Nickeroog liegt vor der Nordseeküste. Es ist eine Insel mit einem Bad, das vornehmlich von Leuten besucht wird, die Spaß daran haben, aus einem langweiligen sandigen Strand ein kleines Paradies zu zaubern. Anscheinend gefällt das sehr vielen Menschen, denn wie die Pilze waren die weißen Hotels, die Strandpromenaden, die Pensionen, die >Original Fischerhäuser< und die eleganten Nachtbars emporgeschossen, und der flache Strand vor den Dünen, die Reihen der bunten Strandkörbe und die vielen Wimpel über den Sandburgen erweckten in den Gästen, die ankamen, das Gefühl, in eine ungewohnte, völlig unbeschwerte Welt einzutreten.
Wie überall an der See lagen auch hier die braunen Gestalten in der Sonne und ließen sich braten, wie überall spielten Kinder mit dicken Bällen, saßen ältere Herren in großen Burgen und kloppten Skat, flirteten junge Mädchen mit athletischen Typen, die sich, wenn sie Zeitung lasen, nicht für den Kulturteil, sondern für die Seite mit dem Sport interessierten, machten Eisverkäufer gute Geschäfte und hatten Mütter mit Kindern alle Hände und Augen voll zu tun, um zu verhindern, daß ihnen ihre Kleinen zu Verlust gingen.
Als Karin auf Nickeroog eintraf und im Palast-Hotel das von ihr bestellte Zimmer bezog, begegnete sie gleich in der Halle einem Mann, der sich nicht scheute, sie auffällig zu mustern und ihr sogar anerkennend zuzunicken. Karin war verwirrt. Wie kommt mir denn der vor? dachte sie. Wenn er ein Ami wäre, würde er mir sicher auch noch nachpfeifen. Und das in einem solchen Haus!
Der Mann war aber kein Amerikaner, das verriet schon seine Kleidung. In dieser Beziehung übertreffen ja bekanntlich die Leute aus der Neuen Welt einander bis zur Unmöglichkeit.
Karins Zimmer hatte zwei große Fenster zum Meer hinaus. Ein Balkon nahm die ganze Front des Hotels ein und war durch dünne Wände abgeteilt in einzelne Reservate für die Zimmer.
Karin trat noch vor dem Auspacken hinaus auf den Balkon. Ein herrlicher Blick tat sich ihr auf. Unter ihr lag der weite Strand mit der bunten Pracht der Körbe und Fahnen und erstreckte sich das leicht bewegte Meer, das am Horizont mit dem blauen Himmel zusammenstieß. Kleine Federwölkchen schmückten das weitgespannte flimmernde Himmelstuch und wirkten wie Flocken auf schillernder Seide. Warm wehte die Seeluft in das Zimmer.
Karins Brust weitete sich. Sie breitete die Arme aus, als wollte sie diese ganze schöne Welt an sich ziehen, sie umschließen. Sie sog mit tiefen Zügen das wunderbare Geruchsgemisch von Wasser, Sand, Wärme und Freiheit ein. Vier Wochen Nordsee, dachte sie glücklich. Vier Wochen keinerlei Pflichten und Rücksichten, keine Großstadt, kein Verkehrslärm, keine elterlichen Ermahnungen, keine Su-permarktbelange aus Vaters Mund schon am Frühstückstisch, und keine aus Mutters Brust aufsteigende Seufzer darüber. Vier Wochen frei sein von all dem — ein glücklicher Mensch sein unter anderen frohen Menschen, unbeschwert, lustig und — sie mußte lächeln — vielleicht auch bald verliebt.
Der Mann in der Hotelhalle fiel ihr ein. Wie aufdringlich er sie angesehen hatte. Oder war das gar nicht so schlimm gewesen? Ergab sich das eben so, wenn ein junges Mädchen allein, ohne Geleitschutz sozusagen, in Meeresnähe dahergesegelt kam? Löste da das eine das andere aus? Karin Fabrici spürte, daß ein Haufen Erfahrungen darauf wartete, von ihr gesammelt zu werden.
Sie trat vom Balkon zurück in ihr Zimmer. Ihr Blick fiel auf die zwei Koffer, die ihr von zwei Pagen in hellroter Livree nachgeschleppt worden waren. Um der Zeit des Knitterns für ihre Kleider ein Ende zu machen, zögerte Karin nicht länger, die Koffer zu entleeren und mit ihren Sachen den Schrank im Zimmer zu füllen. Anschließend zog sie sich aus, duschte sich und legte sich nackt aufs Bett, um sich auszuruhen; um Kräfte zu sammeln, hätte man auch sagen können. Nach einem Stündchen fühlte sie sich frisch genug, die Welt zu erobern.
