Paul Fabrici, 54 Jahre alt, ein Düsseldorfer, wie er im Buche stand, hatte sich von unten hochgearbeitet. Angefangen hatte er in einem kleinen Eckladen, wo schon von seinen Eltern einer Kundschaft, die in den zwei, drei umliegenden Straßen wohnte, Milch, Butter, Eier und Käse verkauft wurde. Die Eltern hatten über Jahrzehnte hinweg ihr Auskommen gehabt und keinen besonderen Ehrgeiz entwickelt, sich geschäftlich zu vergrößern. Anders Paul, ihr Sohn. Als ganz plötzlich und eigentlich zu früh der sogenannte Erbfall für ihn eintrat, weil die Eltern einem Schiffsunglück auf dem Rhein zum Opfer fielen, war er schon von diesem Tage an entschlossen, aus der Bude<, wie er den mit viel Tradition und wenig Umsatz gesegneten Eckladen insgeheim nannte, etwas zu machen. Fleißig gearbeitet hatten auch die Eltern, aber Paul, der Sohn, erkannte, daß damit allein auf keinen grünen Zweig zu kommen war. Schon zu Lebzeiten seines Vaters vertrat der Junge den Standpunkt, daß >das Ganze auch organisatorisch in die Hand genommen werden muß<. Jupp Fabrici, der Alte, war aber auf diesem Ohr immer schwerhörig geblieben. Er wollte sich nicht mehr aufladen als immer nur so viel, daß er >noch drüber weggucken konnte<.
Die Zusammenarbeit mit einer Bank war etwas, das ihn auch nicht interessierte. Und als ihm sein Sohn eines Tages vorgeschlagen hatte, das Käse-Sortiment mit französischen und italienischen Spezialitäten zu erweitern, hatte sich, vom Niederrheinischen ins Hochdeutsche übersetzt, folgender Dialog entwickelt:
«Was sagst du da, Junge? Französischen und italienischen? Wir führen doch schon holländischen!«
«Einzig und allein Edamer, ja.«
«Und zuweilen auch Gouda, Junge, vergiß den nicht.«
«Was ist das schon!«»Was das ist, fragst du? Mehr als genug ist das, mein lieber Junge. Siehst du denn nicht, wie ihn uns die Leute aus der Hand reißen?«
«Weil sie nichts anderes kriegen.«
«Nein, weil sie nichts anderes wollen — abgesehen vom deutschen. Aber wenn die den mal satthaben, greifen sie zum holländischen. Das war bei uns hier am Niederrhein schon vor hundert Jahren so und wird auch immer so bleiben. Wenn du was anderes denkst, dann verstehst du vom Geschäft nichts, dann hast zu zuwenig Erfahrung.«
«Und ich sage dir, die würden sich sehr rasch um einen echten Gorgonzola, zum Beispiel, reißen.«
«So, denkst du? Hast du schon einen echten Gorgonzola gegessen?«
«Nein.«
«Aber ich, als Soldat, beim Ringen um Sizilien mit den Amerikanern. Deshalb kann ich dir sagen, daß das nichts ist für den deutschen Geschmack. Zu scharf. Übrigens haben wir damals den Amis einen Kampf geliefert, von dem sie heute noch mit Hochachtung sprechen, wenn sie darauf kommen, weil — «
«Vater, ich bitte dich, fang nicht schon wieder mit deinem Krieg an…«
«Doch, das muß ich, weil euch diese Erfahrung fehlt. Du beweist es ja schon wieder mit deinem Gorgonzola. Siehst du, wir schreiben jetzt das Jahr 1950. Der Krieg ist erst wenige Jahre vorbei, und die Leute sind vollauf zufrieden mit unserem Edamer und Gouda. Warum auch nicht? Denkst du, die haben sich 1945 träumen lassen, wie gut es ihnen fünf Jahre später schon wieder geht. Fünf lächerliche Jährchen später! Die sind dankbar und denken nicht an italienischen Gorgonzola oder französischen Roquefort. Hast du Roquefort schon gegessen?«
«Nein, ich war ja nicht im Krieg.«
«Aber ich!«
«Vater, ich sehe — «
«Beim Kampf um den Atlantikwall — «»Ich sehe eine Zeit kommen, Vater, in der kein Mensch mehr von deinem Atlantikwall redet — aber von französischem und italienischem Käse. Deshalb solltest du ihn den Leuten jetzt schon anbieten, um der Konkurrenz voraus zu sein.«
