Karin Fabrici lag in ihrem Bett und hatte die erste Prozedur ihres vierundzwanzigstündigen Filmstarlebens schon hinter sich. Nach dem Bad hatte sich eine Masseuse ihrer angenommen, von der sie unter Zuhilfenahme wohlriechender Öle richtig durchgewalkt worden war, und vor kurzem erst waren zwei eifrige junge Mädchen — eine Maniküre und eine Pediküre, angesetzt auf Karins Finger- und Zehennägel — aus dem Zimmer gegangen, um einer Diplomkosmetikerin das Feld freizugeben. Letztere hatte noch etwas auf sich warten lassen. Karin hatte die Gelegenheit dazu benutzt, ihren Morgenrock, unter dem sie nur Slip und BH trug, abzustreifen und für ein paar Minuten noch einmal ins Bett zu schlüpfen, um sich ein bißchen von ihrer durch die ungewohnte Massage hervorgerufenen Erschöpfung zu erholen. Rasch war sie eingeschlafen und hatte einen Traum. Der Traum knüpfte an tatsächlich Erlebtes am Abend zuvor an.
Karin stand auf ihrem Balkon im Mondschein und sah hinab auf das leuchtende Meer, auf das sich küssende Liebespaar in den Dünen, auf die Körbe und Burgen, Wimpel und die erloschenen Lampions. Soweit die Wirklichkeit, mit welcher Karins nunmehriger Traum übereinstimmte. Dann aber trennte sich letzterer von der Realität und versetzte die schlafende Karin in eine Wunschwelt.
Ein leichter Geruch nach einer Zigarette wehte um die Ecke der Trennwand des Balkonabschnitts Karins. Und bevor Karin noch wußte, ob sie wieder ins Zimmer zurückgehen oder weiter den Abend in seiner Stille genießen sollte, sagte eine ach so bekannte Stimme hinter der Trennwand: >Die Welt ist herrlich.<
>Ja<, antwortete Karin mit verstellter Stimme, um nicht erkannt zu werden. In Gedanken setzte sie hinzu: Ja, das ist sie, Walter. >Sie kann aber auch sehr grausam sein<, fuhr er fort.
>Ja.<
>Der Mond ist schön.<
>Wunderbar.<
>Aber nur von ferne.<
>Man muß sich ihm nicht nähern.<
>Seine Ähnlichkeit mit mancher Frau ist groß.<
>Das verstehe ich nicht<, erwiderte Karin.
Dann will ich es Ihnen erklären. Gewisse Frauen sind schön, aber kalt — wie der Mond; kalt, wenn man ihnen näherkommt.< >Sprechen Sie aus Erfahrung?<
>Ja.<
Er sagte dies sehr traurig. Die träumende Karin hatte sich das so gewünscht; ihr Wunsch war also in Erfüllung gegangen.
>Sie scheinen darunter zu leiden<, fuhr sie fort. Nach wie vor verstellte sie dabei ihre Stimme.
Er seufzte schwer. Das sagte mehr als Worte.
>Weiß denn die Dame das?< fragte Karin.
>Nein.<
>Warum nicht?<
>Weil ich es ihr nicht verraten habe.<
>Dann müssen Sie das tun. Daraus gewänne die Dame nämlich die entscheidende Einsicht.<
>Welche entscheidende Einsicht?<
>Daß Sie sie lieben.<
Er antwortete nicht. Karin erschrak.
>Oder lieben Sie sie nicht?< fragte sie bang.
>Doch.<
Karin lachte glücklich und unvorsichtig.
>Sie kommen mir bekannt vor<, sagte er prompt. >Wer sind Sie?< Karin schlüpfte in ihre Rolle zurück, sie erwiderte mit fremder Stimme: >Sie irren sich, wir haben uns noch nie gesehen.<
>Ich weiß nicht, ich…<
>Sie können sicher sein, wir sind uns noch nie begegnet<, untermauerte Karin ihre Lüge, die auch ihr Gewissen im Traum nicht im geringsten belastete.
>Und wenn ich Ihnen vorschlage, das zu ändern?< fragte er.
>Was zu ändern?< erwiderte sie.
>Daß wir uns noch nie begegnet sind.<
>Sie bitten mich um ein Rendezvous?<
>Ja.<
>Wann?<
>Möglichst bald.<
>Sie haben's eilig.<
>Ja, ich spüre etwas zwischen uns…<
Karin lachte tonlos in sich hinein; das war ungefährlich.