Sie schlüpfte in ein Strandkleid aus weißem Leinen, das verziert war mit roten Ornamenten, und in flache Strandschuhe. Dann stieg sie die Treppen hinab und lief durch die Halle hinaus zum fast vor der Tür liegenden Strand. Beim Strandkorbvermieter, einem kahlköpfigen Alten, der seinen linken Arm bei Stalingrad gelassen hatte, mietete sie einen Liegekorb mit der Nummer 45 und schlenderte dann durch den mehligen Sand, um diesen Korb zu suchen. Als sie ihn schließlich in der Nähe einer vorgeschobenen flachen Düne entdeckte, stellte sie erstaunt fest, daß der Korb und eine dazu gehörende halb verfallene Burg bereits belegt waren. Ein braungebrannter Mann lag da im Sand auf einem ziemlich alten Bademantel, hatte sein Gesicht dick eingefettet und schien in der Sonne zu schlafen. Neben ihm lag aufgeschlagen ein Buch.
Karin warf einen Blick auf ihr Ticket. Nein, sie hatte sich nicht geirrt, Korb und Ticket stimmten überein, beide trugen die Nummer 45.
Also lag da ein unverschämter Mensch, der sich fremde Rechte angeeignet hatte. Ein Freibeuter. Ein Nassauer, der auf Kosten anderer Leute -
Karin brach ihre Gedankenkette ab und fragte sich statt dessen, was zu tun sei. Der Kerl schlief. Ihn wecken, war das Nächstliegende. Ihn zum Teufel jagen. Sich höchstens noch seine Entschuldigung anhören.
Wie sieht er denn eigentlich aus? Karin setzte sich neben den Mann und betrachtete ihn. Schwer zu sagen, wie er aussah. Die fettglänzende Haut im Gesicht des Mannes und eine große Sonnenbrille erschwerten es Karin, sich einen zuverlässigen Eindruck zu verschaffen. An den Schläfen waren schon einige graue Fäden zu entdecken, aber das ließ keinen Schluß auf das Alter zu, denn der Körper machte einen absolut sportlichen, durchtrainierten Eindruck. Lang und schlank lag der Mann da, ein guter Anblick — nur der alte, an den Nähten ausgefranste Bademantel störte.
Wer heute in Nickeroog Ferien macht, müßte das Geld haben, sich einen anständigen Bademantel zu kaufen, dachte Karin. Oder er bleibt eben zu Hause. Ich jedenfalls würde das tun.
Und ich, setzte sie in Gedanken hinzu, würde auch zu Hause bleiben, wenn ich nicht gut genug bei Kasse wäre, um mir einen Strandkorb zu mieten.
Sie räusperte sich. Nichts geschah.
Sie räusperte sich noch einmal, unterstützt von einer Möwe, die in diesem Augenblick über sie hinwegschoß und ihr den Gefallen erwies, dabei besonders laut und mißtönig zu kreischen. Den vereinten Kräften Karins und des Vogels gelang es, den gewünschten Erfolg zu erzielen.
Der Mann rührte sich, öffnete die Augen, blickte empor zum Himmel, drehte das Gesicht herüber zu Karin, nahm die Sonnenbrille ab und unterzog Karin einer längeren Betrachtung — das gleiche, was Karin vorher mit ihm getan hatte.
«Mistvieh!«sagte er dann laut und deutlich.
Karin zuckte ein wenig zurück.
«Wie bitte?!«
Der Mann grinste kurz.
«Ich meinte nicht Sie.«
«Sondern?«
«Emma.«
Karin blickte hinter sich, ob außer ihr noch jemand da sei. Nein, das war nicht der Fall.
«Welche Emma?«fragte sie.
«Die Möwe. «Er setzte die Sonnenbrille wieder auf.»Sie hat mich geweckt.«
«Ich auch«, sagte Karin und bekräftigte mit erhobener Stimme:»Wir beide haben Sie geweckt.«
«So?«
«Ja.«
«Aber gehört habe ich nur Emma.«
Karin blickte ihn stumm an. Die Frage, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, lautete, ob er wohl nicht ganz bei Trost sei.
Er grinste wieder.
«Sie kennen Morgenstern nicht?«stellte er sie vor ein Rätsel.
«Welchen Morgenstern?«
«Den Dichter.«
Nun, Dichter waren nicht Karins Stärke. Doch auf welches junge Mädchen trifft das nicht zu? Sie haben schon mal von Goethe und Schiller gehört, aber dann.
«Morgenstern? Ein Dichter?«wunderte sich Karin.
Der Mann lachte.
«Sogar ein guter.«
«Das glaube ich nicht«, widersprach Karin.
«Doch, doch.«»Jedenfalls kann er nicht sehr bekannt sein, sonst hätte ihn meine Mutter schon mal erwähnt.«
Dies schien dem braungebrannten Sonnenanbeter eine Frage wert zu sein.
