DAS ACHTE KAPITEL

Der Jokus ist ein Einzelgänger /Mäxchen als Klettermäxchen / Die vertauschten Fräcke / Die drei Schwestern Marzipan / Was ist ein Trampolin? / Galoppinski zaubert zu Pferde / Jokus von Pokus will nicht auftreten.


Sie trainierten jeden Vormittag mehrere Stunden. Hinterher badete der Kleine Mann in der Seifenschale. Sie trainierten in jeder Stadt, wo der Zirkus Stilke gastierte. Wenn sie reisten, lag die Schaufensterpuppe im Gepäcknetz ihres Zugabteils, und sie gaben acht, daß Waldemar nicht hinunterfiel.

Sie fuhren nicht mit den unzähligen Zirkuswagen, die an einen oder mehrere Güterzüge angehängt werden mußten: den Wohnwagen, den Wagen mit den Pferden und den Raubtierkäfigen, den Wagen mit dem Zelt, den Kabeln für die tausend Glühlampen, den Musikinstrumenten, den Heizmaschinen, den Trapezen und Drahtseilen, den Plakaten und Schildern, den Kostümen und Teppichen und Stühlen und Treppenstufen und Bambusstangen und Kassenschaltern und Tierpflegern und Buchhalterinnen und Handwerkern und dem Handwerkszeug und dem Heu und dem Stroh und auch nicht mit dem Direktor Brausewetter, seinem Zylinder und seiner Frau, seinen vier Töchtern und zwei Söhnen und den Schwiegersöhnen und Schwiegertöchtern und den sieben Enkeln und den - jetzt hab ich tatsächlich den Faden verloren ... Was wollte ich eigentlich erzählen?

Ich weiß es schon wieder. Sie reisten nicht mit dem Zirkus, sondern in Schnellzügen. Und sie hausten nicht im Wohnwagen, sondern in Hotelzimmern. Der Professor war, wie er sagte, ein geborener Einzelgänger. „Ich liebe den Zirkus sehr“, meinte er. „Aber nur, wenn er voll ist. Davon abgesehen liebe ich das Leben und das schöne Wetter.“

„Und mich!“ rief Mäxchen, so laut er konnte.

„Dich“, sagte der Jokus zärtlich, „dich liebe ich noch einen Zentimeter mehr als das schöne Wetter.“

Schon nach einem halben Jahr kletterte der Kleine Mann auf dem schönen Waldemar herum wie ein Bergsteiger in den Dolomiten oder in der Sächsischen Schweiz, nur daß er nicht angeseilt war. Das war gefährlich. Denn die Schaufensterpuppe war ja für ihn so groß wie für unsereinen ein Hochhaus.

Zum Glück war der Junge völlig schwindelfrei. Er kletterte beispielsweise die Hose hoch, schlüpfte unters Jackett, lief quer über den Hosenbund, hangelte die Hosenträger empor, sprang zur Krawatte hinüber, stieg in deren Innenfutter hoch wie in einem Felskamin, rastete kurz am Krawattenknoten, schwang sich dann auf den Rockaufschlag und rutschte, vom Knopfloch aus, mitten in die Brusttasche hinein.

Das war nur eine seiner erstaunlichen Bergtouren. Die anderen will ich nicht lang und breit beschreiben. Ihr wißt ja: Was ich erzähle, das stimmt sowieso. Ich will euch auch nicht näher erklären, wozu und warum Mäxchen täglich klettern mußte. Vorläufig müßt ihr euch damit zufriedengeben, daß er selber es wußte. Doch er sprach mit niemandem darüber. Und der schöne Waldemar wußte es natürlich auch. Aber Puppen, auch Schaufensterpuppen, können schweigen wie das Grab.

Jedenfalls, der Professor war mit Mäxchens Fortschritten sehr zufrieden. Manchmal nannte er ihn sogar ,mein Kletter-mäxchen‘. Das war ein großes Lob, und der Kleine Mann bekam vor Stolz Glitzeraugen.

