DAS ACHTZEHNTE KAPITEL

Wer hat die weiße Kellnerjacke gekauft? / Große Aufregung im , Goldenen Schinken ‘ / Ein Bericht im Abendblatt / Der kahle Otto brüllt / Das leere Haus / Bernhard ist der gefährlichere /Mäxchen untersucht nachts das verteufelte Zimmer.


Die weiße Kellnerjacke war zwei Tage, bevor der Kleine Mann entführt wurde, in der Innenstadt gekauft worden. In einem Fachgeschäft für Berufskleidung. Das hatte die Polizei schließlich festgestellt. Dort gab es Fleischerschürzen, Konditormützen, Ärztekittel, Häubchen für Krankenschwestern, Overalls für Kanalarbeiter, Taucherhelme, Ärmelschoner für Buchhalter, Knieschützer für Parkettler und Pflasterer, kurz, es war ein großer und bunter Laden. Und die Verkäufer waren zu den Kriminalbeamten äußerst zuvorkommend gewesen. Aber wer die weiße Kellnerjacke gekauft und wie er ausgesehen hatte, das wußte niemand mehr.

Rosa Marzipan hatte den Jokus gezwungen, mit ihr in ein Restaurant zu gehen. „Du mußt endlich wieder etwas essen“, hatte sie erklärt. „Du kannst nicht immer im Hotelzimmer sitzen und die Wand anstarren. Das hilft uns auch nicht weiter. Und du selber wirst am Ende krank.“

Nun saßen sie also im , Goldenen Schinken‘, so hieß das Lokal, und der Jokus starrte nicht an die Wand, sondern auf den Teller. Er brachte keinen Bissen hinunter und kein Wort heraus. So ging das nun schon anderthalb Tage, und das Marzipanfräulein machte sich ernste Sorgen. Eine Tasse Fleischbrühe hatte er getrunken. Das war alles.

Um ihn zu trösten, sagte sie: „Morgen, spätestens übermorgen, ist Mäxchen wieder da. Er ist viel zu schlau und zu flink, als daß er sich länger einsperren ließe. Keine zehn Pferde könnten ihn zurückhalten!“

„Es sind leider keine Pferde“, erwiderte der Jokus. „Es sind Verbrecher. Wer weiß, was sie dem kleinen Kerl angetan haben.“ Er seufzte. Dann schüttelte er den Kopf. „Nicht einmal die hohe Belohnung scheint sie zu locken! Dabei hatte ich so gehofft, daß sie mich gerade deswegen anrufen würden.“

„Sie haben Angst vor der Polizei.“

„Ich hätte sie Mäxchen zuliebe nicht verraten“, murmelte der Jokus und starrte auf seinen Teller. Auch Rosa Marzipan hatte keinen Appetit. Aber sie ließ sich’s nicht allzu sehr anmerken, sondern aß ein paar Happen, weil sie dachte, er werde halb aus Versehen mitessen. Es war vergebliche Liebesmühe.

Während sie mit der Gabel in ihrem Kalbsgulasch herumstocherte, sprang plötzlich an einem der anderen Tische ein Gast auf und gab dem Zeitungsverkäufer, der rundum das neueste Abendblatt anbot, eine saftige Ohrfeige. „Was fällt Ihnen ein?“ brüllte der Herr. „Legen Sie sofort meine Streichholzschachtel wieder hin!“

„Bravo!“ rief jemand am Nebentisch. „Von mir kriegt er auch gleich eine Backpfeife!“

„Bei mir hat er dasselbe versucht!“ schrie ein Dritter. „Herr Ober, holen Sie sofort den Geschäftsführer!“

Es war ein richtiger Aufruhr. Der Zeitungsverkäufer hielt

sich die Backe. Die Gäste hielten den Zeitungsverkäufer. Der Oberkellner holte den Geschäftsführer. Der Geschäftsführer winkte einem Pikkolo. Der Pikkolo holte den Polizisten von der nächsten Straßenecke. Der Polizist holte sein Notizbuch aus der Tasche.

