Kapitel 2

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen — sagt man hernach. Vorher ist es meistens so, daß der Tag der Abfahrt nicht schnell genug heranrücken kann. Hat man ein Jahr lang auf den Urlaub gewartet, will man möglichst rasch dem verhaßt gewordenen Alltag entfliehen. Aber so schnell geht das nun auch wieder nicht.

Hat man schon ein Zimmer? Nein. Also los, zum Reisebüro! Oder man setzt sich selbst telefonisch mit einem Hotel bzw. einer Pension in Verbindung. Das erfordert aber oft vier, fünf und noch mehr Versuche, gerade in der Hauptsaison.

Dann muß, wie von Karin geplant, eingekauft werden. Auf ihrer Liste standen: drei neue Tageskleider; ein Abendkleid; Schuhe; Shorts; Strandkleidung; eine moderne Sonnenbrille; Parfüm; Filme für den Fotoapparat; zwei Frottiertücher, extra groß; Sonnenöl; Badetasche; Bademantel; Badehaube.

Die Badesachen mußten neu gekauft werden, weil sich die alten entweder nicht mehr fanden oder unmodern geworden waren. Letzteres traf ganz besonders auf die Badehaube zu, die neuerdings nicht mehr glatt sein durfte, sondern einen aus Gummiteilen angefertigten Blumenschmuck aufweisen mußte.

Nagellack mußte auch besorgt werden, und zwar einer, der zum frisch erworbenen Bademantel paßte.

Das Wichtigste war ein neuer Badeanzug. Karin suchte lange nach einem und kaufte dann zur Vorsicht gleich zwei. Sie wählte mit großer Sorgfalt aus — einen Bikini für besondere Fälle und einen normalen, altertümlichen, falls auch der Pastor der Insel zum Strand kommen sollte, um Kühlung im Wasser zu suchen. Mimmi Fabri-ci stand daneben, hielt den Bikini in der Hand, versuchte vergeblich, sich vorzustellen, was damit bedeckt werden sollte, und gab es dann auf, sich über die moderne Jugend zu wundern. Auf jeden Fall sah sie, daß Karin den Zweck der Reise begriffen hatte und alle Dinge kaufte, die dazu dienlich sein mochten, nicht nur ungebildete, ungehobelte Männer in Aufregung zu versetzen, sondern auch Akademiker und — noch besser — Herren von Adel, falls solche vorhanden sein sollten.

Eine halbe Woche später war der ersehnte Tag da, an dem Karin reisefertig im Wohnzimmer stand. Sie trug eine hautenge grüne Hose, in der ihr leckerer Hintern geradezu atemberaubend zur Geltung kam, außerdem ein gelbes T-Shirt, gegen das sich auch ihr nicht weniger leckerer Busen durchzusetzen wußte. Ein ebenso gelber Georget-teschal war kühn durch die blonden Locken geschlungen. Die Sandalen waren ein Geflecht aus dünnsten Lederstreifen. Das ganze Mädchen sah rundherum entzückend aus. Vater Fabrici war innerlich voller Stolz darauf, daß er imstande gewesen war, so etwas in die Welt zu setzen, ließ sich aber äußerlich nichts davon anmerken, sondern brummte griesgrämig:

«Dat kann ja heiter werden.«

«Was kann heiter werden, Vati?«fragte Karin.

«De Betrief, den du do auslösen wirst.«

Mutter Mimmi konnte das nicht mitanhören.

«Paul!«rief sie.»Sprich ordentlich, wenigstens vor dem Kind! Was heißt, der Betrieb, den sie dort auslösen wird? Was soll sie denn für einen Betrieb auslösen?«

«Einen wilden.«

«Im Hotel?«

«Nicht nur im Hotel. Überall unter den Männern.«

«Paul«, sagte Mimmi mit Nachdruck,»dieses Kapitel bedarf keiner Erläuterung mehr. Darüber habe ich mit Karin schon gesprochen. Sie weiß, worauf's ankommt.«

«So? Worauf denn?«

«Mutti, Vati«, fiel Karin den beiden ins Wort,»darüber könnt ihr streiten, wenn ich weg bin. Sagt mir lieber eure Adresse in Millstadt, damit ich euch erreichen kann, wenn etwas wäre.«

«Nicht mehr notwendig«, brummte Paul Fabrici zur Überraschung Karins.

«Wieso nicht?«

«Wir fahren nicht, wir bleiben hier.«

«Und euer Urlaub?«rief Karin.

«Man kann auch zu Hause Urlaub machen.«

Karin verstummte, sie blickte ihre Mutter fragend an.

