Nach ihrer Heimkehr ging Karin in den ersten Tagen kaum aus dem Haus. Es war ihr darum zu tun, daß sich die ungezügelte allgemeine Neugierde wieder legte, die ihr von allen Seiten entgegenschlug. Sie galt ja nun als Star, der sogar die Mattscheibe zehn Minuten lang gehört hatte. Karin fühlte sich dadurch belästigt. Alles, was mit Nik-keroog zusammenhing, hatte einen bitteren Beigeschmack für sie bekommen.
Doch auch zu Hause erwuchs ihr das Problem, dem sie sich gern gänzlich entzogen hätte; dafür sorgte Karins Mutter. Zwar hielt sie sich wohlweislich zurück und nahm den Namen jener Insel nicht in den Mund, wenn ihr Gatte anwesend war. Sobald dieser aber der Familie den Rücken kehrte, erlebte Karin immer wieder dasselbe: ihre Mutter barst vor Fragen.
Mimmi Fabrici konnte die Reserve, auf die sie bei Karin stieß, nicht verstehen. Sie selbst hätte nichts Schöneres gewußt, als an Karins Stelle zu stehen und jedem zu erzählen, wie das ist, auf dem Gipfel einer Schönheitskönigin über allen anderen zu schweben und hinunterzuschauen ins Tal der Unscheinbaren.
Das müsse doch wahrlich ein himmlisches Gefühl sein, dachte sie.
Profanere Fragen traten dem gegenüber in den Hintergrund, obwohl sie durchaus nicht unwichtiger Natur waren. Doch einmal sagte Mimmi zu ihrer Tochter:»Kind, du wolltest mich doch auf dem laufenden halten?«
«In welcher Hinsicht?«antwortete Karin widerwillig. Geht das schon wieder los! dachte sie dabei.
«Hinsichtlich der Pille.«
Karin guckte verständnislos.
«Ich frage dich, ob du sie regelmäßig genommen hast«, wurde Mim-mi deutlicher.
«Auf Nickeroog?«
«Ja. Dazu hattest du sie doch mitgenommen, aber auch darüber sprichst du unaufgefordert nicht mit mir, wie du dir ja über das Ganze dort jedes Wort aus der Nase ziehen läßt.«
Karin seufzte.
«Ja, Mutter, ich habe sie regelmäßig genommen.«
Wenn Karin Mutter< sagte, sprach das Bände über ihre Stimmung. Mimmi nahm aber darauf jetzt keine Rücksicht.
«Wir müssen also keine Befürchtungen hegen?«fuhr sie fort.
«Daß ich schwanger geworden sein könnte?«
«Ja.«
«Nein, gewiß nicht, Mutter.«
«Du betonst das so merkwürdig. Soll das heißen, daß du.?«
Taktvoll verstummte Mimmi und ließ den Rest des Satzes unausgesprochen.
«Ja, das soll es heißen, Mutter.«
«Hast du auch verstanden, was ich meinte?«
«Sicher. Du meintest, ob das heißen soll, daß ich die Pille überhaupt nicht gebraucht hätte, weil ich mit gar keinem Mann geschlafen habe?«
«Karin!«
«Ja?«
«Du bist manchmal so direkt, statt dich zu bemühen, so wie ich delikat zu sein. Das mußt du von deinem Vater haben, nicht von mir.«
«Ja, Mutter.«
«Sag nicht immer Mutter zu mir, ich mag das nicht.«
«Ja, Mutti.«
Mimmi räusperte sich.
«Also wie war das?«
«Was?«»Wie kam's auf diesem Gebiet zu deinem eklatanten Mißerfolg? Warum hat dort keiner angebissen?«
«Das könnte man aber auch delikater ausdrücken, Mutti.«
«Antworte, bitte.«
Karin zuckte die Achseln.
«Vielleicht war ich keinem reizvoll genug.«
«Lächerlich«, rief Mimmi Fabrici.»Du bist eines der hübschesten Mädchen, die es gibt, und gerade das wurde dort ja auch wieder unter Beweis gestellt. Jeder normale Mann muß sich nach dir die Finger ablecken, und jeder tut das auch… aber«, unterbrach sie sich,»vielleicht wolltest du nicht… obwohl ich mich«, schloß sie, nachdem Karin stumm blieb,»daran erinnere, daß du mit einem ganz anderen Vorsatz hingefahren bist.«
«Mutti«, sagte Karin,»du kommst mir vor, als ob du verärgert wärst. Andere Mütter freuen sich über ihre unberührten Töchter.«
«Nee, nee«, erwiderte Mimmi Fabrici trocken.»Von einem gewissen Zeitpunkt ab nicht mehr. Wenn ich so etwas höre, muß ich immer gleich an das Märchen mit dem Fuchs und den Trauben denken, verstehst du?«
Da mußte Karin lachen. Plötzlich aber erlosch in ihrem Gesicht jede Heiterkeit, und Mimmi sah in den Augen ihrer Tochter Tränen aufsteigen.