«Konkurrenz? Welcher Konkurrenz?«
«Na, schon dem Milch- und Käseladen drei Ecken weiter.«
«Dem Karl Felchens? Bist du nicht gescheit, Junge? Dem mache ich doch keine Konkurrenz — und er nicht mir! Das kommt doch überhaupt nicht in Frage. Was sollte denn der von mir denken?«
«Vater — «
«Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht, das muß ich dir schon sagen, Junge. Weißt du, daß ich mit dem Karl Felchens zur Schule ging?«
«Ja, aber — «
«Und daß wir auch schon mal das gleiche Mädchen zusammen pussiert haben? Nicht deine Mutter, wohlgemerkt!«
«Aber das — «
«Und daß wir fast am selben Tag eingerückt sind, er zur Artillerie und ich zur Infanterie?«
«Ja, Vater, das hast du mir schon hundertmal erzählt.«
«Aber begriffen hast du das anscheinend immer noch nicht, was das heißt — daß nämlich der ein Mann ist, mit dem man das nicht machen kann, was dir vorschwebt. Der einzige Fehler, den der hat, ist, daß er kein Anhänger von Fortuna, sondern von Schalke 04 ist. Als Düsseldorfer müßte ihm natürlich die Fortuna höher stehen.«
«Ist gut, Vater, ich sage ja schon nichts mehr«, seufzte Fabrici junior und beendete das Gespräch.
Damals hatte er gerade das siebzehnte Lebensjahr vollendet und ahnen lassen, daß in geschäftlicher Hinsicht einiges in ihm steckte. Knapp sieben Jahre später passierte das erwähnte Schiffsunglück und machte den Jungen zum Vollwaisen und Erben der bescheidenen Fabricischen Hinterlassenschaft. Geschwister, mit denen zu teilen gewesen wäre, hatte er keine.
Was tat der Vierundzwanzigjährige, der er nun war, als erstes? Er heiratete. Das Mädchen, dem dieses Glück widerfuhr, mochte er zwar gern, aber mindestens ebenso wichtig war dabei für ihn, daß er seiner Ehefrau für die ganze Arbeit, die sie von früh bis spät im Geschäft zu leisten hatte, kein Gehalt zahlen mußte. Sie war eine geborene Beckes und wurde von Kindesbeinen an nur >Mimmi< gerufen. Nach zwei Jahren gebar sie ihrem Mann ein Töchterchen namens Karin. Paul Fabrici liebte die Kleine, doch er sah ein Problem darin, daß sich seine Frau nicht nur um das Geschäft, sondern auch um das Kind kümmern mußte.
Mit 36 Jahren besaß Paul Fabrici einen mittleren Supermarkt, der das ganze Viertel versorgte. Der alte Karl Felchens war auf der Strecke geblieben. Der Supermarktinhaber Fabrici spielte die maßgebliche Rolle im Schützenverein. Zudem saß er im Vorstand von Fortuna Düsseldorf, dem ruhmreichen Fußballverein. Als Geschäftsmann war er sozusagen ein großer Hai, der kleinere Fische gefressen hatte und noch fraß. Aber nun ließ er es langsamer angehen, was freilich nicht hieß, daß ihn etwa sein Betrieb nicht mehr interessiert hätte. Doch, doch, in demselben hielt er immer noch das Heft in der Hand, nur ließ er sich nicht mehr von ganztägiger Expansionshektik auffressen, sondern schaltete zwischendurch ab. Das hatte erstaunlicherweise zur Folge, daß er dafür bekannt wurde, ein gemütlicher Mensch zu sein. Ein neuer Paul Fabrici entwickelte sich, der alte geriet in Vergessenheit. Lediglich Leute wie Karl Felchens behielten ihn bis an ihr Grab so in Erinnerung, wie er ursprünglich gewesen war.
Immer gleich blieb sich Paul Fabrici in seinem Banausentum. Mit den Künsten hatte er auch als saturierter Mann nichts im Sinn. Ein Teil der Menschen, die reich werden, lassen sich malen, machen Museen finanzielle Zuwendungen oder rufen irgendeine Stiftung ins Leben. Paul Fabrici richtete sein Augenmerk nach wie vor uneingeschränkt auf Ein- und Verkaufspreise, Devisenkurse, Rentenmärkte usw. Das Unangenehme daran war, daß sich daraus mit den Jahren ein familiärer Dauerkonflikt ergab.