„Ich weiß überhaupt nicht, was Sie wollen“, schimpfte der Zeitungsverkäufer. „Dauernd heißt es im Rundfunk, die Bevölkerung soll wachsam sein, weil der Kleine Mann gekid-nappt wurde! Und wenn man dann wachsam ist und beispielsweise in fremde Streichholzschachteln guckt, ob der Kleine Mann vielleicht drinsteckt, kriegt man Ohrfeigen. Das gefällt mir aber gar nicht, Herr Wachtmeister!“

Kaum hatten das die Gäste und der Polizist gehört, waren alle miteinander ein Herz und eine Seele. Jeder entschuldigte sich bei jedem. Und auch der Zeitungsmann ärgerte sich nicht länger. Er verkaufte im Handumdrehen sämtliche Abendblätter aus seiner Umhängetasche und ging befriedigt von dannen.

Der Wachtmeister durfte auf Geschäftskosten am Ausschank ein Bier trinken.

Wo man auch hinschaute, überall wurde das Abendblatt studiert. Es war zwar neu, aber Neues über Mäxchen stand nicht darin. Trotzdem hatte der Gerichtsreporter einen kurzen Artikel über den ungeklärten Kriminalfall verfaßt. Alle Gäste im ,Goldenen Schinken‘ lasen ihn, und ihr Essen wurde kalt. Auch Rosa Marzipan und der Jokus blickten, dicht aneinandergelehnt, in die Zeitung. Dort stand auf der ersten Seite rechts oben:

Rätsel um den Kleinen Mann

Wo ist er? Wo hat man ihn verborgen? In welcher Straße? In welchem Hause? In welchem Zimmer? Eine ganze Stadt hält den Atem an. Eine ganze Stadt ist ratlos. Kriminalkommissar Steinbeiß zuckt die Achseln. Er und seine Beamten sehen übernächtig aus. Was haben sie bis jetzt entdeckt? Eine weiße Kellnerjacke in einem Mülleimer. Und das Geschäft, wo die weiße Jacke gekauft wurde.

Sonst? Nichts. Wie sah der Käufer aus? War es der falsche Kellner‘? Oder war es ein Komplice? Stieg der Verbrecher, der den Kleinen Mann entführte, in ein Auto, das auf ihn wartete? Verlor er sich zu Fuß in der Menge?

Pausenlos prüft die Kriminalpolizei Hunderte von telefonischen und brieflichen Hinweisen aus den Kreisen der Bevölkerung. Die Arbeit ist ungeheuer. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Das Resultat ist null. Trotzdem darf unsere Wachsamkeit nicht nachlassen.

Mögen auch tausend Fingerzeige in die Irre führen, so wäre die Mühe reichlich belohnt, wenn der tausendunderste Hinweis dazu verhülfe, den Kleinen Mann, diesen Liebling der Bevölkerung, gesund an Leib und Leben in unsere Mitte zurückzubringen.

Ja, es war schlimm. Sehr schlimm. Niemand kannte die Straße, das Haus und das Zimmer, wo Mäxchen gefangengehalten wurde. Und wie viele Straßen, Häuser und Zimmer gibt es in einer Großstadt mit mehr als einer Million Einwohnern!

Nicht einmal Mäxchen selber wußte, wo er war. Er kannte nur das Zimmer, wo Bernhard und der kahle, versoffene Otto ihn bewachten. Und das war eines jener billig möblierten Zimmer, die einander so ähnlich sind wie Konfektionsanzüge. Doch auch wenn es ein Salon mit venezianischen Spiegeln und mit einem Selbstporträt von Goya an der Wand gewesen wäre, was hätte es dem kleinen Gefangenen genützt? Die Hausnummer und den Straßennamen hätte er dadurch auch nicht erfahren.

Etwas hatte er allerdings dem Jokus, dem Marzipanmädchen, der Polizei, dem Zirkus und der übrigen Welt voraus: Er wußte zuverlässig, daß er noch immer gesund und am Leben war! Das wußte die übrige Welt nicht. Und Mäxchen machte sich große Sorgen, daß sich der Jokus deshalb große Sorgen machte. Ja, es war schon schlimm. Sehr schlimm.