Trotz solcher Fortschritte hätte die Zauberlehrlingszeit mindestens noch ein Vierteljahr gedauert, vielleicht sogar vier Monate, wenn nicht eines Abends die zwei Fräcke verwechselt worden wären. Welche zwei Fräcke? Der Frack des Professors und der Frack des Kunstreiters Galoppinski! Das war eine tolle Geschichte!

Der Herr Direktor Brausewetter glaubt noch heute, das Ganze sei ein Zufall gewesen. Außer ihm glaubte das im Zirkus Stilke aber niemand. Kein Feuerschlucker, kein falscher Chinese, kein Eisverkäufer und keiner vom Drahtseilakt. Und die ,Drei Schwestern Marzipan‘ glaubten es schon gar nicht. Rosa Marzipan, das hübscheste der drei Fräuleins, behauptete, es habe sich um einen niederträchtigen Racheakt gehandelt.

Ich vermute, sie hatte recht. Wahrscheinlich war Eifersucht im Spiel. Denn Fräulein Rosa Marzipan verdrehte allen Männern den Kopf. Obwohl sie das gar nicht wollte.

Schon wenn die Schwestern knicksend in die Manege hüpften, in ihren kurzen Gazeröckchen und den hautfarbenen Trikots, trampelten und klatschten die Zuschauer begeistert. Einen appetitlicheren Anblick konnte man sich aber auch nicht vorstellen. Sie sahen zum Anbeißen aus. Kein Wunder, daß sie Marzipan hießen!

Und wenn sie sich dann auf das straffgespannte Trampolin geschwungen hatten, hoch, immer höher und noch viel höher sprangen, Kobolz schlugen, waagerecht in die Luft schwebten oder Saltos drehten, dann nahm der Jubel kein Ende. Man konnte denken, die drei jungen Damen seien nicht schwerer als drei Straußenfedern. Wo sie doch in Wirklichkeit zusammen drei Zentner wogen, und das sind immerhin dreihundert Pfund!

Rosa Marzipan, die schönste, wog einhundertundfünf (105) Pfund und vierundachtzig (84) Gramm. Das ist nicht sonderlich viel. Ich selber wiege zum Beispiel einhundertundzweiundvierzig (142) Pfund, und das sind nur siebenunddreißig (37) Pfund mehr. Trotzdem käme kein Mensch auf den Gedanken, mich mit einer schwebenden Straußenfeder zu vergleichen oder vor mir niederzuknien und zu behaupten, er finde mich zum Anbeißen. Mir passiert so etwas nie. Im Leben geht es nicht immer gerecht zu. Für die unter euch, die nicht wissen, was ein Trampolin ist, möchte ich anmerken, daß es sich um so etwas Ähnliches wie eine Matratze handelt. Auch ihr seid sicher schon oft im Bett herumgesprungen und habt euch gefreut, wie schön die Matratze federt, wie leicht man plötzlich wird und was für Sprünge man machen kann. Ein Trampolin ist nur länger und breiter als eine Matratze und so straff gespannt wie das Fell einer Trommel oder Pauke.

Wer es gelernt hat, darauf zu wippen und sich hochzuschnellen, der fliegt wie ein Pfeil in die Luft, bleibt fünf oder gar sechs Sekunden oben und kann sich dort kugeln und überschlagen, als wöge er nicht viel mehr als ein Luftballon. Das kann er. Aber nur, wenn er’s kann.

Und aufs Trampolin geschickt zurückfallen, das muß er natürlich auch können. Denn wenn er nicht aufs Trampolin fiele, sondern daneben, dann bräche er sich sämtliche Knochen. Nun, die drei Schwestern Marzipan, die konnten es. Sie hatten es als Kinder von ihren Eltern gelernt, die auch schon Luftspringer gewesen waren.