Mimmi Fabrici nämlich, Pauls Gattin, entwickelte sich im Gegensatz zu ihm mit wachsendem Wohlstand zu einer Dame, die höher hinaus wollte<. Sie sprach nur noch hochdeutsch, hielt dazu auch ihren Mann an und litt darunter, wenn dieser, was leider allzu oft vorkam, die peinigendsten Rückfälle in seinen niederrheinischen Dialekt erlitt. Ihrer Tochter Karin gestattete sie so etwas grundsätzlich nicht. Aus dem Geschäft hatte sie sich zurückgezogen, nachdem der Supermarkt begonnen hatte, reibungslos zu laufen. Im Anschluß daran setzte ein anderer Kampf für sie ein — der gegen ihr Gewicht. Sie aß zu gerne Schlagsahne, ruhte sich vom ungewohnten Nichtstun aus und las ihr als literarisch wertvoll empfohlene Romane, die ermüdeten. Sie schlief deshalb immer lange, und das ist nun mal bei Damen nicht gut für die Figur.
Klein-Karin wuchs zu einer Karin und schließlich zu einem außergewöhnlich hübschen jungen Mädchen heran, dessen Position gewissermaßen zwischen der ihrer Mutter und der ihres Vaters lag. Paul Fabrici war, wie gesagt, ein Banause, Mimmi Fabrici das Gegenteil (oder glaubte es zumindest zu sein). Karin Fabrici, die Tochter, schätzte sowohl Kommerz als auch Bildung, übertrieb aber weder in der einen, noch in der anderen Richtung. Sie war ein begehrtes, intelligentes, frisches, natürliches Mädchen, das von ihrem Vater als ganz persönlicher Schatz angesehen wurde. Gerade deshalb störte ihn ein gewisser Punkt an ihr ganz erheblich — sie schrieb ein Wort groß: EMANZIPATION.
Schon mit sechzehn ging das bei ihr los. Sie rauchte, obwohl ihr dabei übel wurde, weil ein Mädchen dasselbe Recht hat wie ein Jun-ge<. Mit siebzehn ließ sie sich vom Arzt die Pille verschreiben, obwohl sie ein Leben führte, in dem Verhütungsmittel so überflüssig waren und weiterhin auch noch blieben wie mit sieben. Mit neunzehn entschloß sie sich, den nächsten Urlaub, der unmittelbar vor der Tür stand, nicht mehr zusammen mit den Eltern zu verbringen, sondern allein auf eine Nordseeinsel zu fahren. Vater fiel fast vom Stuhl, als sie dies am Frühstückstisch bekanntgab, indem sie sagte:»Ich habe es mir überlegt, ich fahre nächste Woche nicht mit euch nach Kärnten.«
Paul Fabrici ließ die Zeitung, in der sein Kopf steckte, bis zur Nase sinken und antwortete:»Du willst zu Hause bleiben?«
«Nein.«
«Was dann? Zur Oma fahren?«
«Um Gottes willen!«
«Wenn du nicht zu Hause bleiben und nicht zur Oma fahren willst, dann weiß ich nicht, was dir vorschwebt.«
«Ich möchte mal an die Nordsee.«
Paul Fabricis Zeitung sank ganz herunter auf den Tisch.
«Kind«, sagte er väterlich,»was soll denn der Unsinn? Du weißt doch ganz genau, daß wir in Millstadt schon Zimmer gebucht haben. Erwartest du etwa, daß wir das rückgängig machen?«
«Nein.«
«Was heißt nein? Wenn du dabei bleibst, an die Nordsee zu wollen, müssen wir Kärnten sausen lassen.«
Paul Fabrici blickte immer noch nicht durch. Das geschah aber nun, als Karin erwiderte:»Keineswegs. Ihr beide fahrt nach Mill-stadt und ich auf eine Nordseeinsel.«
«Allein?«Mehr konnte Vater Fabrici in seiner Fassungslosigkeit nicht hervorstoßen.
«Ja, allein.«
Fabrici sah seine Tochter absolut ungläubig an, dann wanderte sein Blick zu Mimmi Fabrici, Karins Mutter.
«Hast du das gehört?«fragte er sie.
«Was?«
Mimmi las in jenen Tagen Die Dämonen< von Dostojewski. Das ging über ihre Kräfte. Außerordentlich ermüdet sank sie abends ins Bett, fand nur unruhigen Schlaf und erhob sich morgens in einem entsprechenden Zustand aus ihren Federn. Ein Psychiater hätte sie >als sehr gestört in ihrer Konzentrationsfähigkeit bezeichnen müssen. Zur Teilnahme an Gesprächen am Frühstückstisch benötigte sie einen Anlauf.