>Und was sollte Ihre Freundin dazu sagen?<
>Welche Freundin?<
>Die Dame, die Sie lieben. Oder weilt die gar nicht hier auf Nik-keroog?<
>Doch.<
>Na also. Sie würde uns sehen. Die Insel ist klein. Was würde sie sagen?<
>Nichts.<
>Nichts?<
>Es wäre ihr egal. Ich bin ihr gleichgültige >Sind Sie dessen sicher?<
>Absolut. Die haßt mich sogar.<
>Haßt Sie?<
>Ich hatte mit ihr, seit wir uns kannten, eigentlich nur Streit. Ich bin ein Riesenidiot, wissen Sie.< >Nein, das sind Sie nicht. Ich glaube das nicht.<
>Doch, doch.<
>Nein.<
Wenn ich Ihnen erzählen würde, wie ich mich aufgeführt habe.< >Wie denn?<
Wie ein Tyrann, ein Despot, ein Pascha, der ein Verfügungsrecht über sie hat. Das hat sie sich natürlich nicht gefallen lassen.<
>Was tat sie denn daraufhin?<
>Sie setzte ihren Kopf durch.<
>Vielleicht war das falsch von ihr. Vielleicht wären doch Sie im Recht gewesen.<
>Ich?<
>Ja.<
>Nein, auf keinen Fall. Das Ganze quält mich seitdem; und ich weiß genau, daß ich derjenige war, der sich selbst disqualifiziert hat.< >Sie sind ja voller Reue, wenn ich Sie richtig verstehe.<
>Ja, bin ich.<
>Haben Sie noch nicht daran gedacht, der Dame das zu sagen?< >Ich möchte nicht nachträglich noch geohrfeigt werden.<
>Ach was.<
Doch, doch, die ist kein sanftes Lämmchen, eher schon eine fauchende Katze.<
Nein.< Karin mußte auf ihre Stimme achten. Dann haben Sie einen ganz falschen Eindruck von ihr gehabt.<
>Woher wollen Sie das wissen?<
Weil ich.< Sie unterbrach sich. Weil ich auch eine Frau bin, auf deren Urteil hier deshalb mehr Verlaß ist als auf das Ihre.<
Um ein Haar wäre ihr etwas viel Verräterisches herausgerutscht. >Von Ihnen kann man offenbar lernen<, sagte er.
>Dann befolgen Sie meinen Rat und reinigen Sie die Atmosphäre zwischen Ihnen und der Dame.<
>Mal sehen<, seufzte er. >Um ein Haar wäre ich ja nach unserem Streit schon abgereist.< >Nur das nicht!< stieß Karin erschrocken hervor. >Sie würden ihr damit sicher sehr weh tun.<
>Meinen Sie?<
>Ganz bestimmt.<
Und was ist mit dem Rendezvous von uns beiden? Ich würde Sie trotzdem gern kennenlernen. Ich spüre, daß das von Gewinn wäre. Vielleicht würde das meine Probleme mit der anderen Dame lösen.< >Durch Vergessen?<
>Ja.<
Karin kicherte.
>Das glaube ich nicht.<
>Wir könnten es ja darauf ankommen lassen.<
>Wissen Sie, was Sie von mir erwarten?<
>Was?<
>Daß ich einer anderen ins Gehege komme. Ich mache das nicht gerne.<
>Es wäre sehr gut möglich, daß die Betreffende gar nichts dagegen hätte.<
Karins Kichern verstärkte sich.
>Das könnte zutreffen, ja.<
>Nicht wahr? Je länger ich mit Ihnen sprech — <
Soweit die Schilderung des jäh abreißenden Traumes von Karin, der aus einem langen Dialog allein bestand. Sein abruptes Ende fand der Traum dadurch, daß die Diplomkosmetikerin ins Zimmer trat und Karin wach wurde. Die Kosmetikerin hatte, nachdem die Maniküre und die Pediküre abgetreten waren, nur ein paar Minuten auf sich warten lassen, eine Tatsache, die angesichts des umfangreichen Traumes Karins kaum glaubhaft erscheinen mag. Die Skepsis löst sich aber in Luft auf, wenn man weiß, in welch unwahrscheinlich kurzer Zeit die umfangreichsten Träume ablaufen können.