«Ihre Mutter?«
«Sie liest jede freie Minute«, erklärte Karin stolz.
«Respekt!«
«Aber Morgenstern.? Nein, von dem noch nichts, da bin ich ganz sicher.«
«Vielleicht bevorzugt sie nur Prosa?«
«Was?«
«Romane.«
«Ja, natürlich, was denn sonst?«
«Es gibt auch noch Lyrik.«
«Was?«stieß Karin wieder hervor.
«Gedichte.«
Karin spürte natürlich, daß sie nicht gerade gut abschnitt bei diesem Frage- und Antwortspiel, aber das machte ihr nichts aus. Wenn man ein so hübsches Mädchen war wie sie, wurde einem mangelnder Bildungsglanz nachgesehen. Was sie zu bieten hatte, waren zuerst einmal äußere Werte; auf innere mochte man vielleicht später Wert legen.
Die äußeren waren es auch, die den Sonnenanbeter nun veran-laßten, sich aufzusetzen, sich mit einer Hand im Sand aufzustützen (in der anderen hielt er noch immer seine Sonnenbrille) und Karin ähnlich ungehemmt in Augenschein zu nehmen wie der Mann in der Hotelhalle. Karin konnte es nicht verhindern, unter seinem Blick zu erröten. Sie ärgerte sich.
«Sie sind heute erst angekommen«, sagte er.
Karin schwieg.
«Sie wären mir sonst schon eher aufgefallen«, fuhr er fort.»Wo wohnen Sie?«
Karins Antwort bestand darin, ihm stumm ihr Ticket zu zeigen. Sie erwartete sich davon die einzig mögliche Reaktion des Mannes. Es geschah aber nichts. Ihre Rechte blieben ihr vorenthalten.
«Sie werfen zwar mit unbekannten Dichtern um sich«, sagte Karin daraufhin,»aber lesen können Sie anscheinend nicht.«
Sie hielt ihm dabei ihr Ticket noch näher vor Augen und zeigte auf die Nummer des Liegekorbes.
«Fünfundvierzig«, sagte er.
«Von mir gemietet, mein Herr.«
«Gratuliere.«
«Danke, aber. «Sie machte eine Handbewegung, der nur der Sinn innewohnen konnte, daß er sich verflüchtigen möge.
«Wissen Sie, warum ich Ihnen gratuliere?«antwortete er jedoch ungerührt.
«Warum?«
«Weil Sie mich mit gemietet haben.«
«Weil ich was habe?«
«Mich mit gemietet. Ich liege seit einer Woche in dieser Burg und vor diesem Korb und finde die Position hier am Rand der Düne herrlich. Daß Sie mich zwingen wollen, das aufzugeben, kann ich mir gar nicht vorstellen.«
«Es wäre aber angebracht von Ihnen, sich das ganz rasch vorzustellen.«
«Und wenn ich mich dazu nicht in der Lage fühle?«
Die Hartnäckigkeit, ja die Frechheit des Mannes trieb Karin mehr und mehr auf die Palme.
«Dann werde ich«, drohte sie ihm an,»die Kurverwaltung ersuchen, Sie aus meinem Korb zu entfernen.«
«Schade. «Der Fremde grinste breit.»Ich wäre bei Ihnen so gern der Hahn im Korb.«
«Ich will Ihnen etwas sagen«, erklärte Karin, wobei sie sich aus dem Sand erhob.»Es liegt mir nicht, Streit zu suchen. Ich gebe Ihnen deshalb Gelegenheit, die Sache friedlich beizulegen, während ich mich hier ein bißchen umsehe. In einer halben Stunde werde ich aber zurück sein, und ich hoffe, daß Sie dann das Feld geräumt haben. Wenn nicht, werde ich Sie dazu eben zwingen müssen. Ersparen Sie mir das, bitte.«
Sie wandte sich ab und ging davon.
«Hallo!«rief er ihr nach.»Hallo!«
Sie setzte ihren Weg fort, ohne sich umzudrehen. Er verstummte. Karin ging durch die Dünen zum Hauptstrand zurück. Die Musik der Strandkapelle, die in einer großen Zementmuschel am Meer saß, tönte ihr entgegen. Auf der festgewalzten Strandpromenade vor den Glasterrassen der Hotels und vor den Eispavillons, den Cafes und Andenkenbuden stolzierten die Damen, angetan mit den neuesten Modeschöpfungen des Sommers. Lachen und Rufe, Kinderweinen und Wortfetzen angeregter Unterhaltung schwirrten durcheinander, während nahe der Musikmuschel Handwerker ein großes Holzpodium und einen langen Laufsteg bis zu einem anderen Podium aufbauten, wo in vornehmen Schwarz ein großer Konzertflügel unter einem blendend weißen Sonnenschirm stand.