Die beiden Gauner paßten auf wie die Heftelmacher. Meist zu zweit. Allein ließen sie ihn keine halbe Sekunde. Auch nachts nicht. Einer saß immer neben der Streichholzschachtel und bewachte ihn. Zum Essen verschwanden sie abwechselnd. Und sie aßen, um niemandem aufzufallen, jeden Tag in anderen Restaurants.

Mäxchens kleine Mahlzeiten briet und kochte Otto auf einem Propangaskocher. Er tat es mehr schlecht als recht, obwohl er sich ziemlich viel Mühe gab. „Iß mal tüchtig“, sagte er immer. „Denn wenn du krank wirst oder abkratzt, läßt uns Lopez verkehrt aufhängen.“

„Wer ist denn eigentlich dieser Senor Lopez?“ fragte Mäxchen.

„Das geht dich einen feuchten Dreck an!“ antwortete Otto gereizt und funkelte böse mit seinen rotgeränderten Schlitzaugen.

Mäxchen lächelte und schwieg. Dann sagte er plötzlich: „Mach bitte das Fenster auf. Ich brauche frische Luft.“

Otto stand ächzend auf, öffnete das Fenster und setzte sich wieder.

Nach einer Weile tat Mäxchen, als ob ihn fröre. „Mich friert. Mach bitte das Fenster zu!“

Otto stand ächzend auf, schloß das Fenster und setzte sich wieder.

Fünf Minuten später fragte Mäxchen: „Ist noch etwas von dem Ananastörtchen übrig?“

Otto stand ächzend auf, blickte in den Schrank, setzte sich wieder und knurrte: „Nein. Du hast es aufgefressen.“

„Geh doch bitte in die Konditorei und hol mir ein neues!“ „Nein!“ brüllte Otto, daß die Wände zitterten. „Nein, du kleine Kanaille!“ Dann besann er sich, daß er für Mäxchens Wohlbefinden verantwortlich war, gab sich einen Ruck und erklärte so sanft, wie er konnte: „Ich hole dir eines, wenn Bernhard vom Mittagessen zurück ist.“

„Besten Dank im voraus“, sagte Mäxchen freundlich und wartete gespannt, daß irgend etwas geschähe. Daß jemand an die Wohnungstür klopfe oder daß es klingle und daß jemand aus dem Hause sich wütend erkundige, warum mittags so abscheulich gebrüllt werde. Denn nur deswegen schikanierte er ja den kahlen Otto bis zum Weißglühen! Der Kerl sollte ja brüllen! Wie am Spieße!

Merkwürdig, dachte der Kleine Mann. Zu zwei Zimmern gehört schließlich ein ganzes Haus ... Und in einem Haus wohnen schließlich Leute ... Aber es klopft keiner, und es klingelt niemand ... Wo bin ich bloß? Er ließ sich’s nicht anmerken, wie ihm zumute war. Aber insgeheim hatte er schreckliche Angst. Könnt ihr das verstehen? Er benahm sich frech wie Oskar. Und dabei zitterte er wie Sülze.

Am meisten fürchtete er sich vor Bernhard, weil der niemals brüllte. Die Stimme klang so kalt, als komme sie geradewegs aus dem Eisschrank. Wenn er sprach, fror man. Und Mäxchen hütete sich, ihn zu schikanieren. Zum Glück war Bernhard häufig außer Haus. Wenn er zurückkehrte, fragte Otto jedesmal: „Was Neues?“ und Bernhard erwiderte meistens nur: „Nein.“ Oder: „Wenn’s was Neues gibt, werde ich dir’s schon erzählen.“ Oder: „Halt die Klappe!“ Oder: „Los! Geh essen! Hau ab!“

Ein einziges Mal platzte Otto Bernhard gegenüber der Kragen. Er brüllte: „Ich hab es satt, in dieser Bruchbude zu hocken und bei einem Zwerg Kindermädchen zu spielen! Wann fliegen wir endlich?“

Bernhard musterte den andern wie einen alten angeketteten Hofhund. Dann sagte er: „Wir sollen warten, bis die Polente weniger scharf kontrolliert. Das kann noch ein paar Tage dauern.“

„So ein Scheibenkleister!“ schimpfte Otto. „Wenn es nach mir ginge, säßen wir längst nicht mehr hier.“

Bernhard nickte. „Stimmt! Wenn es nach dir ginge, säßen wir längst im Zuchthaus.“

Otto süffelte sein Schnapsglas leer, stand ächzend auf und schob brummend zum Essen ab. Nun ließ sich Bernhard in dem leer gewordenen Sessel nieder und las gelangweilt Zeitung.