«Karin!«rief sie.»Was hast du?«
Karin preßte die Lippen zusammen, um nicht loszuheulen.
«Habe ich dir, ohne es zu wissen, wehgetan, mein Kind?«
«Nein, Mutti.«
«Doch«, sagte Mimmi ganz bestimmt.»Ich sehe es.«
Mit Karins Beherrschung war es vorbei. Der Tränensturz löste sich und benetzte ihre Hände, in denen sie ihr Gesicht verbarg.
Das Herz drehte sich Mimmi im Leibe um. Sie wußte aber, daß es momentan falsch gewesen wäre, in Karin zu dringen. Das Kind mußte sich erst ausweinen. Mimmi setzte sich nur neben Karin auf die Couch und steckte ihr ihr Taschentuch zu, mit dem sie selbst zu jeder Zeit ausgestattet war, um es immer griffbereit zu haben, wenn Tragik in einem Roman zum Ausdruck kam.
Mimmi Fabrici verfügte neben literarischer auch über genügend Lebenserfahrung, um den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, zu dem es angebracht war, mit Karin das Gespräch wieder aufzunehmen.
«So«, sagte sie deshalb, als ihr Karin das eingenäßte Taschentuch mit Dank zurückgab,»nun sag mir, was dein Vater da verbockt hat.«
Karin hob den immer noch von einem Tränenschleier umflorten Blick.
«Vater?«
«Ja. Ich kann mir nur vorstellen, daß er da wieder in etwas hineingetrampelt ist wie ein Elefant.«
Karin schüttelte den Kopf.
«Nein, Mutti.«
«Nicht?«Großer Zweifel sättigte dieses Wort.
«Wirklich nicht, Mutti.«
«Dann möchte ich wissen, wer dir etwas angetan hat.«
«Ich mir selbst«, sagte Karin tonlos. Schon wollten ihre Lippen erneut zu zittern beginnen.
Mimmi ließ auch diesen gefährlichen Moment wieder vorübergehen, bis sie sagte:»Weißt du was, mein Kind? Du erzählst mir das alles, wenn du einmal Lust hast dazu. Das muß nicht jetzt sein. Ich weiß, solche Dinge brauchen ihre Zeit, bis sie in einem etwas abgeklungen sind. Dann spricht es sich wesentlich leichter über sie. Einverstanden?«
«Ja«, nickte Karin und umarmte ihre Mutter, drückte sich an sie, küßte sie.
Das war zuviel. Ganz plötzlich trat ein Rollentausch ein. Mim-mi weinte, und Karin hatte alle Hände voll zu tun, ihre Mutter zu trösten. Als dies im vollen Gange war, trat überraschend Paul Fa-brici ins Zimmer. Er hatte vom Geschäft heute ausnahmsweise schon zwei Stunden früher die Nase vollgehabt. Die Situation, die er antraf, entlockte ihm den Ausruf:»Was ist denn hier los?«
Mimmis Tränen regten ihn weniger auf als die adäquaten Spuren in Karins Gesicht.
«Karin«, fragte er,»fehlt dir etwas?«
«Nein, Vati.«
«Aber du hast geweint?«
«Schon vorbei. Nur Mutti weint noch.«
«Ich sehe es«, sagte er unbeeindruckt.
Zorn wallte in Mimmi auf.
«Aber es läßt dich kalt!«rief sie.
«Ich bin das doch gewöhnt von dir, wenn deine Nase in einem Buch steckt.«
«War das soeben der Fall?«
«Nein«, mußte er zugeben.
Dann trat er den Rückzug an, verließ den Raum und trank in seinem Arbeitszimmer einen Schluck aus der Whiskyflasche, die in seinem Schreibtisch neuerdings den Kognak verdrängt hatte. Auch eine Zigarre steckte er sich an. Als er schließlich ins Wohnzimmer zurückkam, saß Mimmi allein auf der Couch.
«Wo ist Karin?«fragte er.