Karin sah den Arbeitern eine Weile zu, ohne zu wissen, was da von ihnen errichtet wurde. Dann schlenderte sie zu einem Eispavillon und setzte sich auf einen der Hocker, die vor der wie eine Bar gestalteten Theke aufgereiht waren. Der Eismixer schüttelte ihr in einem Becher eine Portion zusammen, die er poetisch >Südsee-träume< nannte und die vornehmlich aus Erdbeereis und kleinen Ananasstückchen bestand. Dann schaute Karin weiter dem Treiben am Strand zu und dachte ein wenig an den Mann in ihrem Strandkorb.
Ein unverschämter Kerl. Ein Flegel. Vorgestellt hatte er sich auch nicht. Ein Parasit, dessen Dreistigkeit ihresgleichen suchte. Ein Angeber dazu. Erzählte etwas von Dichtern, die nur er kannte.
Aber kein Dummkopf. Nein, kein Esel. Hatte intelligente Augen. Hübsche Augen. War schlagfertig. Das mit dem Hahn im Korb z.B. das war gut. Beinahe hätte ich mir, dachte Karin, das Lachen nicht verbeißen können.
Sie seufzte. Der Eismixer wurde aufmerksam.»Haben Sie noch einen Wunsch?«fragte er.
«Nein, danke.«
Karin schickte sich an, von ihrem Hocker herunterzurutschen, sah auf ihre Armbanduhr und stellte fest, daß die halbe Stunde noch nicht um war.
«Oder doch«, korrigierte sie sich und ließ sich vom Eismixer ihren Becher noch einmal füllen.
Ein Rudel junger Männer, anscheinend Studenten, kam in den Pavillon und sorgte für Betrieb und Lärm. Jeder wollte sein Eis als erster haben, und keiner wollte davon Abstand nehmen, mit Karin zu flirten.
Karin taxierte innerlich einen nach dem anderen ab, und ihr Pauschalurteil über alle lautete schließlich: zu jung, zu unreif.
Der >Hahn in ihrem Korb< war zwar auch frech gewesen, draufgängerisch wie die hier — aber nicht unreif.
Das Eis in Karins Becher begann zu schmelzen. Nachdenklich schlürfte sie es durch einen langen Strohhalm und kaute die Ananasstückchen, ohne eigentlich deren Geschmack bewußt wahrzunehmen.
Von den Studenten, die spürten, daß sie hier keine besondere Wertschätzung fanden, blies ihr einer die Papierhülle seines Strohhalms in den Schoß. Die Aktion wurde allgemein bejubelt.
Kindsköpfe! dachte Karin, zahlte und verließ den Pavillon. Die Hände in den Taschen ihres Strandkleides, die modische Sonnenbrille vor den Augen, schlenderte sie von Andenkenstand zu Andenkenstand, betrachtete die Angebote, sagte sich, daß sie noch vier Wochen lang Zeit haben werde, sich für dies oder jenes zu entscheiden, blickte wieder auf die Uhr, schwenkte dann ab und ging zurück zu ihrem Strandkorb.
Eigentlich war es ja blöd von mir, dachte sie unterwegs, dem Menschen eine Gnadenfrist zu geben. Los, verschwinden Sie, hätte ich sagen sollen, und zwar sofort! Aber was habe ich statt dessen gemacht? Nachgegeben habe ich ihm. Davongelaufen bin ich praktisch. Ich dumme Gans.
War das mein Korb, oder war er es nicht? Natürlich war er es, und deshalb hätte ich meine Rechte auf ihn auch unverzüglich geltend machen sollen. Unverzüglich!
Karin Fabrici zürnte sich selbst.
Aber das Problem, dachte sie dann etwas milder gestimmt, ist ja jetzt gelöst; den Menschen bin ich jedenfalls los. Und die Kurverwaltung mußte ich auch nicht in Anspruch nehmen. Außerdem kam ich noch in den Genuß der >Südseeträume<, das war sogar ein Vorteil.
Wo mag er sich denn inzwischen eingenistet haben? fragte sie sich. Wer wird denn nun das Glück mit ihm haben?
Nirgends hatte er sich inzwischen eingenistet, niemand hatte das Glück mit ihm — außer nach wie vor Karin selbst.
Als sie nämlich um die Düne bei ihrem Korb herumschwenkte, war zu sehen, daß der unmögliche Mensch immer noch an seinem alten Platz lag und in dem Buch las, das Karin schon anfangs auch bemerkt hatte.
«Das ist ja die Höhe!«stieß sie hervor.
Der Mann klappte das Buch zu.