Nach einer Weile fragte Mäxchen und machte dazu ein unschuldiges Gesicht wie ein Gänseblümchen: „Wo soll denn unsere Reise hingehen?“

„Ich bin manchmal schwerhörig“, antwortete Bernhard, ohne die Zeitung sinken zu lassen.

„Wenn’s weiter nichts ist“, meinte der Junge. „Ich kann auch lauter!“ Und schon schrie er gellend: „Wo soll denn unsere Reise hingehen?“

Da legte Bernhard die Zeitung langsam aus der Hand. „Jetzt habe ich dich verstanden“, sagte er leise. Er war grün vor Wut. „Aber gib dir keine Mühe, du halber Zwerg. Hier hört dich keiner.“ Er griff wieder nach der Zeitung. „Trotzdem rate ich dir, dich anständig aufzuführen. Denn ich habe den Auftrag, dich lebendig abzuliefern. Lebendig und so gesund wie möglich. Dafür kriege ich sehr viel Geld. Folglich liegt mir daran, daß du nicht krank wirst oder unter meinen Absatz gerätst. Verstehst du mich?“

„Ziemlich gut“, sagte Mäxchen und gab sich Mühe, nicht mit den Zähnen zu klappern.

„Wenn du mir allerdings Scherereien machst, pfeife ich auf das Geld. Es sind schon größere Zwerge als du ganz plötzlich gestorben.“

Mäxchen bekam eine Gänsehaut.

„Drum sei ein braves Kind“, fuhr Bernhard fort, „und denk an deine kostbare Gesundheit.“ Dann schlug er die Zeitung von neuem auf und las die Sportnachrichten.

Mäxchens Sorgen und Ängste wurden größer und größer. Die Polizei und der Jokus fanden ihn nicht. Die hohe Belohnung führte zu nichts. Und er selber wußte auch nicht weiter.

Natürlich hatte er nachts, während der kahle Otto auf der Couch lag und schlief, das Zimmer untersucht. Er war, an der Tischdecke herunter und an der Gardine hoch, aufs Fenster geklettert. Was hatte er gesehen? Auf der anderen Straßenseite eine Reihe Häuser. In der Ferne einen Kirchturm. Und das Fenster war verriegelt.

Er war auf dem Fußboden herumgekrochen und hatte die Wände und vor allem die Türleisten gründlich untersucht. Aber nirgends war auch nur die kleinste Ritze, durch die er sich hätte hindurchzwängen können. Und was wäre denn gewesen, wenn er schließlich im Korridor gestanden hätte? Dort gab es wieder Türen! Die Wohnungstür. Die Haustür. Mindestens diese zwei.

Doch über Ritzen nachzudenken, die es nicht gab, war ja sowieso unnütz. Er saß in dem verteufelten Zimmer fest wie ein Nagel in der Wand. Und die Zeit verging und war nicht zu bremsen. Bald würden die beiden Halunken, von denen er nur die Vornamen kannte, in irgendeinem Flugzeug sitzen. Mit einer unscheinbaren Streichholzschachtel in Bernhards Jackettasche.

Und in der Streichholzschachtel wären keine Streichhölzer. Statt dessen läge, für viele Stunden hübsch chloroformiert, ein gewisses Mäxchen Pichelsteiner in der Schachtel, der berühmte Kleine Mann, von dem die Welt nie wieder etwas hören und sehen würde. Die Welt nicht und, was tausendmal schlimmer war, auch nicht der berühmte Zauberkünstler und Zirkusprofessor Jokus von Pokus.

Mäxchen biß die Zähne zusammen. Ich darf nicht schlappmachen, dachte er. Ich muß aus diesem Zimmer fort. So schnell wie möglich. Es geht nicht? Mir fällt nichts ein? Ich bin dafür zu dumm? Das wäre ja gelacht!

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