«Ja, mein Kind«, sagte Mimmi daraufhin achselzuckend,»so ist das: Dein Vater hat diesen Beschluß gefaßt und mich heute morgen davon in Kenntnis gesetzt.«

«Aber warum denn?«»Keine Lust mehr, sagt er.«

«Wegen mir?«

«Nein«, ließ sich Paul Fabrici vernehmen, und als ihn die beiden Frauen anblickten, fuhr er fort zu lügen,»wegen der Österreicher. Ich habe mir das noch einmal überlegt. Seit die uns bei der Fußballweltmeisterschaft in Argentinien besiegt haben, sind sie ja nicht mehr auszuhalten. Ihr kennt den Terporten. Den traf ich gestern, und er hat mir erzählt, daß sein Schwager gerade aus Innsbruck gekommen ist, wo er drei Wochen Urlaub machte. Und drei Wochen lang hatte er von den Österreichern nichts anderes gehört als dieses verdammte 3: 2. Nie wieder, sagt er. Und dann soll ich mir das antun? Ich bin doch nicht verrückt!«

Mutter und Tochter sahen einander an.

«Da hörst du es«, sagte erstere seufzend.

Die Zeit wurde knapp.

«Habt ihr Franz Bescheid gesagt?«fragte Karin.

Ihr Vater warf einen Blick aus dem Fenster.

«Er wartet schon vor dem Haus«, sagte er.

Franz war einer der Angestellten der Firma, der Karin mit dem Wagen zur Bahn bringen sollte.

«Aber eines, Karin«, fuhr Paul fort,»will ich dir in puncto Männer noch sagen, trotz des Widerspruchs deiner Mutter: Bring mir, wenn's zum Äußersten kommt, nicht einen Kerl ins Haus, der nur auf mein Geld aus ist. Hast du verstanden? Wenn's nach mir ginge, wärst du schon mit dem Peter Krahn verheiratet. Einen besseren gäbe es gar nicht für dich.«

«Es geht aber nicht nach dir«, mischte sich Mimmi ein.»Wer ist denn dieser Mensch? Ein gelernter Metzger — «

«Der Erbe einer ganzen Ladenkette!«fiel Paul ein.

«Einer Ladenkette, die keinerlei Reiz auf unsere Tochter ausübt. Das hat sie dir selbst auch schon gesagt.«

Damit wandte sich Mimmi von ihrem Mann ab und befaßte sich nur noch mit Karin. Der Abschied mußte in die Wege geleitet werden. Die zwei Frauen umarmten sich. Mimmi tätschelte ihrer Toch-ter liebevoll die Wange, wobei sie sagte:»Mach's gut, mein Kind, paß schön auf dich auf. Beherzige meine Worte. Wenn du etwas brauchst — ein Anruf oder Telegramm genügt. Ganz lieb wärst du, wenn du uns ein paarmal schreiben würdest.«

Mutter und Tochter küßten sich, erstere quetschte einige Tränen aus den Augen.

Auch Vater bekam einen Schmatz auf die Wange. Tränen traten dabei bei ihm nicht in Erscheinung.

Als Karin draußen in den Wagen kletterte, standen Mimmi und Paul Fabrici am Fenster und blickten ihr nach.

«Hoffentlich sehen wir sie gesund wieder«, sagte Mimmi mit banger Stimme.

«Und nicht als werdende Mutter«, ergänzte Paul trocken.

Das verschlug Mimmi sekundenlang die Sprache.

«Bist du verrückt?«stieß sie dann hervor.

«Wieso?«antwortete er.»Das ist doch die altbekannte Methode von solchen Männern, die ich vorhin meinte: einem Mädchen, das eine gute Partie ist, ein Kind anhängen und sie sich so unter den Nagel reißen. Du tust ja gerade so, als ob du vom Mond kämst.«

«Vom Mond kommst du!« konterte Mimmi.»Das war einmal! Heute sind die Mädchen dagegen geschützt!«

«Großer Gott! Doch nicht dadurch, daß sie keinen ranlassen.«

«Nein, dadurch nicht.«

«Sondern?«

«Durch die Pille, du Dämlack.«

«Die gibt's doch nur auf Rezept«, erklärte Paul nach kurzer Pause, in der er überlegt hatte, ob er gegen den >Dämlack< Protest einlegen sollte.

«Natürlich gibt's die nur auf Rezept«, sagte Mimmi.

«Und ein solches kann sich unsere Karin selbst nicht ausstellen.«

«Sie nicht, aber Dr. Bachern kann ihr eines ausstellen.«

Paul schluckte.

«Unser. Dr. Bachern?«

«Ja, der. Wozu hätten wir ihn denn als Hausarzt?«

Pauls Erstaunen wuchs.

