Das Geheimnis de Unke

„Halt, stehen bleiben! Keinen Schritt weiter!"

Kasperl hatte kaum den Fuß über die Schwelle gesetzt, da empfing ihn eine scheußlich quakende Stimme mit diesem Ruf. Wenn ihn nicht alles täuschte, war es dieselbe Stimme, die vorhin geschluchzt hatte.

Er gehorchte ihr und blieb stehen.

Im Scheine der Laterne sah er, dass er in ein kleines, dunkles Gewölbe geraten war. Aber dieses unterirdische Gewölbe hatte keinen Fußboden! Eine Handbreit vor Kasperls Schuhspitze tat sich ein tiefer, mit schwarzem Wasser gefüllter Abgrund auf.

Unwillkürlich wich Kasperl ein Stück zurück und stemmte sich mit dem Rücken gegen den Türpfosten.

„Ist da wer?", fragte er. Seine Stimme klang dumpf und hohl, er erkannte sie gar nicht wieder.

Ein Plätschern und Glucksen ließ sich vernehmen, es drang aus der Tiefe zu ihm herauf.

„Ja, hier ist jemand", quakte es. „Wenn du dich flach auf den Boden legst und herunterschaust, siehst du mich."

Kasperl gehorchte auch diesmal.

Auf dem Bauch liegend, schob er sich Zoll um Zoll an den Abgrund heran. Die Laterne in der ausgestreckten Hand haltend, blickte er über den Rand hinunter.

„Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen."

„Hier unten im Wasser bin ich. Du musst die Laterne ein wenig tiefer halten."

Es schwamm etwas unten, im schwarzen Wasser, etwas mit großen Glotzaugen und einem breiten Schlappmaul.

„Nun?", quakte das Etwas, „jetzt siehst du mich aber!"

„Jetzt schon", sagte Kasperl.

„Und wofür hältst du mich?"

„Wenn du ein bisschen kleiner wärst, würde ich sagen: für eine Kröte. Oder für einen Frosch."

„Du irrst dich. Ich bin eine Unke."

„Aha", sagte Kasperl und dachte: „Aber für eine Unke bist du mir auch zu groß ..." Dann fügte er laut hinzu: „Und was tust du da unten?"

„Ich warte."

„Worauf denn?"

„Auf meine Erlösung. Du musst nämlich wissen, dass ich in Wirklichkeit gar keine Unke bin, sondern ..."

„Nun – was?", fragte Kasperl.

„Ich weiß nicht, ob ich dir trauen darf", quakte die Unke, die angeblich keine war. „Schickt dich der Zwackelmann?"

„Nein", sagte Kasperl, „der weiß gar nicht, dass ich hier bin. Er ist heute bei einem Kollegen in Buxtehude."

Die Unke stieß einen tiefen Seufzer aus. „Stimmt das auch?", fragte sie.

„Ja, es stimmt", sagte Kasperl, „drei Finger aufs Herz! Und nun sage mir, wer du bist, wenn du keine Unke bist!"

„Ich war einmal – eine gute Fee."

„Eine Fee?"

„Ja, die Fee Amaryllis. Aber ich sitze seit sieben Jahren als Unke in diesem Unkenpfuhl, uh-chuchu-chuuuh! Der Zwackelmann hat mich verzaubert und eingesperrt."

„Sieben Jahre?", rief Kasperl. „Entsetzlich! Warum hat der Zwackelmann das getan?"

„Weil er böse ist, schrecklich böse! Er kann mich nicht leiden, weil ich ihm manchmal ein bisschen dazwischengezaubert habe. Ich bin ihm zu gut gewesen, da hat er mich überlistet und eine Unke aus mir gemacht. Eine – uh-chu-chu-chuuuh – eine Unke!"

Die verzauberte Fee weinte bitterlich. Dicke Tränen rannen ihr über das Unkengesicht. Kasperl hätte sie gern getröstet, sie tat ihm sehr Leid. Doch was war da zu machen?

„Kann ich dir helfen?", fragte er.

„Ja, das kannst du!", schluchzte die Unke und wischte sich mit der Pfote die Tränen ab. „Du brauchst mir nur ein gewisses Kraut zu verschaffen, das Feenkraut. Es wächst ein paar Stunden von hier auf der Hohen Heide. Wenn du mir etwas von diesem Kraut bringst und mich damit berührst, bin ich frei. Es macht allen bösen Zauber sogleich zunichte. Holst du es mir? Warum schweigst du?"

„Weil ...", sagte Kasperl und stockte.

„Ja? Weil ...?"

„Weil ich hier nicht wegkann. Auch ich bin gefangen in diesem Zauberschloss. Lass dir erzählen ..."

Und Kasperl erzählte der Unke sein Abenteuer von gestern Nacht: Wie er versucht hatte auszureißen und wie es ihm dreimal missglückt war. „Wenn du mir raten kannst, wie ich hier wegkomme", schloss er, „dann hole ich dir das Feenkraut. Aber ich fürchte, du kannst es nicht."

„Woher weißt du das?", quakte die Unke. „Bedenke: Ich bin eine Fee gewesen und kenne mich einigermaßen aus in der Zauberei. Dass du das Schloss nicht verlassen konntest, liegt daran, dass Zwackelmann ringsherum einen Bannkreis gezogen hat. Aber wenn du ein Stück deiner Kleidung im Schloss zurücklässt – ein Stück, das du unmittelbar auf dem Körper trägst –, dann bist du frei und kannst gehen, wohin du magst."

„Ist das wahr?", fragte Kasperl.

„Versuche es!", quakte die Unke. „Dann wirst du schon merken, dass ich dich nicht belegen habe. Am besten lässt du dein Hemd hier. Es kann aber auch ein Strumpf sein oder dein Hut."

„Auch der Hut?", meinte Kasperl. „Er ist aber nur geborgt, er gehört nicht mir, sondern meinem Freund."

„Das spielt keine Rolle, er tut es genauso."

„Dann lasse ich selbstverständlich den Hut zurück", sagte Kasperl. „Er wird mir nicht fehlen, weil er mir sowieso nicht passt. Und nun sage mir, wo ich das Feenkraut finde und wie es aussieht, dann will ich es dir herbeischaffen."



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