatz und hundert Scharfschützen, die ’ner Stubenfliege die Zigarre glatt aus der Hand schießen.“

Das war zuviel für Mäxchen. Er kicherte.

„Laß das!“ sagte Otto. „Der Lopez, der ist nicht komisch. Das scheint nur so. Wenn irgendwo ’n Gemälde geklaut wird, das wenigstens ’ne Million kostet, hängt’s ’ne Woche später in seiner unterirdischen Galerie. Ob das nun ’n echter Adolf Dürer oder ’n Remscheid oder so ’n moderner Maler ist wie der berühmte Inkasso .“

„Picasso“, korrigierte Mäxchen. „Und Rembrandt und Albrecht Dürer.“

„Ist doch ganz wurscht“, meinte Otto und kippte den nächsten Schnaps hinter die Binde. „Hauptsache, daß die Bilder in dem Lopez seinem Keller hängen. Es weiß bloß niemand. Nicht mal die Interpol. Und sogar wenn die’s wüßte, könnte sie nischt machen. Die Scharfschützen ließen sie gar nicht erst in die Festung rein.“

„Wer ist denn die Interpol?“ fragte Mäxchen.

„’ne Abkürzung und hei ... hei ... heißt Internationale Polizei. Den Bernhard und mich hätte sie beinahe mal geschnappt! Als wir die Zigeunerin geklaut hatten und mit ihr auf ’m Flugplatz von Lissabon in dem Lopez sein Privatflugzeug reinwollten! Ging aber noch mal gut. Na, jetzt is sie schon zwei Jahre drüben in seiner Burg und muß ihm täglich die Karten legen. Ob er an der Börse Aktien kaufen soll oder im Moment nich. Oder ob er was mit der Leber hat, weil er leider säuft und viel zuviel verträgt. Oder ob eins seiner Rennpferde gewinnen wird .“

„Und was ist das nun mit mir?“ fragte Mäxchen gespannt. „Warum wollte er, daß ihr diesmal mich raubt und hinüberbringt?“

Otto schenkte sein Glas voll. Die Flasche war fast leer. Er spülte sich den Mund mit Schnaps, hustete, schnaufte und sagte: „Der Mann langweilt sich, und deshalb sammelt er eben. Bilder und Leute. Als wären’s Briefmarken. Kann gar nich genug kosten. Hat ’n ganzes Ballett rauben lassen. Lauter hübsche Käfer. Die müssen ihm jeden Abend was vortanzen. Denkst du, Lopez läßt die wieder frei? Keine Bohne. Nich mal als Großmütter. Geht nich. Die würden ihn auf der Stelle verpfeifen. Hab ich recht oder stimmt’s? Und ’nen berühmten Professor hält er auch gefangen. Weil der weiß, ob ’n teures Bild echt oder falsch ist.“

„Und wenn ihn der Professor nun anschwindelt?“

„Einmal hat er’s versucht.“ Otto grinste. „Das ist ihm gesundheitlich nich gut bekommen. Für Faxen hat der Lopez kein’ Sinn.“

„Und was will er denn von mir?“ fragte Mäxchen mit zittriger Stimme.

„Keine Ahnung. Haben will er dich, also kriegt er dich, Punktum! Vielleicht weil du ’ne Rarität bist. So wie ’n Kalb mit zwei bis drei Köppen.“

Mäxchen starrte Ottos abstehende Ohren an. Wie ein Gesicht mit Henkeln, dachte er. Und dann dachte er vor allem: Ich muß hier fort! Es wird höchste Zeit!

Daß dann Bernhard aufkreuzte, hab ich auch schon erwähnt. „Am Freitag fliegen wir“, sagte er und zeigte die Flugkarten. Er blieb nicht lange, weil er im ,Krummen Würfel‘ zu Mittag essen und Otto in einer Stunde ablösen wollte, obwohl der Glatzkopf keinen rechten Appetit hatte. Zwei Portionen Eisbein mit Sauerkraut, hatte er gemeint, würden heute genügen.

In einer Stunde kommt Bernhard wieder, dachte Mäxchen. Da heißt es handeln. Die Flugkarten hat er schon. Jetzt oder nie! Deshalb bekam der Kleine Mann plötzlich gräßliche Magenkrämpfe und wimmerte und jammerte, daß Otto sich die Henkel, nein, die Ohren zuhielt.

Wenn ihr es dem betrunkenen Otto nicht weitersagt, verrate ich euch ein Geheimnis. Hört auch bestimmt niemand zu? Nein? Also, ganz im Vertrauen: Mäxchen hatte in Wirklichkeit gar keine Magenkrämpfe! Er hatte auch keine Herzkrämpfe und keine Wadenkrämpfe und keine Schreikrämpfe und keine Schreibkrämpfe. Ihm tat überhaupt nichts weh. Er tat nur so, als ob es täte. Es gehörte zu seinem Plan.

„Auauau!“ stöhnte er. „Ohohoh!“ jaulte er. „Huhuhu!“ heulte er und krümmte sich in seiner Streichholzschachtel wie ein Wurm. „Einen Arzt!“ schrie er. „Sofort! Auauau! Schnell, schnell!“

„Wo soll ich denn ’nen Doktor hernehmen?“ fragte Otto nervös.