«Soll das heißen, daß der… unserer Karin… nein, das glaube ich nicht.«

«Warum nicht?«

Paul und Mimmi blickten einander eine Weile stumm an. Offenbar genügte das auch, in Paul eine neue Überzeugung ins Leben zu rufen.

«Seit wann?«fragte er.

«Schon seit Jahren.«

«Aber das hätte er uns doch sagen müssen?«

«Nein, das konnte er nicht.«

«Warum nicht?«

«Weil es ihm verboten war.«

«Von wem?«

«Von Karin.«

«Und woher weißt dann du Bescheid?«

Mimmi zeigte ein Lächeln, in dem Triumph lag, als sie erwiderte:»Von Karin. Sie selbst hat es mir schon vor etwa einem halben Jahr gesagt.«

Für Paul war das ein ziemlicher Hammer. Als Familienvorstand hätte er erwartet, daß ihm solche Geheimnisse nicht vorenthalten würden. Er begann zu schimpfen.

«Der einzige, der keine Ahnung hatte, war also ich. So ist's recht, den Alten immer schön an der Nase herumfuhren, sich über ihn hinter vorgehaltener Hand lustig machen, der Trottel verdient's ja nicht anders, Hauptsache, er zahlt, er schafft das Geld herbei, das gebraucht wird. Aber wartet nur, einmal wird mir das zu bunt, dann könnt ihr was erleben.«

Sein Ärger war echt, und in diesem Zustand empfahl es sich für Mimmi, ihn mit Vorsicht zu genießen.

«Aber Paul«, sagte sie deshalb beruhigend zu ihm,»so ist das doch nicht. In der Pille sehen die Frauen etwas Intimes, über das sie mit Männern nicht so gern sprechen, auch nicht — und schon gar nicht! — Töchter mit ihren Vätern. Da muß es sich schon eine Mutter hoch anrechnen, wenn sie ins Vertrauen gezogen wird. Und von mir wäre es wiederum ein Fehler gewesen, wenn ich nichts Eiligeres zu tun gehabt hätte, als dich einzuweihen. Das hätte mir Karin ganz sicher sehr verübelt, und ich weiß noch nicht einmal, wie sie reagieren würde, wenn sie jetzt, in diesem Moment, hören könnte, daß ich dir ihr Geheimnis preisgegeben habe.«

«Und wie lange steckt sie mit Dr. Bachern schon unter einer Dek-ke?«

«Paul, ich bitte dich, wie sprichst du denn! Wie lange steckt sie mit Dr. Bachern schon unter einer Decke? Das klingt ja geradezu nach Verbrechen.«

«Wie lange?«

«Seit Jahren.«

Das war wieder ein Hammer.

«Waaas? Seit.«

Das Wort erstarb Paul auf der Zunge. Ausdrücke sammelten sich in ihm an, ganz schlimme. Mimmi erkannte, daß sie rasch reagieren mußte.

«Was regst du dich auf?«sagte sie.»Das heißt doch nicht, daß sie die regelmäßig auch hätte nehmen müssen. Das war nicht der Fall.«

«Soso?«meinte er ironisch.

«Karin ist heute noch Jungfrau.«

Das konnte Paul nach dem, was er gehört hatte, nicht glauben. Drohend blickte er seine Frau an.

«Mimmi, ich warne dich, dieses Spiel mit mir noch länger fortzusetzen. Ihr habt mich lange genug als Trottel angesehen. Schluß jetzt damit!«

«Karin ist heute noch Jungfrau«, wiederholte Mimmi.

«Dann verstehe ich nicht. «Paul unterbrach sich selbst:»Ich versehe mich doch in der Sahara nicht mit Schlittschuhen. Oder in Grönland mit Badehosen?«

Mimmi mußte kurz lachen, dann erwiderte sie:»Du kennst deine Tochter nicht, Paul. Du hast überhaupt von den heutigen jungen Mädchen keine Ahnung. Die wollen sich… wie soll ich sagen?

… die wollen sich auf diesem Gebiet aufspielen. Wenn die glauben, es sei soweit, daß sie die Pille brauchen — und das glauben sie viel früher als zu unserer Zeit —, dann besorgen sie sie sich. Weil das ihr gutes Recht ist, sagen sie. Weil wir ohnehin viel zu rückständig sind, um das zu verstehen. Und dazu kommt auch noch, daß keines der Mädchen bei ihren Freundinnen in den Verdacht geraten will, selbst rückständig zu sein. Da muß nur eine mit der Pille anfangen, dann setzt sich das wie eine Kettenreaktion fort. In Karins Schulklasse war das so — «

«Schulklasse!«rief Paul explosiv dazwischen.

