DAS EINUNDZWANZIGSTE KAPITEL

Aufregung im ,Krummen Würfel ‘ / Jakob wäre ein Kalbshaxenhotel lieber / Tränen und Training / Marzipan mit Gänsehaut / Scharfer Senf / Wer kriegt die Belohnung? / Mäxchen mimt den kahlen Otto / Wie heißt die kleinste fünfstellige Zahl?


Der ,Krumme Würfel‘ war kein feines Lokal, aber man aß gut. Dagegen ist nichts einzuwenden. Wenn die Suppe aus echter Fleischbrühe besteht, muß der Teller nicht aus echtem Porzellan sein. Meist ist es umgekehrt.

Die Gäste saßen und aßen an sauber gescheuerten Tischen, und es schmeckte ihnen. Nur Bernhard zog auch heute ein Gesicht. Die stramme Wirtin, die ihm den Nachtisch hinstellte, wunderte sich nicht weiter. „Es schmeckt wohl wieder nicht?“ fragte sie grimmig.

„Höchste Zeit, daß ich in Länder komme, wo man kochen kann“, antwortete er.

„Höchste Zeit, daß Sie nicht mehr in mein Lokal kommen!“ sagte sie und nahm ihm den Nachtisch vor der Nase weg. (Es war übrigens Karamelpudding mit Himbeersaft.)

„Stellen Sie sofort die blöde Zittersülze wieder hin!“ befahl er kalt. Ihr kennt ja seine Kühlschrankstimme!

„Machen Sie sofort, daß Sie rauskommen!“ erwiderte sie ruhig. „Die zwei Portionen Eisbein für Ihren Kahlkopf sind reserviert. Dabei bleibt’s. Aber Sie selber? Hinaus! Geld will ich nicht! Betrachten Sie sich als von mir eingeladen und hinausgefeuert! Hauen Sie ab, Sie widerlicher Galgenvogel!“

Bernhard griff wütend nach dem Teller.

Die Wirtin trat einen Schritt zurück und warf ihm den Teller mitten ins Gesicht.

Ob man Karamelpudding mit Himbeersaft mag, ist Geschmackssache. Ich selber, beispielsweise, mag ihn nicht. Aber mitten im Gesicht? Auf diese direkte Art schmeckt er keinem. Trotzdem streckte Bernhard die Zunge weit heraus und leckte eifrig den Himbeersaft auf, der ihm übers Gesicht rann. Er hatte Angst um sein weißes Hemd und den hellgrauen Anzug und die schicke Krawatte.

Der Pudding selber, ein wirklich vorzüglicher Pudding, klebte ihm im Haar und verkleisterte ihm die eisblauen Augen. Er fuhrwerkte mit allen zehn Fingern in der Luft und im Gesicht herum, tastete nach der Serviette, suchte in der Hose nach dem Taschentuch, und das alles machte die Sache natürlich nicht besser.

Die Gäste lachten. Die Wirtin lachte. Und als ein kleines Mädchen am Nebentisch rief: „Mutti, der Herr sieht aus wie ein Schwein!“, da kannte der allgemeine Jubel keine Grenzen mehr.

Doch mit einem Male wurden sie alle mucksmäuschenstill. Was war denn plötzlich geschehen?

Bernhard schielte durch die verklebten Karamelwimpern, erschrak und hatte allen Grund dazu. Denn drei Männer standen um ihn versammelt und schienen ihn ganz und gar nicht komisch zu finden.

Das schlimmste war, daß sich aus der Brusttasche des einen Mannes ein kleiner Bekannter beugte, mit der Hand auf Bernhard zeigte und laut und vernehmlich erklärte: „Herr Kommissar, das ist er!“

Nachdem sie den bekleckerten Bernhard im Polizeipräsidium abgegeben hatten, sollte Mäxchen ins Hotel gefahren werden. Jakob Hurtig blieb am Wagen stehen und behauptete: „Ich möchte nicht länger stören.“

„Du kommst mit!“ sagte Mäxchen. „Wegen des Ananastörtchens und überhaupt.“

„Natürlich kommst du mit!“ sagte der Kommissar. „Ich muß mir doch deine Personalien aufschreiben und überhaupt.“

„Geht in Ordnung“, sagte Jakob. „Meine Eltern sind ja sowieso noch bei Tante Anna und dem Storch und überhaupt!“

Da lachten sie zu dritt und fuhren rasch ins Hotel.

Dort war, weil Inspektor Müller Zwo telefonisch Bescheid gegeben hatte, das gesamte Personal vom Hoteldirektor bis zu den Pikkolos und Liftboys bereits in der Halle angetreten und rief: „Hoch soll er leben! Hoch soll er leben! Dreimal hoch!“

Die Telefonfräuleins stemmten große Blumensträuße in die Luft. Und der Chefkonditor streckte Mäxchen eine Ananastorte entgegen. Sie war so groß wie ein Ersatzreifen für ein Lastauto.