Paul Fabrici mußte sich wiederholen.
«Ob du das gehört hast, frage ich dich.«
«Ob ich was gehört habe?«
«Was Karin sagte.«
«Was hat sie denn gesagt?«
Paul Fabrici lief rot an.
«Himmel Herrgott!«begann er.»Wo bist du denn wieder mit deinen Gedanken?«
«Bei Dostojewski«, entgegnete Mimmi würdevoll. Das Mitleid, das sie dabei für ihren Gatten empfand, war weder zu überhören noch in ihrer Miene zu übersehen.
Paul winkte wegwerfend mit der Hand und wandte sich seiner Tochter zu.
«Karin, teile auch deiner Mutter mit, was du mir eröffnet hast.«
Karin leistete dieser Aufforderung Folge. Sie erzielte damit eine vorübergehende Herabminderung des Interesses ihrer Mutter an Weltliteratur und eine Hinwendung zu familiären Angelegenheiten.
Mimmi sagte zu ihrer Tochter:»Das darfst du nicht, Karin.«
«Doch, Mutti.«
Daraufhin sagte Mimmi zu ihrem Mann:»Das mußt du ihr verbieten, Paul.«
«Hörst du«, wurde Karin von ihrem Vater gefragt,»was deine Mutter von mir verlangt?«
«Ja.«
«Du weißt also, daß du nicht an die Nordsee fährst, sondern nach Kärnten.«
«Einverstanden«, nickte Karin zur Überraschung ihrer Eltern.
Die beiden lächelten erlöst, doch sie taten das zu früh. Das Lächeln verschwand wieder aus ihren Zügen, als Karin hinzusetzte:»Wir tauschen. Ich fahre nach Kärnten und ihr an die Nordsee.«
Damit war endgültig klar, worauf es ihr ankam. Wichtig war ihr nicht Salz- oder Süßwasser, das Meer oder die Alpen — wichtig war die Abnabelung von den Eltern.
Wie dieses Ringen am Frühstückstisch endete, wird jedem Leser klar sein — mit dem Sieg Karins. Wer die heutige Jugend kennt, weiß, daß Paul und Mimmi Fabrici auf verlorenem Posten standen. Die Kapitulation der Eltern wurde deutlich, als Paul sagte:»Weißt du, was zu meiner Zeit passiert wäre, Karin, wenn ich als Sohn meinem Vater mit einer solchen Idee gekommen wäre? Und erst als Tochter! Weißt du, was da passiert wäre?«
«Woher soll ich das wissen, Vati? Opa hatte ja gar keine Tochter.«
«Das spielt keine Rolle. Du weißt genau, was ich sagen will.«
«Ja — daß bei euch alles ganz anders war.«
«War es auch!«
«Und daß wir schon noch sehen werden, wo wir hinkommen.«
«Werdet ihr auch!«
«Laß nur mal die Zeiten schlechter werden.«
«Ja, dann — «
Paul Fabrici brach ab. Der Spott in den Worten seiner Tochter war zu deutlich. Sein Blick wechselte von ihr zu seiner Frau, als sei von dieser Beistand zu erwarten. Doch das war ein Irrtum, Mim-mi Fabrici schwieg, sie wußte, daß die Entscheidung schon gefallen war. Außerdem benötigte sie derzeit ihr inneres Kräftepotential nicht für solche Konflikte, sondern für ihre Auseinandersetzung mit den großen russischen Schriftstellern. Wie so oft mußte also Paul Fabrici erkennen, daß er alleinstand.
«Hat ja keinen Zweck«, sagte er, winkte mit der Hand, faltete seine Zeitung zusammen, erhob sich, obwohl er erst halb gefrühstückt hatte, steckte die Zeitung in die Jackettasche und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und verkündete:»Ich jeh ins Jeschäft. Macht ihr, wat ihr wollt.«
Mimmi Fabrici seufzte, als er verschwunden war, und rührte in der Kaffeetasse herum. Immer dasselbe, dachte sie. Er weiß, wie mich das nervt, wenn er in seinen Dialekt der Gosse zurückfällt, trotzdem verschont er mich damit immer wieder nicht. Er ist und bleibt ein ungehobelter Klotz, der kein Gefühl für gehobene Lebensart hat. Zwar verdient er viel Geld, doch das tun andere auch und gehören dabei zur Gesellschaft. Aber Paul? Nie werde ich mit ihm in bessere Kreise eindringen, nie wird man mich bei Freifrau v. Sarrow oder bei Generaldirektor Dr. Borne einladen. Paul kann keinen Smoking tragen — er sieht darin aus wie eine Karikatur. Und wenn er den Mund aufmacht und >enä< sagt, ist die Gesellschaft geplatzt.