«Was glauben Sie eigentlich?«fauchte Karin.
Er hätte gern wieder einmal gegrinst, doch ihr Zorn war echt, und da das nicht zu verkennen war, sagte er, um sie etwas zu besänftigen:»Ich wollte ja verschwinden.«
«Und warum sind Sie nicht verschwunden?«
«Weil ich Ihnen sozusagen noch eine Aufklärung schuldig bin. Ich rief Ihnen auch deshalb nach, aber Sie haben nicht mehr reagiert.«
«Welche Aufklärung?«
«Über Emma.«
«Ach. «Mit einer wegwerfenden Handbewegung.»Das interessiert mich nicht. Sicherlich wollten Sie sich irgendwie interessant machen. «Dieselbe Handbewegung noch einmal.
«Nein«, sagte er,»das war eine Erinnerung an den Dichter Morgenstern.«
«Soso.«
«Ein ganz berühmtes Gedicht von ihm beginnt mit der Zeile: Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen…<. «Damit erhob er sich.»Ja, hiermit wissen Sie's nun. Ich wollte Ihnen das sagen. Sie hätten mich ja sonst für blödsinnig halten müssen, mit meinem >Emma<-Gefasel. «Er bückte sich und hob seinen alten Bademantel auf.»Und jetzt erweise ich Ihnen den Gefallen und räume das Feld. Schönen Urlaub wünsche ich Ihnen.«
Als er sich abwandte, um zu gehen, sagte Karin:»Und damit soll ein gutes Gedicht beginnen?«
Er verhielt noch einmal den Schritt.
«Ein sehr gutes!«
«Das glaube ich nicht.«
«Warum nicht?«Er blickte sie an, und plötzlich grinste er nun in der Tat wieder.
«Weil das doch wirklich Blödsinn ist«, sagte Karin.» Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen…<. «Sie schüttelte den Kopf.»Nee, nee, das können Sie mir nicht erzählen, daß das gut sein soll.«
Sein Blick wurde etwas herablassend.
«Mein liebes Fräulein«, sagte er dann,»es gibt in der Literatur eine Art von Blödsinn, eine gewisse Form, verstehen Sie, die ist unübertrefflich geistreich, die hat etwas an sich, das den ihr innewohnenden Witz konkurrenzlos macht. Man muß natürlich eine Antenne dafür haben.«
«Und die habe ich nicht, wollen Sie sagen?«
Wenn er mir jetzt nicht sofort widerspricht, dachte sie, dann kann er aber was erleben! Dann mache ich ihm wirklich die Hölle heiß!
«Es scheint so«, meinte er.
Und prompt wurden Karins Lippen, die normalerweise so hübsch und voll waren, schmal.
«Wissen Sie, was Sie sind?«
«Was?«»Ein Snob. Sie bilden sich eine Menge auf etwas ein, das Sie anscheinend nicht in die Lage versetzt, sich einen anständigen Bademantel zu kaufen.«
Der Hieb saß.
Karins Kontrahent blickte auf das edle Stück in seiner Hand, das er so sehr liebte, von dem er sich einfach noch nicht hatte trennen können, obwohl er wußte, daß es dazu längst Zeit gewesen wäre. Meistens wachsen solche Beziehungen zwischen Männern und alten, verschwitzten Hüten, aber es gibt eben auch andere Fälle.
«Und wissen Sie, was Sie sind?«fragte der Unbekannte Karin.
Das war nicht schwer zu erraten.
«Eine dumme Gans, denken Sie, nicht?«ereiferte sie sich.»Aber hüten Sie sich, mir das ins Gesicht zu sagen. Ich lasse mich von Ihnen nicht beleidigen. Mir genügt das, was Sie sich bis jetzt schon mir gegenüber geleistet haben. Ich werde mich über Sie beschweren, verstehen Sie?«
«So, werden Sie das?«
«Ja, darauf können Sie sich verlassen.«
«Dazu brauchen Sie aber meinen Namen.«
Karin stutzte.
«Richtig«, erkannte sie.»Und daß Sie mir den verraten werden, erhoffe ich wohl vergebens?«
«Nein«, entgegnete er zu ihrer Überraschung.»Ich heiße Walter Torgau. - Torgau… wie die Stadt in Sachsen.«
Das hatte Karin wirklich nicht erwartet. Sie wußte deshalb nicht gleich, was sie sagen sollte.
Karin Fabrici war ein sehr temperamentvolles Mädchen, ja vielleicht sogar eine kleine Cholerikerin. Das hatte sie von ihrem Vater geerbt. Doch so jäh ihr Zorn aufflammen konnte, so rasch fiel er meistens auch wieder in sich zusammen. Außerdem schien dieser Mensch hier ja auch eine oder zwei gute Seiten zu haben — die Art, wie er sich z.B. da soeben vorgestellt hatte, ohne daß er dem geringsten Zwang dazu unterworfen gewesen wäre, verdiente doch eine gewisse Anerkennung.