„Na, was hab ich dir gesagt?“ meinte der Kleine Mann zu Jakob. „Ananastorte!“

Jakob verzog das Gesicht. „Gibt’s denn hier nichts andres? Ist das etwa ein Ananashotel? Ein Kalbshaxenhotel wäre mir entschieden lieber.“

Mäxchen winkte dem Hoteldirektor. „Gibt es heute Kalbshaxen?“

„Mindestens drei Dutzend“, meinte der Direktor. „Zart wie Butter.“

„Wie viele willst du essen?“ fragte Mäxchen.

„Eine genügt“, erklärte Jakob. „Wenn’s geht, mit Kartoffelsalat.“

„Sehr wohl. Eine Kalbshaxe mit Kartoffelsalat für den jungen Herrn“, wiederholte der Hoteldirektor.

„Nicht doch“, sagte Jakob. „Für mich!“

Rosa Marzipan fuhr mit Mäxchen im Lift hoch. Sie hielt den Kleinen Mann mit beiden Händen fest und legte sein Gesicht zärtlich an ihre Marzipanwange.

„Weiß er’s schon?“ fragte Mäxchen.

Sie nickte. „Seit fünf Minuten. Er wollte aber nicht in die Halle kommen.“

Der Lift bremste. Rosa ging den Korridor entlang und klopfte. „Wir sind’s!“

Die Tür öffnete sich. Der Professor breitete beide Arme aus und sagte: „Herein mit euch!“ Seine Stimme klang, als sei er erkältet.

Rosa schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich kann Männer

nicht weinen sehen. In einer Stunde hole ich euch wieder ab.“ Dann drückte sie dem Jokus den Kleinen Mann in die Hand, machte einen tiefen Knicks und lief zum Lift zurück. Fort war sie.

Als sie eine Stunde später ihr Ohr an die Tür legte, staunte das Ohr nicht schlecht. Von Schluchzen war wohl schon lange keine Rede mehr. Was Rosa hörte, waren Kommandorufe! Und wie sie behutsam die Tür öffnete, sah sie Mäxchen auf dem schönen Waldemar herumturnen. Er trainierte, was das Zeug hielt.

„Noch schneller, Söhnchen!“ befahl der Jokus. „Noch geschmeidiger! Du bist ja dick geworden! Der Kummerspeck muß weg! Was muß weg?“

„Der Kummerspeck!“

„Was muß weg?“

„Der Kummerspeck!“ juchzte Mäxchen und verschwand in Waldemars Krawatte. Schon löste sich der Knoten, und Mäxchen rutschte mit der Krawatte, von der Hand des Jokus unauffällig gelenkt, in dessen linke Tasche.

Der schöne Waldemar blickte stur geradeaus und hatte nichts gespürt. Rosa blickte durch die offene Tür und hatte nichts bemerkt. „Bravo, die Artisten!“ rief sie und klatschte in die Hände. Emma und Minna, die zwei Tauben, hüpften auf dem Schrank hin und her und schlugen begeistert mit den Flügeln.

„Noch zwei Trainingsstunden, und er ist fit“, sagte der Jokus befriedigt. „Am Freitag können wir wieder auftreten.“ Mäxchen fuhr mit dem Kopf aus der Tasche des Professors wie der Teufel aus der Schachtel. „Das ist unmöglich, Euer Gnaden! Am Freitag fliege ich mit dem kahlen Otto und dem Puddingbernhard zum Senor Lopez nach Südamerika!“

„Das sind aber verwegene Namen“, meinte Rosa. „Da kriegt man ja überall Gänsehaut.“

Mäxchen rieb sich die Hände. „Zeig her! Marzipan mit Gänsehaut überall wollte ich schon immer mal sehen!“

Rosa zwinkerte dem Jokus zu. „Das Leben in Verbrecherkreisen scheint leider auf Herrn Pichelsteiner abgefärbt zu haben. Er ist frivol geworden.“

Jokus angelte Mäxchen aus der Tasche. „Ich stecke ihn in König Bileams Badewanne. Seife säubert Leib und Seele.“

Das Essen fand im Blauen Salon statt und verlief sogar zu Jakobs Zufriedenheit. Bei der Kalbshaxe traten ihm allerdings die Tränen in die Augen. Doch das lag nur an dem scharfen englischen Senf, den er noch nicht kannte. „Man lernt nicht aus“, sagte er und wedelte sich mit der Serviette kühle Luft in den aufgesperrten Mund.

Der Jokus verzehrte nicht vier Schnitzel, sondern nur zwei. Und auch das brauchte seine Zeit. Denn es gab mancherlei zu bereden. Mit Direktor Brausewetter wegen der Zirkusvorstellung am Freitag. Zwischendurch mit den Reportern draußen vorm Salon und am Telefon. Und nicht zuletzt mit Kommissar Steinbeiß, der, wenn auch spät, aus dem Polizeipräsidium herüberkam.

Die anderen saßen schon beim Nachtisch. „Oh, Ananastorte!“ rief er begeistert. „Mein Leibgericht!“ Und dann verputzte er drei immens große Stücke.