Das war es, was an der Seele Mimmi Fabricis nagte. Sie waren wohlhabend, konnten sich fast alles leisten, was das Herz begehrte, aber sie spielten trotzdem keine Rolle. Die Leute, zu denen Mimmi aufblickte, ignorierten sie und ihren Mann. Für diese war und blieb Paul Fabrici ein Emporkömmling, nichts weiter; ein Parvenue, sagten die ganz feinen Herrschaften und rümpften die Nase; angefangen hat er mit Milch und Edamer.
Mimmi dachte an ihr unzugängliche Bridgepartien, an ebensolche Cocktail-Partys und Tanztees, und ihr Mutterherz krampfte sich zusammen, wenn sie sich sagen mußte, daß sich ihrer Karin nie die Gelegenheit bieten würde, einen Mann der großen Gesellschaft kennenzulernen, um von ihm zum Traualtar geführt zu werden.
Vielleicht war der schockierende Einfall Karins, allein in Urlaub zu fahren, gar nicht so verkehrt. Vielleicht begegnet ihr auf einer Nordseeinsel, sagte sich Mimmi, ein solcher Mann. Sollte das passieren, konnte es nur gut sein, wenn Paul Fabrici, Karins Erzeuger, weit vom Schuß war. Wäre er nämlich das nicht, drohte doch nur die Gefahr, daß sich alles gleich wieder zerschlüge, weil er die Ablehnung jedes Zugehörigen der besseren Kreise wachrufen würde. O nein, nur das nicht!
Je länger Mimmi Fabrici über Karins neuesten Schritt der von ihr praktizierten Emanzipation nachdachte, desto mehr gewann sie demselben Geschmack ab. Natürlich wird es notwendig sein, sagte sich die Mutter, daß dem Kind die notwendigen Anleitungen mit auf den Weg gegeben werden; am besten sofort.
«Karin, du — «
Wo war sie denn? Mimmi Fabrici sah auf und blickte herum. Das Zimmer war leer, Karin hatte es unbemerkt verlassen. Das tat sie häufig, wenn sie bemerkte, daß Mutter in Nachdenken versunken war, weil man in den allermeisten Fällen annehmen mußte, daß dieses Nachdenken ein mit der Literatur zusammenhängendes war, aus dem sich Mimmi Fabrici ungern aufschrecken ließ.
Karin konnte aber nur auf ihr Zimmer gegangen sein, weil sie noch ihre Hausschuhe angehabt hatte.
Seufzend stand Mimmi Fabrici auf und schellte dem Dienstmädchen zum Abräumen. Dann stieg sie die breiten, mit Seidenteppichen belegten Treppen empor zur Kemenate ihrer Tochter und trat nach einem kurzen Anklopfen ein.
Karin saß auf ihrer breiten Schlafcouch und starrte in den weit geöffneten Kleiderschrank, aus dem die Kleider herausquollen. Sie sah reichlich hilflos aus und hob beim Eintritt der Mutter wie flehend die Arme.
«Mutti«, begann sie mit kläglicher Stimme,»ich habe nichts anzuziehen, ü-ber-haupt nichts. Alle meine Sachen sind völlig aus der Mode. Da, das Lavabelkleid, sieh dir das an — das kann ich doch nicht mehr tragen! Und das Musseline? Schrecklich! Ebenso das rotweiß gestreifte Seidene. Nicht einmal mehr unsere Erna könnte man damit auf die Straße schicken. Ich muß mich für die See ganz neu ausstatten, das ist absolut notwendig. Sag das Vati, bitte.«
Erna war das Dienstmädchen der Fabricis.
«Kind«, antwortete Mutter Mimmi verständnisvoll,»das mache ich schon.«
Wenn Frauen sich über Kleider unterhalten, sind sie sich immer in einem Punkt einig: Man hat zuwenig davon. Es verschwinden dann sogar die Gegensätze zwischen Mutter und Tochter, und man ist ein Herz und eine Seele in dem Bewußtsein, daß Kleider überhaupt das Wichtigste im Leben einer Frau sind.