Doch nun zurück zu den verwechselten Fräcken. Man konnte es ihm zwar nicht nachweisen, aber wahrscheinlich hatte es Fernando getan, einer der Musikclowns. Er blies im Zirkus eine Mundharmonika, die so groß war wie eine Zaunlatte, und eine andre, die so klein war, daß er sie jeden Abend verschluckte, und dann spielte sie in seinem Magen weiter. Die Zuschauer fanden das sehr lustig. Er selber war freilich seit langem melancholisch und gallenleidend. Weil er das Fräulein Rosa Marzipan liebte und sie nichts von ihm wissen wollte. Denn sie liebte den Professor Jokus von Pokus.

Das ärgerte den Clown bis aufs Blut. Und deshalb vertauschte er eines Tages eine Viertelstunde vor der Vorstellung in der Garderobe die zwei Fräcke! Den Frack des Kunstreiters hängte er mit dessen Zylinder an den Haken des Professors. Und den Zauberfrack samt dem Zauberzylinder hängte er an den Garderobenhaken des Kunstreiters. Dann schlich er auf den Zehenspitzen davon.

Als nun Meister Galoppinski auf Nero, seinem pechschwarzen Hengst, in die Manege sprengte, ihn scharf durchparierte und zum Gruße den Zylinder schwenkte, hüpfte Alba, das schlohweiße Kaninchen, aus dem Hutfutter, sprang in den Sand und hoppelte erschrocken im Kreise herum! Davon wurde das Pferd scheu und bäumte sich auf. Herr Galoppinski klopfte ihm beruhigend den Hals. Bei dieser Gelegenheit flog die Taube Minna aus dem linken Frackärmel, flatterte nach allen Seiten und suchte den kleinen Tisch mit ihrem Käfig und der offenen Käfigtür zum Hineinschlüpfen. Doch der Tisch und der Käfig standen ja noch gar nicht in der Manege!

Der Hengst begann zu bocken und nach hinten und vorn auszuschlagen. Die Kapelle spielte den Walzer aus der Operette ,Die Fledermaus’ und hoffte, das Pferd werde nun seine berühmten Tanzschritte machen. Es tänzelte aber ganz und gar nicht, sondern jagte, als sei es von einem Bienenschwarm überfallen worden, durch die Arena. Der Kunstreiter konnte es kaum noch zügeln.

Das Publikum in den ersten Sitzreihen riß es von den Plätzen hoch. Viele Leute schrien vor Angst. Eine Dame fiel in Ohnmacht. Die Taube Emma flatterte aus Galoppinskis rechtem Ärmel. Er packte die Zügel noch kürzer. Da sprang der Hengst mit allen vieren gleichzeitig in die Luft und wieherte wild. Der Reiter griff zur Peitsche und wollte das ungebärdige Tier schlagen. Doch es war gar nicht die Peitsche, sondern der Zauberstab, der sich sofort in einen riesigen Blumenstrauß verwandelte! Das Pferd riß ihm ärgerlich die Blumen aus der Hand und wollte sie fressen. Aber sie waren aus buntem Papier, und es spuckte sie angewidert aus.

Jetzt wollte sich das Publikum totlachen. Das Kaninchen machte Männchen. Die Tauben flatterten ratlos um Galoppinskis Zylinder. Die Kapelle intonierte den Hohenfriedberger Marsch. Der Kunstreiter gab dem Hengst die Sporen, damit er sich endlich zusammennehme und im Takte der Musik marschiere. Aber der Rappe war es nicht gewohnt, daß man ihm vor allen Leuten die Sporen in die Flanken stieß. Er keilte aus und hörte nicht auf, sich zu schütteln und um sich zu schlagen, bis Galoppinski, einer der besten Schulreiter der Welt, im hohen Bogen aus dem Sattel flog und in den Sand fiel!


Dann jagte der Hengst mit donnernden Hufen aus der Manege hinaus und zurück in seinen Stall. Der Reiter erhob sich und humpelte ächzend hinterdrein. Das Publikum war außer Rand und Band, und das waren immerhin zweitausend Menschen. Das Zirkuszelt zitterte vor lauter Gelächter. Einen Zauberkünstler zu Pferde, der schließlich abgeworfen wurde, hatte man noch nicht gesehen!