«Sie wollte einen Brief schreiben.«
«Einen Brief schreiben«, mokierte sich Paul Fabrici.»Wer schreibt denn heutzutage noch einen Brief — außer Geschäftsbriefe? Nur wer nicht weiß, wohin mit seiner Zeit. Wozu gibt's Telefon?«
«Ach Paul«, seufzte Mimmi nur. Dies war kein Thema, über das mit ihm zu reden wäre.
Er war noch nicht fertig.
«Das ist ja das Übel mit Karin«, fuhr er fort.»Sie hat keine Beschäftigung. Deshalb meine ich, daß nun wirklich bald etwas in dieser Richtung geschehen muß. Sie soll wieder studieren oder, was mir noch lieber wäre, kaufmännisch etwas lernen.«
Paul verstummte und zog an seiner Zigarre. Mimmi äußerte sich nicht. Sie erhob sich, um einen Blick in die Fernsehzeitschrift zu werfen, die auf dem Apparat lag. Eine Weile hörte man nichts als das Rascheln der Seiten, die von Mimmi umgewendet wurden.
«Warum weinte sie?«unterbrach Paul die Stille.
Mimmi hob ihren Blick aus der Zeitschrift.
«Warum? Sie hat es mir nicht gesagt«, antwortete sie.
«Aber wie ich dich kenne, hast du eine Theorie.«
«Wenn ich keine hätte, müßte ich keine Mutter sein.«
«Also warum?«
«Dreimal darfst du raten.«
«Ein Mann?«
«Was denn sonst!«
«Hier in Düsseldorf?«
«Nein.«
«Auf Nickeroog?«
«Ja.«
Paul Fabrici holte tief Atem. Sein Brustkasten weitete sich, ehe er lospolterte:»Diese verdammte Scheißinsel! Dieser ganze verdammte, beschissene Urlaub!«
Mimmi protestierte diesmal nicht einmal.
«Hätten wir sie nur nicht allein fahren lassen!«fuhr Paul fort.
«Wenn wir dabei gewesen wären«, erklärte Mimmi durchaus zutreffend,»wäre dasselbe passiert.«
«Nein!«
«Ach«, sagte sie mit wegwerfender Geste in seine Richtung.
Paul schien seine Wut an seiner Zigarre auszulassen, die er zu enormem selbstzerstörerischem Glimmen brachte. Nach einer Pause, die so entstand, sprach Mimmi von einem Rätsel.
«Er hat sie offensichtlich verschmäht«, meinte sie.»Und das ist mir vollkommen schleierhaft. Ein Mädchen wie unsere Karin!«
Auch Paul schüttelte den Kopf.
Mimmi fuhr fort:»Sie gibt sich zwar selbst die Schuld, aber das ist doch lächerlich. Ein Mädchen wie unsere Karin kann gar nicht an etwas sosehr schuld sein, daß ihr ein Mann nicht trotzdem zu Füßen liegen würde, möchte man meinen.«
Worte einer Mutter.
Mimmi schloß:»Ich verstehe das nicht. Ich verstehe das wirklich nicht.«
Plötzlich schoß Paul ein Gedanke durch den Kopf.
«Mimmi!«stieß er hervor. Mimmi< rief er sie selten. Erstaunt blickte ihn Mimmi an. Sie wußte, daß er diesen Namen haßte. Trotzdem wiederholte er ihn sogar noch einmal:»Mimmi, könntest du dir vorstellen, daß Peter der Betreffende ist?«
Gemeint war damit Peter Krahn, doch der war für Mimmi Fabrici von einer solchen Möglichkeit so weltenweit entfernt, daß sie bar jeder Ahnung fragte:»Welcher Peter?«
«Der Krahn.«
«Bist du verrückt?«
«Wieso?«
«Dieses Würstchen doch nicht!«
Früher hätte sich Paul Fabrici über diesen Ausdruck sicher wieder aufgeregt, aber heute lag seine eigene Einschätzung, die er Peter Krahn entgegenbrachte, nicht mehr weit daneben, und deshalb widersprach er seiner Frau nicht, sondern pflichtete ihr bei:»Du magst ja recht haben, aber«- er zog zweimal an der Zigarre —»dann frage ich mich, was für einer da sonst in Betracht kommen könnte.«
Mimmi seufzte.
«Sie hat es mir«, meinte sie wie zu Beginn dieser ganzen Unterhaltung,»nicht gesagt.«
Das war also der tote Punkt, an dem die beiden wieder angelangt waren.