«Natürlich brauchst du einiges«, sagte Mimmi und wühlte in dem Kleiderschrank.»In diesen Fähnchen kannst du dort nicht herumlaufen. Deinem Vater werden wir schon heute beim Mittagessen gemeinsam das Messer an die Brust setzen. Erst wird er sich sträuben, du kennst ihn ja, aber schlimmstenfalls vergießt du ein paar Tränen, dann werde ich ihn fragen, wie lange er das mitansehen will.
Wozu er eine Tochter in die Welt gesetzt hat, wenn er sie nackt herumlaufen läßt? Und das ist ihm noch immer an die Nieren gegangen. Allerdings wirst du dir dafür wieder ein paar Worte von ihm anhören müssen, wie das früher war, und mich wird er mit seinem unausstehlichen Jargon quälen. Aber das müssen wir beide eben ertragen. Das Ende vom Lied wird der gewünschte Scheck sein, mit dem du gleich morgen zur Königsallee gehen und dir aussuchen kannst, was dir gefällt. Wenn du nichts dagegen hast, komme ich mit.«
Karin küßte ihre Mutter dankbar auf die Wange und beugte sich dann mit ihr über eine Liste, auf der sie schon alles verzeichnet hatte, was sie nötig zu haben glaubte. Nachdem die einzelnen Posten Mimmis Billigung gefunden hatten, räusperte sie sich und sagte:»Karin, ich möchte aber auch noch über ein paar andere Dinge mit dir reden. Schau, es ist nun das erstemal, daß du ohne unseren Schutz in die Welt hinausfährst, und ich hoffe, du bist dir im klaren, was da auf dich zukommen kann.«
«Was denn?«
«Männer, die gefährlich sind.«
«Hoffentlich.«
Mimmi hob den Zeigefinger.
«Karin, ich spreche von Kerlen, die nichts anderes im Sinn haben, als dich zu verführen.«
«Auch das muß einmal sein, Mutti.«
«Karin!«Mimmi schüttelte den Zeigefinger in der Luft.»Du sollst dich nicht immer über mich lustig machen. Du mußt mich richtig verstehen. An sich bist du in einem Alter, in dem auch das, wie du dich ausdrückst, einmal sein muß, sicher. Aber nicht mit dem Falschen! Nicht mit einem, der nur gut aussieht! Diese Gefahr ist bei euch jungen Mädchen immer riesengroß. Oder mit einem, der nur Geld hat. Was hättest du denn davon? Sieh mich an. Was habe ich von unserem ganzen Besitz? Nichts. Du verstehst, was ich meine?«
«Wann gehen wir morgen zum Einkaufen, Mutti?«»Wann du willst — aber weiche jetzt bitte nicht vom Thema ab. Ich erwarte von dir, daß du dir den Mann, mit dem du. na, du weißt schon, ich will das nicht noch einmal in den Mund nehmen… daß du dir also diesen Mann vorher genau ansiehst. Ist er gebildet? Hat er Lebensart, Stil, verstehst du? Ein Beispiel: Fragt er, wenn er in Florenz ankommt, nicht nach dem nächsten Käseladen, um sich Anregungen zu holen, sondern nach den Uffizien? So meine ich das!«
«Ja, Mutti.«
«Versprichst du mir das?«
«Was? Daß ich mit jedem erst nach Florenz fahre, um ihn zu prüfen, ehe ich mit ihm — «
«Karin!«
«Ja?«
«Was hättest du jetzt um ein Haar wieder gesagt! Du bist kein feines Mädchen, obwohl ich mir mit dir die größte Mühe gebe. Wie oft muß ich dir ins Wort fallen, um zu verhindern, daß du mich an deinen Vater erinnerst?«
«Entschuldige, Mutti.«
«Es geht doch darum, daß du dir nicht selbst alle Chancen verdirbst, wenn du den Richtigen kennenlernst und ich nicht dabei bin.«
«Ich werde schon aufpassen«, sagte Karin. Sie kannte diese Debatte und hatte keine Lust, sie noch länger fortzuführen.
«Wo sind eigentlich meine Badesachen?«fragte sie.
Von der Suche danach, die sogleich einsetzte, wurde sie so sehr in Anspruch genommen, daß kein Gespräch mit Mutter mehr zustande kam. Dies einsehend, räumte Mimmi das Feld.