«Wenn Sie jetzt gehen«, sagte Karin,»ist der Fall für mich erledigt, Herr Torgau. Ich will unseren Zusammenstoß vergessen. «Sie zwang sich sogar zu einem kleinen Lächeln.»Ich wüßte ja auch gar nicht, wo ich mich beschweren sollte. Bei wem? Ich will gar nicht danach suchen.«
Statt sich dankbar zu zeigen, erwiderte Torgau mit deutlicher Ironie:»Bei wem Sie sich beschweren sollten? Am besten gleich beim Kurdirektor persönlich.«
Kein Wunder, daß es in Karin schon wieder zu gären begann.
«Ist das Ihr Ernst?«fragte sie.
«Mein voller! Und bestellen Sie dem guten Onkel Eberhard schöne Grüße von Schlupp.«
Karin starrte ihn mit leicht geöffnetem Mund an und war einen Moment lang sprachlos. Als sie sich wieder gefaßt hatte, sagte sie erkennend:»Daher Ihr Benehmen.«
«Onkel Eberhard wird mich trotz meiner Verwandtschaft mit ihm zum Rapport bestellen.«
Weibliche Neugierde verhakt sich oft an Nebensächlichem.
«Wieso Schlupp?«fragte Karin.»Was heißt das?«
«Schlupp ist ein Überbleibsel aus meiner seligen Kindheit. Als man es noch wagen durfte, mich nackt auf einem Eisbärfell zu fotografieren, nannte man mich Schlupp. Warum — das weiß heute keiner mehr.«
«Genau wie bei mir«, entfuhr es Karin.
«Ja?«
«Mir blieb in der ganzen Verwandtschaft lange die Bezeichnung >Wepse<. Niemand konnte sagen wieso.«
«Vielleicht war damit >Wespe< gemeint.«
«Wespe? Das Stacheltier?«
«Könnte doch sein«, grinste er.
«Nicht sehr schmeichelhaft für mich.«
Aber zutreffend, dachte er und fragte sie:»Verstehen Sie Bayrisch?«
«Nein, wieso?«
«Die Altbayern sagen >Weps< zur Wespe. Sie drehen also die zwei Konsonanten in der Mitte des Wortes um. Außerdem verändern sie auch das Geschlecht. Sie sagen Der Weps< und nicht Die Wespe<.«
Karin staunte. Sie dachte auch wieder an Morgenstern und fragte:»Woher wissen Sie das alles? Sind Sie Philologe?«
«Nein.«
«Bibliothekar?«
«Auch nicht.«
«Oder etwas Ähnliches?«
Er schüttelte noch einmal verneinend den Kopf, entschloß sich plötzlich, in seinen alten Bademantel zu schlüpfen, und sah dann, angetan mit dem zerfransten Stück, an sich herunter, wobei er sagte:»Und nun möchte ich Ihnen diesen Anblick nicht mehr länger zumuten. Schönen Dank für die Zeit, die Sie mir hier Quartier gewährt haben.«
Karin blickte ihm nach. Das wäre aber jetzt auch nicht notwendig gewesen, dachte sie. Wir hätten uns doch irgendwie einigen können. Er mit der Nase in seinem Buch, ich mit dem Gesicht in der Sonne, die Augen geschlossen, beide einander keine Beachtung schenkend — warum hätte das nicht gehen sollen?
Karin betrachtete ihren Korb, trat näher an diesen heran. Er wirkte so leer. Dem wäre aber abzuhelfen gewesen dadurch, daß sie sich in ihn hineingesetzt hätte. Indes, dazu verspürte sie plötzlich nicht mehr die richtige Lust.
Erstens brauche ich etwas, sagte sie sich, zum Lesen. Und zweitens will ich braun werden; das kann ich aber nur im Badeanzug und nicht im Strandkleid. Wozu habe ich denn meinen neuen Bikini? Du liebe Zeit, fiel ihr ein, der liegt ja noch im Hotel.