Herr Direktor Brausewetter stand in der Zeltgasse und rief außer sich: „Das ist eine Katastrophe! Das ist eine Katastrophe!“

Galoppinski, der ihn im Vorbeihinken hörte, sagte zähneknirschend: „Eine Katastrophe nennen Sie das? Ich nenne so etwas eine Schweinerei! Eine Riesenschweinerei! Wer hat mir das eingebrockt? Her mit ihm! Ich verfüttere den Kerl an die Löwen! Aua!“ Er hielt sich das Kreuz und schnitt vor Schmerzen Grimassen.

Der Professor stürzte in die Manege hinaus, packte das Kaninchen an den Löffeln, lockte die beiden Tauben, bis sie sich auf seine ausgestreckte Hand gesetzt hatten, rannte mit den dreien in die Zeltgasse zurück und war außer sich und außer Atem. „Ich bin bis auf die Knochen blamiert!“ schimpfte er. „Wenn der Präsident des Magischen Zirkels davon erfährt, komme ich vors Ehrengericht! Weil ich das Ansehen der Zauberkünstler geschädigt habe!“

„Aber doch nicht durch Ihre eigene Schuld!“ besänftigte ihn Direktor Brausewetter.

„Ich verlange Schmerzensgeld!“ brüllte Galoppinski. „Erst haben mich zweitausend Leute ausgelacht, und dann bin ich auch noch vom Pferd gefallen!“

„In zehn Minuten müßte ich auftreten“, rief der Professor. „Ich denke nicht im Traum daran! Nachdem der Herr Kunstreiter meinen Zauberfrack lächerlich gemacht hat? Niemals! Und einen der teuren Blumensträuße hat sein Gaul gefressen!“ „Ausgespuckt hat er das blöde Zeug!“ kreischte Galoppinski, machte vor Zorn einen Luftsprung und sagte wieder: „Aua!“

„Ruhe, meine Herren!“ bettelte Direktor Brausewetter. „Das Programm muß weitergehen! Was soll jetzt werden?“ „Ich trete unter keinen Umständen auf, und wenn Sie vor mir auf die Knie fallen“, erklärte der Professor. „Ich nehme meine Tiere, fahre ins Hotel und trinke eine Flasche Kognak leer!“

„Nein, lieber Jokus“, rief da der Kleine Mann laut aus der Brusttasche. „Ich habe eine gute Idee! Halte mich doch einmal an dein Ohr! Es ist sehr wichtig!“ Und als ihn der Jokus hochhielt, begann Mäxchen geheimnisvoll zu wispern und zu flüstern.

Der Professor hörte erstaunt zu, schüttelte den Kopf und sagte: „Nein. Du mußt mindestens noch drei Monate trainieren. Es wäre verfrüht.“

Mäxchen gab aber keine Ruhe. „Sie haben dich geärgert“, flüsterte er, „und das lassen wir uns nicht gefallen.“

„Nein, Mäxchen, heute noch nicht!“

„Gerade heute!“

„Es ist zu früh!“

„Bitte bitte! Sag ja! Ich wünsche mir’s zum Geburtstag und außerdem gar nichts anderes! Nicht einmal die Puppenwohnstube!“

„Du hast doch erst in einem halben Jahr Geburtstag.“

„Trotzdem, lieber Jokus!“

In diesem Augenblick spürte der Professor ein paar ganz, ganz kleine Tränen an seinem großen Ohrläppchen. Da holte er tief Luft und sagte: „Herr Direktor Brausewetter, ich habe es mir überlegt. Ich werde den Kognak später trinken. Ich trete auf! Kündigen Sie mich am Mikrophon an! Tun Sie es persönlich!“

„Mit dem größten Vergnügen!“ rief der Herr Direktor erleichtert. „Und was soll ich dem Publikum sagen?“

„Sagen Sie den Leuten, ich zauberte heute zum allerersten Male mit meinem Zauberlehrling zusammen! Und die Nummer heiße ,Der große Dieb und der Kleine Mann‘!“

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