„Holen!“ brüllte der Junge. „Einen holen! Sofort!“

„Du bist wohl total übergeschnappt?“ rief Otto. „Die ganze Stadt sucht dich, und da soll ich ’nen Doktor ins Haus schleppen, damit er uns verhaften läßt?“

„Auauau!“ jammerte Mäxchen und warf sich hin und her. „Hilfe, ich sterbe!“

„Untersteh dich!“ schrie Otto. „Das fehlte gerade noch! Mach uns keine Scherereien! Hier wird nicht gestorben! Deij Lopez läßt uns den Kragen umdrehen, wenn wir ohne dich ankommen!“ Der Glatzkopf schwitzte Blut und Wasser. „Wo tut’s dir denn weh?“

Mäxchen hielt sich den Bauch. „Hier!“ wimmerte er. „Ohohoh! Es sind, aua, Krämpfe! Hab ich manchmal, huhu-hu! Schnell den Arzt! Oder, ooooh, wenigstens Baldriantropfen!“

Er heulte wie acht Hyänen bei Nacht.

„Baldriantropfen?“ ächzte Otto und wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. „Wo soll ich denn Baldriantropfen hernehmen?“

„Apotheke!“ brüllte Mäxchen. „Rasch, rasch! Auauau!“

„Ich kann doch jetzt nich aus ’m Zimmer!“ schrie Otto. „Trink ’n Schnaps! Is auch Medizin!“ Er hob die Flasche hoch. Sie war leer. „Verflucht noch eins!“

„Apotheke!“ stöhnte Mäxchen. „Sonst ...“ Er sank jammernd in sich zusammen, japste nach Luft und lag still wie ein Bauklötzchen.

Otto stierte erschrocken in die Streichholzschachtel. Er war völlig von den Socken. „Bist du ohnmächtig?“

„Noch nicht ganz“, flüsterte Mäxchen. Er klapperte mit den Augendeckeln und auch ein bißchen mit den Zähnen.

„Ich schließ die Zimmertür zu, renn in ’ne Apotheke und bin gleich wieder da! Kapiert?“

„Ja.“

Otto setzte den Hut auf, rannte aus dem Zimmer, drehte den Schlüssel zweimal im Schloß um, steckte den Schlüssel in die Hosentasche, stolperte durch den Korridor, riß die Wohnungstür auf, schlug sie hinter sich zu, schloß sie ab, steckte auch diesen zweiten Schlüssel in die Hosentasche und polterte treppab.

Aus dem Haus. Durch den Vorgarten und durchs eiserne Gartentor. Er suchte eine Apotheke. Oder wenigstens eine Drogerie.

„Baldriantropfen für den Zwerg“, ächzte er. „Und ’ne Pulle Schnaps für den armen Otto.“

Das Zimmer war abgeschlossen. Bis Otto wiederkäme, konnte keiner herein, und niemand konnte hinaus. Auch Mäx-chen nicht. Doch das war ja auch nicht mehr nötig.

Nanu! Warum war das denn nicht mehr nötig? Wißt ihr, warum? Sicher habt ihr es schon erraten. Nein? Na, hört mal! Es war ganz einfach deshalb nicht mehr nötig, weil Mäxchen gar nicht mehr im Zimmer war. Er hatte es mit Otto gemeinsam verlassen! Aber wie? Natürlich auf Ottos Rücken! Das war ja der Plan gewesen, den er sich zurechtgelegt hatte!

Daß Otto einen Arzt holen werde, hatte der Kleine Mann niemals geglaubt. Keine Sekunde lang. Doch es gehörte zum Plan. Der Kahlkopf würde tausendmal lieber in eine Apotheke rennen, hatte Mäxchen vermutet. Und genauso war es gekommen.

Otto hatte, als er den Hut vom Haken nahm, der Streichholzschachtel den Rücken gedreht - und schon war Mäxchen, mit einem lautlosen Hechtsprung, auf Ottos Jackett gelandet und daran hochgeklettert. Für einen berühmten Artisten war das ein Kinderspiel.

Und während Otto die Zimmertür und die Wohnungstür abgeschlossen hatte und die Treppe hinunter und aus dem Haus und durch den Vorgarten gelaufen war, immer hatte Mäxchen auf Ottos Schulter gehockt.

Am Gartentor war er dann zu einem der eisernen Gitterstäbe hinübergesprungen. Und auch das hatte geklappt. Gelernt ist gelernt.

Die Stirn tat ein bißchen weh. Gußeisen ist nicht aus Gummi. Wahrscheinlich würde es eine Schramme oder eine Beule geben oder auch beides. Und wennschon!

Mäxchen saß jetzt auf einem der zwei hohen Steinsockel, die das Gartentor einrahmten und von je einer Kugel aus Sandstein gekrönt wurden. Er saß dort oben und atmete tief. Es duftete nach Jasmin. Und es roch nach Freiheit!

Mäxchen war selig. Aber für Jasmin und Seligkeit war jetzt nicht die rechte Zeit. Er mußte hier fort. Er mußte weiter. Otto würde nicht lange fortbleiben! In weniger als einer Stunde kam Bernhard aus dem ,Krummen Würfel‘ zurück!

Jede Minute war kostbarer als in ruhigeren Zeiten ein ganzes Jahr.

Die Straße war leer, als gäbe es keine Menschen auf der Welt. Die Häuser auf der anderen Seite lagen still und wie ausgestorben.

Mäxchen drehte sich um und blickte auf die Haustür, durch die kurz zuvor Otto mit ihm herausgestolpert war. Neben der Tür hing ein blaues Schild mit einer weißen Hausnummer. Und unter der Nummer stand, klein und weiß, der Name der Straße.

„Kickelhahnstraße 12“, murmelte Mäxchen. „Kickelhahn-straße 12.“ Als er es zum dritten Mal vor sich hinsagte, öffnete sich im Haus gegenüber, im Erdgeschoß, ein Fenster. Dann lümmelte sich ein Junge aufs Fensterbrett, holte aus einer braunen Tüte Kirschen heraus, steckte eine Kirsche nach der anderen in den Mund und spuckte die Kirschkerne auf die Straße. Er zielte nach einem kleinen grünen Kinderball, der dort herumlag, und machte seine Sache gar nicht schlecht.

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