Mäxchen und Jakob fanden das sehr komisch. Doch sie wurden bald wieder ernst. Denn der Jokus fragte den Kommissar beim zweiten Stück Ananastorte: „Wer erhält nun eigentlich die von mir ausgesetzte Belohnung?“

„Der Jakob!“ meinte Mäxchen. „Das ist doch klar wie dicke Tinte!“

„Ich? Wieso ich? Das wäre ja noch schöner“, widersprach Jakob. „Wenn mich Mäxchen nicht so gemein beschimpft hätte, säße ich nach wie vor am Fenster und wüßte von nichts. Genausogut könnten Sie Ihr Geld dem kahlen Otto ins Gefängnis schicken. Denn schließlich war’s ja er, der Mäxchen befreit hat!“

„Aber doch, ohne daß er’s wußte“, stellte Direktor Brausewetter fest. „Er wollte Baldriantropfen holen, weiter nichts.“ „Und was wollte ich?“ fragte Jakob Hurtig. „Ich wollte weiter nichts als einen Schreihals verhauen.“

„Zwischen deinen Handflächen zerreiben!“ rief Mäxchen vergnügt. Er saß auf dem Tisch und ließ sich von Rosa mit Ananastorte füttern.

„Noch ein Häppchen?“ fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Danke nein. Jetzt nur noch etwas Marzipan mit Gänsehaut!“

Sie drohte ihm mit der Kuchengabel. „Das ist nichts für kleine Jungen.“

„Ich weiß schon“, stichelte er. „Du hast die ganze Riesenportion für den Jokus reserviert.“

Da wurde Rosa rot. Aber außer Mäxchen sah es niemand. Denn der Kommissar schob gerade den Teller zurück und erklärte energisch: „Daß der Kleine Mann nicht verschleppt werden konnte, verdankt er sich selber. Er war der Gesuchte und der Finder in ein und derselben Person. Wenn mir jemand das Gegenteil beweist, werde ich noch heute Schornsteinfeger.“


Na, an einem so einschneidenden Berufswechsel wollten die anderen natürlich nicht schuld sein. Schon deshalb widersprach keiner, und es wurde noch ziemlich fidel. Mäxchen schoß den Vogel ab. Er imitierte den kahlen Otto, schwankte auf dem Tisch zwischen den Tellern und Tassen hin und her und gab dabei all das zum besten, was der alte Trunkenbold Otto über den Senor Lopez, die Burg in Südamerika, die unterirdische Gemäldegalerie, die Zigeunerin, die Leibgarde und die niedlichen Ballettratten ausgepackt hatte.

Der einzige, der über Mäxchens Meisterleistung nicht in einem fort lachte, sondern nur gelegentlich schmunzelte, war der Kriminalkommissar Steinbeiß. Er stenografierte alles mit, was der Kleine Mann vortrug. Dann klappte er hörbar sein Notizbuch zu und verabschiedete sich rasch. „Ich muß die beiden Strolche noch ein paar Stunden ins Gebet nehmen“, sagte er.

„Bei Lopez ist sogar die Interpol machtlos“, rief ihm Mäx-chen nach. „Der Mann ist viel zu reich!“

Der Kommissar, der schon in der Tür stand, stutzte und drehte sich noch einmal um. „Klein, aber oho!“ meinte er anerkennend. „Wie wär’s? Willst du mein Assistent werden?“

Mäxchen machte eine elegante Verbeugung. „Nein, Herr Kommissar, ich bin und bleibe Artist.“

Als Jakob Hurtig hurtig ins Bett gehen wollte und seine Jacke über den Stuhl hängte, hörte er, wie in deren Innentasche Papier knisterte. Er entdeckte einen auf seinen Namen ausgestellten Verrechnungsscheck, las die Summe, flüsterte „Mensch, Meier!“ und setzte sich auf die Bettkante.

Auch ein Zettel war dabei. Darauf stand: „Lieber Jakob, herzlichen Dank für Deine Hilfe. Deine neuen Freunde Mäx-chen und Jokus.“ Die Zahl bestand aus fünf Ziffern. Und wenn es sich auch nur um die kleinste fünfstellige Zahl handelte, die es gibt, so war es ja doch eine Menge Geld für einen Jungen, dessen Vater Bezirksvertreter für Anbaumöbel ist.

(Nur so ganz nebenbei: Wie heißt die kleinste fünfstellige Zahl, die es gibt?)

Als der Jokus mit Mäxchen ins Hotelzimmer kam, lag die alte, gute Streichholzschachtel mitten auf dem Nachttisch. Und unter der Schachtel lag ein Zettel. Darauf stand: ,Lieber Kleiner Mann, anbei und wunschgemäß Dein Himmelbett aus der Kickelhahnstraße. Müller II, Kriminalinspektor.‘

Mäxchen rieb sich die Hände und sagte: „Nun fehlt mir gar nichts mehr.“

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