Kapitel 8

Das Kurhaus erstrahlte im vollen Lichterglanz. Fast alle Plätze waren schon besetzt. Niemand wollte den >Ball der Miß Nickeroog< versäumen, der darauf angelegt war, zum Höhepunkt der Saison zu werden. Die Menschen waren festlich gekleidet, wie schon bei der Wahl, und erhofften sich einen aus dem Rahmen fallenden Abend, der es ihnen ermöglichen würde, ihn den Bekannten zu Hause in den glühendsten Farben zu schildern, um ihren Neid zu erregen.

Peter Krahn gab die Suche nach einem freien Stuhl bald auf. Entdeckte er einen und steuerte er auf denselben zu, wurde ihm regelmäßig gesagt:»Schon besetzt, tut uns leid.«

Jemand rief ihn:»Herr Krahn!«

Franz Joseph Biechler. Er saß inmitten einer Gesellschaft an einem vollen Tisch nahe der Treppe hinunter zur Bar. Peter nickte grüßend und fragte ihn per Zeichensprache, ob er einen Platz habe. Der Münchner schüttelte auch bedauernd den Kopf, erhob sich jedoch und kam, sich durch Stühle und Tische zwängend, auf ihn zu.

Händeschüttelnd begrüßten sich die beiden.

«Sie sind zu spät dran«, sagte Biechler.

«Verrückter Betrieb«, meinte, herumblickend, Krahn.

«Alle wollen dieses Prachtweib sehen.«

«Die Schönheitskönigin?«

«Natürlich.«

«Sie auch?«

«Freilich«, lachte Biechler.»Der Anblick lohnt sich, wissen Sie. Habe die Wahl schon miterlebt. Eindeutige Sache. Ein Superhase, wie wir

Bayern sagen. Könnte auch bei uns jeden Blumentopf gewinnen. Mit dieser eine Nacht. «Er brach ab und kniff ein Auge zusammen.»Allerdings«, besann er sich,»in meinem Alter, da käme, offen gesagt, das Mäderl vielleicht doch nicht mehr so ganz auf seine Rechnung. Aber in Ihrem.«

Er puffte Krahn, der schwieg, zwinkernd in die Seite und lachte lauthals.

«Warum sagen Sie nichts?«fragte er ihn.

«Denken hier alle so?«erwiderte Krahn.

«Todsicher. Jedenfalls die Männer. Sie hätten die bei der Wahl sehen müssen, wie denen das Wasser im Mund zusammenlief. Und Ihnen wäre es genauso ergangen, dafür garantiere ich. Wahrlich, da haben Sie etwas versäumt.«

«Und Sie haben mir erzählt, hier wäre es nur langweilig.«

«Na ja«, grinste Biechler,»es gibt auch Ausnahmemomente, sonst könnte man es ja wirklich nicht aushalten. Meine Frau — «

Das Wort wurde ihm abgeschnitten. Vom Eingang her ertönten Fanfarenstöße.

«Es geht los«, stieß Franz Joseph Biechler hervor, ließ Krahn einfach stehen und hastete zurück zu seinem Platz.

Peter trat hinter eine Säule, um den Einzug Karins, der sich angekündigt hatte, zu verfolgen. Niemand beachtete ihn, die Aufmerksamkeit aller richtete sich auf den Weg, den >Miß Nickeroog< nehmen mußte. Fotoapparate wurden gezückt, und es war sogar ein Kamerateam des ZDF zur Stelle, um Aufnahmen für die Drehscheibe< zu machen. Dies erreicht zu haben, war die größte Leistung des Veranstalters Johannes M. Markwart.

Körbe voll Blumen und gesonderte Sträuße schmückten das Podium, auf dem Karin in einem goldenen Thronsessel residieren sollte. Der Pomp war reinster Kitsch, so ganz nach dem Herzen des Publikums.

Peter Krahn lehnte sich an die Säule. Affentheater, dachte er unwillkürlich, und das stellte seinem Geschmack ein gutes Zeugnis aus. Er konnte Karin nicht verstehen. Sieht sie denn nicht, fragte er sich, zu welchem Betrieb sie sich hier hergibt? Spürt sie nicht die Gedanken und Wünsche der Männer, von denen Biechler gesprochen hatte? Ahnt sie nicht, was ihr Vater sagen würde, wenn er hier wäre? Oder was ich mir denke und ich sage? Ist ihr das egal?

Und plötzlich dachte Peter Krahn an ein anderes Mädchen. Wäre dies alles hier mit Heidrun Feddersen möglich? Ich weiß es nicht, mußte er sich eingestehen, aber er glaubte es auch nicht.

Die Kapelle stimmte einen feurigen Einzugsmarsch an. Benito Ro-mana war in seinem Element. Heute war er beim Abendessen vorsichtshalber auch nicht wieder der Versuchung erlegen, sich ein ganzes Eisbein einzuverleiben, sondern er hatte nur eine mittlere Portion Spaghetti mit Tomatensauce verspeist. Das paßte auch besser zu seinem Künstlernamen.

Noch sah Peter Krahn die Miß Nickeroog< nicht. Sie wurde draußen vom Kurdirektor begrüßt, man hörte vereinzelte Rufe. Einige Pagen in weißen Uniformen mit goldenen Schnüren hatten einen roten Läufer ausgerollt. Der Kameramann begann zu drehen. Ein Reporter sprach routiniert den nötigen Text in sein Mikrofon.