So kam es, daß Karin Fabrici verhältnismäßig bald wieder am Hauptstrand auftauchte, wo die Arbeiten, die dort verrichtet wurden, rasch ihren Fortschritt genommen hatten und noch nahmen. Karin hatte es nicht eilig; ihr Bikini, den sie holen wollte, lief ihr nicht davon. Sie blieb stehen, um ein bißchen zuzugucken. Gerade wurde über den breiten Laufsteg, der die beiden Podien verband, ein blutroter Teppich gelegt, und an den Podien selbst stellten Arbeiter große, in grünen Holzkisten gepflanzte Palmen im Halbkreis herum. Ein Mann in einem weißen Fresko-Anzug dirigierte die Schar der Tätigen und reagierte sofort, als er Karins Interesse bemerkte, indem er sich galant vor ihr verneigte und lächelnd fragte:»Gnädigste werden sich heute abend auch zur Wahl stellen?«
«Zur Wahl?«Karin schüttelte den Kopf.»Welche Wahl denn?«
«Das wissen Sie nicht? Sie sind wohl heute erst angekommen?«
«Ja.«
«Daher also. Die Insel wählt heute abend unter Beteiligung aller Gäste seine Königin. Die schönsten der jungen Damen werden sich um den Titel der >Miß Nickeroog< des laufenden Jahres bewerben. Der Preis: >24 Stunden lang Leben eines Filmstars<. Die NNDF — Neue Norddeutsche Film AG — hat sich dazu zur Verfügung gestellt. Für die Gewinnerin der Wahl wird das eine einmalige Chance sein. Versteht sie es, die Gelegenheit beim Schopf zu packen, und hat sie das nötige Talent, kann sie für immer beim Film landen. Ist das nichts, meine Gnädigste?«
«Doch, doch«, lachte Karin.
«Ich bin der Veranstalter dieser Schönheitskonkurrenz. «Abermalige Verneigung.»Wenn Sie gestatten: Johannes M. Markwart.«
«Freut mich«, sagte Karin, unterließ es aber, sich selbst auch vorzustellen.
Johannes M. Markwart war es gewohnt, seinen Job oft mit Privatem zu verbinden.
«Gnädigste«, meinte er mit gedämpfter Stimme,»ich hätte Sie zur Teilnahme an der Wahl gar nicht animieren dürfen.«
«Warum nicht?«
«Weil ich selbst den Ruin meiner Veranstaltung damit sichergestellt habe. Sie wird keine Konkurrenz mehr sein.«
Was er damit meinte, war nicht schwer zu begreifen.
«Wenn das so ist«, erklärte Karin vergnügt,»werde ich an der Veranstaltung natürlich nicht teilnehmen, um Sie vor Schaden zu bewahren.«
«Aber nein!«rief Johannes M. Markwart.»Lassen Sie sich um Himmels willen nicht davon beeinflussen. Was kümmert mich geschäftlicher Mißerfolg gegen das Geschenk, mit Ihnen bekannt zu werden, mit Ihnen Kontakt zu bekommen, diesen auszubauen, ihn zu intensivieren bis hin zu einer Verbindung, die gekennzeichnet wäre durch die Rosen, die ich Ihnen auf den Weg streuen möchte.«
Solche Sprüche schüttelte ein Johannes M. Markwart sozusagen aus dem Ärmel. Das gehörte zu seinem Beruf. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß er dies gegenüber Karin Fabrici ohne jede innere Beteiligung getan hätte. O nein, dieses Mädchen sah so toll aus, daß er in der Tat auf Anhieb dazu neigte, ihr allererste Priorität zuzugestehen und alles andere zurückzustellen. Um es anders zu sagen, allgemeinverständlicher: Er hätte sie nur allzu gerne vernascht und war spontan entschlossen, dies anzustreben.
«Ich darf also mit Ihnen rechnen, Gnädigste?«fragte er.
«Wir werden sehen«, antwortete Karin, um der Sache ein Ende zu machen, nickte ihm lächelnd zu und entfernte sich.
Sie hatte von weitem einen gewissen Bademantel erkannt, dessen Träger die Promenade entlangkam, munter mit einer wohlproportionierten rothaarigen Dame plaudernd, mit der er bestens bekannt zu sein schien. Wenn er allein gewesen wäre, hätte es Karin vielleicht so eingerichtet, daß sie mit ihm noch einmal zusammengetroffen wäre. Da er sich aber in Begleitung dieser Rothaarigen befand, störte sie das. Warum eigentlich? Karin wußte es nicht. Sie ging weiter. Das Gespräch mit dem Veranstalter Markwart hatte sie ganz spontan abgebrochen. Frauen oder Mädchen haben oft irgendwelche Empfindungen, über die sie sich selbst keine Rechenschaft abzulegen vermögen.
Wenn sich Markwart darauf verließ, daß das tolle Mädchen, nach dem er da soeben seinen Köder ausgeworfen hatte, heute abend in die Haut einer Miß< schlüpfen würde, um an der Wahl der Schönsten teilzunehmen, war er auf dem Holzweg. Wer nahm denn an so etwas schon teil? Billige Mädchen, verrückte Dinger, die Filmflausen im Kopf hatten. Aber keine Karin Fabrici!
Ansehen wollte sie sich die Veranstaltung aber schon.