«— und schließlich und endlich darfst du auch Dr. Bachern nicht vergessen.«

«Warum darf ich den nicht vergessen? Weil der dran verdienen wollte?«

Mimmi machte eine wegwerfende Geste.

«Ach was! Karin selbst sagte mir, als ich mich genauso wunderte wie du dich, daß es ihr, nachdem sie sich bei Dr. Bachern das erstemal ein Rezept geholt hatte, doch nicht mehr möglich war, damit wieder aufzuhören.«

«Warum nicht?«

«Weil das ihr Ansehen bei ihm geschädigt hätte.«

Restlos entgeistert blickte Paul Fabrici seine Frau an, wobei er sagte:»Das mußt du mir schon näher erklären.«

«Dr. Bachern hätte doch dann gesehen, daß sie keine Pille mehr braucht.«

«Na klar! Und?«

Mimmi seufzte.

«Paul«, sagte sie,»sei um Himmels willen nicht so begriffsstutzig; das liegt doch auf der Hand.«

«Was liegt auf der Hand?«

«Welche Perspektive sich dadurch dem Dr. Bachern automatisch eröffnet hätte.«

Paul guckte noch immer dumm. Mimmi hatte recht, Paul Fabrici kannte sich zwar in Ein- und Verkaufspreisen aus, aber nicht in der Psyche moderner junger Mädchen.

Nach einem zweiten Seufzer erklärte Mimmi:»Karin konnte es auf keinen Fall darauf ankommen lassen, daß bei Dr. Bachern der Eindruck entstanden wäre, sie sei nach einem ersten Versuch bei keinem Mann mehr gefragt. Verstehst du das?«

Zwar fiel endlich der Groschen bei Paul, aber daß er das, was Mim-mi gesagt hatte, auch verstanden< hätte, konnte man nicht behaupten.

«Das darf doch nicht wahr sein«, stieß er hervor.

«Doch«, nickte Mimmi, ihn bei der Hand nehmend,»so ist das heute.«

«Wenn die früher jevöjelt han — «

«Paul!«

«Wenn die früher gevögelt haben«, besann er sich wenigstens aufs Hochdeutsche,»hatten sie vor nichts mehr Angst, als davor, daß das bekannt würde. Aber heute«- er holte Atem —»heute ist offensichtlich das Gegenteil der Fall.«

Mimmi hatte Pauls Hand wieder losgelassen, sie geradezu von sich gestoßen.

«Ich will solche Ausdrücke nicht mehr hören!«

«Ist doch wahr.«

«Sei wenigstens froh, daß bei Karin Theorie und Praxis so weit auseinanderklaffen. Das vergißt du wohl?«

«Was vergesse ich?«

«Daß sie nur den Anschein erweckt, als ob sie es ganz toll mit Männern treiben würde; das ist die Theorie. In Wahrheit ist sie noch Jungfrau; das ist die Praxis. Wäre es dir umgekehrt lieber?«

«Wer sagt dir denn das?«

«Was?«

«Daß sie noch Jungfrau ist.«

«Karin sagt mir das!«

Paul schnaubte verächtlich durch die Nase.

«Und du glaubst das?«»Ja.«

«Ich nicht!«

«Weil du keine Ahnung hast. Es gibt keinen Grund, warum mir Karin nicht die Wahrheit gesagt haben sollte.«

«Warum nicht?«

«Erstens tat sie es unaufgefordert. Und zweitens sieht sie in ihrer Jungfräulichkeit nichts Rühmliches, sondern eher — in ihrem Alter — einen Makel.«

«Sind denn die alle verrückt?!«schrie Paul Fabrici.

Mimmi raubte ihm die letzten Illusionen, indem sie erwiderte:»Wenn du's genau wissen willst — Karin freut sich auf den Tag, an dem sie mir mitteilen kann, daß es passiert ist.«

Paul blickte um sich wie ein Irrer.

«Und dazu fährt sie ans Meer«, ächzte er.»Allein! Ohne uns!«

Die Wogen glättend, sagte Mimmi:»Sie hat ja die Pille bei sich, Paul. Davon verspreche ich mir mehr, als ich es von unserer Aufsicht tun würde. Diese würde sich nämlich im entscheidenden Moment genauso wirkungslos erweisen wie jedesmal seit Adam und Eva.«

Mimmi Fabrici schien — jedenfalls auf dem zur Debatte stehenden Gebiet — eine große Realistin zu sein. Paul kam da nicht mit. Er blickte sie an, schüttelte den Kopf, schaute zur Tür, schüttelte noch einmal den Kopf und verkündete seine alte Parole:

«Ich jeh ins Jeschäft.«

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