«Affentheater«, hörte da Peter hinter sich eine Stimme, als wäre es seine eigene gewesen.

Erschreckt fuhr er herum und sah unmittelbar hinter sich einen Mann stehen, groß, schlank, braungebrannt, im dunklen Anzug, mit einer weißen Nelke im Knopfloch. Die Hände steckten in den Taschen, die Miene war spöttisch. In den Augen lag ein harter Ausdruck. Tadellose Zähne nagten an der Unterlippe. Dies deutete daraufhin, daß sich der Mann in einem Zustand innerer Erregung befand.

«Wie meinen Sie?«fragte Krahn.

«Verzeihen Sie«, antwortete der Unbekannte,»ich sprach nur mit mir selbst. Ich wollte Sie«, fügte er spöttisch hinzu,»nicht stören in Ihrer Andacht.«

«Sagten Sie >Affentheater

«Dieser Ansicht werden Sie zwar nicht sein; trotzdem muß ich gestehen, daß ich es sagte, ja.«

«Dieser Ansicht bin ich aber auch.«

«So?«Das klang überrascht.

«Ich war es sogar schon vor Ihnen.«

«Dann kann ich Sie dazu nur beglückwünschen.«

Der Gesichtsausdruck des Unbekannten hatte sich etwas aufgelockert. Das Harte in seiner Miene trat zurück und machte einer gewissen Freundlichkeit Platz.

Inzwischen war Karins Einzug in vollem Gange. Die Musik steigerte sich, Blitzlichter flammten auf, die Leute hatten sich von ihren Stühlen erhoben, um besser sehen zu können. Im Haar Karins, die nach allen Seiten lächelte und immer wieder huldvoll die Hand hob, blitzte das goldene Krönchen, das man ihr schon bei ihrer Wahl aufgesetzt hatte.

«Ich kann das nicht mehr sehen«, knurrte der Unbekannte.

«Mir reicht's auch«, pflichtete Peter Krahn bei.

«Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Gehen wir in die Bar und trinken gemeinsam einen Schluck auf unsere unverkennbare Seelenverwandtschaft. Einverstanden?«

An der Theke kamen sich die beiden rasch näher. Natürlich blieb es nicht bei einem Schluck. Das Gespräch kreiste meistens um die gleiche Person.

Peter Krahn sagte:»Die ist verrückt.«

«Wer?«

«Die Karin.«

«Meinen Sie die?«

Der Unbekannte zeigte dabei mit dem Daumen empor zur Decke, über der eine Etage höher die >Miß Nickeroog< auf ihrem Thronsessel residierte.

«Ja, die«, erwiderte Krahn.

«Das ist sie«, nickte der Fremde.

«Zu Hause ist die ganz anders.«

«Wo zu Hause?«

«Bei uns in Düsseldorf.«

Das schlug bei dem Mann mit der Nelke ein wie eine kleine Bombe.

«Kennen Sie die etwa?«

«Von klein auf.«

«Das sagen Sie jetzt erst?!«

«Ihr Vater hätte mich sogar gern als Schwiegersohn.«

Der Unbekannte zuckte etwas zurück.

«Das soll er sich mal aus dem Kopf schlagen. Die paßt nicht zu Ihnen.«

«Meinen Sie?«

«Ganz bestimmt nicht. Sie sagen doch selbst, daß sie verrückt ist.«

Peter Krahn war schon beim dritten Klaren angelangt, zu dem er von dem Fremden ermuntert wurde.

«Wer sie am ehesten wieder auf Vordermann bringen kann, ist ihr Vater. Der würde ihr den Hintern versohlen, wenn er hier wäre«, sagte Peter.

«Ein prachtvoller Mensch, scheint mir.«

«Das Gegenteil von seiner Frau.«

«Kennen Sie die auch?«

«Nur zu gut. Die spinnt total, und zwar von jeher, nicht nur ausnahmsweise, wie die Karin, die ich holen soll.«

«Holen?«

«Dazu bin ich hergeschickt worden.«

«Das müssen Sie mir erzählen. Das interessiert mich. Sie müssen mir überhaupt alles erzählen, was mit dieser Familie zusammenhängt.«

Dagegen sträubte sich aber Peter Krahn noch. Er könne sich gar nicht vorstellen, daß einen Fremden das wirklich interessiere, erklärte er; außerdem wolle er nicht indiskret sein, setzte er hinzu und schlug vor:»Sprechen wir von etwas anderem.«

Der Nelken-Mann ließ einen vierten Klaren auffahren.

«Prost, Herr.«

«Krahn. Peter Krahn.«

«Angenehm. - Torgau. Walter Torgau.«

«Ich bin Ihnen schon um zwei voraus.«»Sie irren sich, wir liegen gleichauf.«

«Nee, nee, ich kann doch zählen.«

«Sie sind also hergeschickt worden, um Karin zu holen. Von wem?«

«Von ihrem Vater«, erwiderte Peter.»Aber ich sage Ihnen doch, daß das für Sie uninteressant ist. Unterhalten wir uns lieber über Fußball. Wer wird Deutscher Meister?«

Also immer noch keine Bereitschaft zur Indiskretion auf Seiten Krahns. Aber lange hielt er nicht mehr stand.

Beim fünften Schnaps löste sich seine Zunge, und er erzählte alles, was der Mann mit der Nelke von ihm erfahren wollte.

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