Walter Torgau hatte Karin auch entdeckt, als sie mit Markwart gesprochen und dieser es vor aller Augen auf sie angelegt hatte.
«Lola«, hatte er zur Rothaarigen an seiner Seite gesagt,»siehst du das?«
«Was?«
«Wie der Hannes die aufs Korn nimmt?«
Lola blieb stehen, zwang dadurch auch Torgau zum Anhalten und beobachtete mit verengten Augen das Geschäkere des Mannes im weißen Fresko-Anzug mit einem verdammt hübschen Mädchen.
«Was ist denn das für eine?«fragte sie.
«Keine Ahnung«, antwortete Walter Torgau.
Lola schaute wieder. Ein Weilchen blieb es stumm zwischen ihr und Walter. Lolas Miene wurde böse. Daraus ließ sich schließen, daß Lola auf den Mann im weißen Fresko gewisse Rechte zu haben glaubte, die ihr gefährdet erschienen.
«Komm«, sagte sie und wollte Walter am Arm mit fortziehen. -
Er rührte sich aber nicht vom Fleck. -
«Wohin?«fragte er. -
«Zu denen hin. Ich kratze der die Augen aus.«-
«Wieso ihr? Siehst du nicht, wer dort die treibende Kraft ist?«-
Noch einmal wurde Lola zur schweigenden Beobachterin. Nicht — lange jedoch, und sie bekannte sich zur Ansicht Walters. Zähneknirschend sagte sie:»Wenn der glaubt, das mit mir machen zu können, täuscht er sich. Eher bringe ich ihn um.«
«Es ist dir wohl klar, worum's ihm geht«, goß Walter Torgau Öl ins Feuer.
«Sicher! Ins Bett will er mit der, was denn sonst?«
«Und als Einleitung schwebt ihm für heute abend die Wahl dieses Mädchens zur >Miß Nickeroog< vor. Das ist doch seine Tour. Genau so hat er's ja auch mit dir gemacht, erinnere dich doch.«
«Dieser Schuft!«
«Du mußt aufpassen, Lola.«
«Das werde ich auch, darauf kannst du dich verlassen!«»Wie ich dich kenne, wird es dir gelingen, ihm das Konzept zu verderben.«
«Du kennst mich sehr gut.«
«Allerdings sagtest du, daß du ihn notfalls umbringst«, witzelte Walter Torgau, bestrebt, die hauptsächlich von ihm vergiftete Atmosphäre wieder ein bißchen aufzulockern.»Das ginge natürlich zu weit.«
«Ich bringe ihn aber eher um!«entgegnete Lola in vollem Ernst.
«Red keinen Quatsch. Auf so was steht lebenslänglich, Lola.«
«Laß mich mit deinen Paragraphen in Ruh'. Ihr Juristen habt kein Blut in den Adern, sondern Tinte. Außerdem wäre das kein Mord, wie du zu glauben scheinst, sondern Totschlag. Ein bißchen kenne ich mich auch aus.«
«Auch das dir aus dem Kopf zu schlagen, kann ich dir nur raten.«
Lola, die ihren Hannes und das viel zu hübsche Mädchen nicht aus den Augen gelassen hatte, sagte plötzlich ein bißchen erleichtert:»Jetzt geht sie.«
Man konnte sehen, wie Karin sich entfernte. Sie überließ einen passionierten Schürzenjäger seinen Träumen, die diesmal nur als Illusionen zu bezeichnen waren.
Torgau hob die Hand zu einem legeren Gruß.
«Wir müssen uns hier trennen, Lola«, sagte er.
«Wohin willst du?«
«Zur Kurdirektion. Ich habe da noch etwas zu erledigen.«
«Bei deinem Onkel?«
«Oder seiner Frau.«
«Tschüß!«
«Tschüß!«
Lola setzte sich in den nächsten Eispavillon, um ihrem aufgewühlten Inneren Zeit zu geben, sich wieder etwas zu beruhigen. Erst wenn das erreicht sein würde, wollte sie sich ihren Hannes vorknöpfen.
Über dem Haupte Torgaus hing die Drohung, daß bei der Kurdirektion eine Beschwerde über ihn einging. Wenn ja, sollte dies die Direktion nicht ganz unvorbereitet treffen. Walter eilte deshalb mit
langen Schritten um das Kurhaus herum und betrat durch einen Nebeneingang das große Gebäude. An einer Tür im zweiten Stockwerk hing ein Schildchen mit der Aufschrift >Kurdirektor. Privat.< Torgau zögerte davor kurz, grinste, klopfte an und trat mit den Bewegungen eines Mannes, der so etwas gewöhnt ist, in das weite, helle Zimmer, wo ihn eine elegante Vierzigerin empfing. Als die Dame seiner ansichtig wurde, lächelte sie erfreut.