Karin gähnte, lächelte vor sich hin und mußte von der Kosmetikerin dazu ermuntert werden, das Bett, in dem sie so Schönes geträumt hatte, zu verlassen.
Die Kosmetikerin war schon dabei, in einem Tiegel aus verschiedenen Flacons und Töpfen einen Brei zusammenzurühren, aus dem schließlich Karin eine Gesichtsmaske gemacht werden sollte. Die Kosmetikerin war stolz auf ihr >Diplom< und glaubte, diesem Titel einiges schuldig zu sein. Sie war sehr darauf bedacht, die Zusammensetzung ihrer speziellen Gesichtsmaske als ihr absolutes Geheimnis zu bewahren.
Wimpernzupfer, Augenbrauenstifte und Augenbrauenbürstchen, Lidschatten und eine Hormonsalbe gegen Krähenfüße lagen auf einem weißen Frottiertuch, während dreierlei Lippenstifte — rose für den Morgen, karmin für den Tag und cyclam für den Abend — eine schmale Elfenbeinschale füllten und zusammen mit verschiedenen Pudersorten und der teuersten Make-up Creme ein Stilleben bildeten.
Vorhanden war auch schon ein künstliches Haarteil mit genau der gleichen Haarfarbe Karins, das dazu dienen sollte, ihre Lockenpracht beim Ball am Abend noch reicher zu gestalten.
Ein Kampf entbrannte, als die Kosmetikerin ans Werk gehen wollte und ihr von Karin entschiedener Widerstand entgegengesetzt wurde.
«Wir beginnen mit der Gesichtsmaske, Fräulein Fabrici.«
«Mit was?«
«Mit der Gesichtsmaske.«
«Für wen?«
Die Kosmetikerin blickte ein bißchen befremdet.
«Für Sie natürlich, Fräulein Fabrici.«
«Wer hatte denn diese Schnapsidee?«
Dieser Ausdruck gefiel der Kosmetikerin gar nicht. Sie empfand ihn schmerzlich. Indigniert sagte sie:»Die Maske gehört zu meinem Gesamtauftrag.«
«Soso. Schade, daß meine Mutter nicht da ist. Die würde sich über die Maske freuen.«
Die Kosmetikerin seufzte.
«Das alte Lied«, sagte sie.»Die Jugend glaubt, darüber erhaben zu sein. Aber täuschen Sie sich nicht, Fräulein Fabrici, es gibt auch das, was ich in unserer Branche die unsichtbaren Versäumnisse< getauft habe. Verstehen Sie, was ich meine?«
«Ja«, nickte Karin.»Trotzdem möchte ich auf die Maske verzichten.«
Die Kosmetikerin zuckte die Achseln, zum Zeichen ihrer Einsicht, daß weitere Bemühungen zwecklos seien. Nach einer gewissen Pause, in der Karin zur Vernunft kommen sollte, fragte die Schönheitskünstlerin:»Und worauf wollen Sie nicht verzichten, Fräulein Fa-brici?«
Karin überlegte kurz, dann deutete sie auf das weiße Frottierhandtuch mit den Augenbrauenutensilien und Lidschatten.
Die Kosmetikerin atmete erleichtert auf. Sie hatte schon befürchtet, überhaupt nicht gebraucht zu werden.
Ein feenhaftes, tief ausgeschnittenes Abendkleid aus golddurch-wirktem Taft — eine Schöpfung aus dem Pariser Haus Sandrou — und ein mehrere tausend Mark kostendes Weißfuchscape lagen über den Stuhllehnen, dazu hauchdünne Nylonstrümpfe mit Diamentsplit-ternähten. Unter einem Stuhl stand ein Paar Schuhe mit echtem Blattgold.
Unten im Panzerschrank der Kurdirektion lagen für Karin ein Diadem und ein Diamantkollier bereit. Ein großer weißer Mercedes mit livriertem Chauffeur wartete vor dem Hoteleingang auf sie.
Die Kosmetikerin verdiente größeres Vertrauen, als in den ersten Minuten zu vermuten gewesen war. Karin merkte rasch, daß sie sich in geschickte Hände gegeben hatte. Wichtig war ihr, daß in jeder Hinsicht dezent an ihr gearbeitet wurde, zurückhaltend. Hätte die Kosmetikerin sich daran nicht gehalten, wäre ihr Karin sofort sozusagen in den Arm gefallen. Es bot sich jedoch kein Anlaß dazu. Und dennoch wollte Karin zum Schluß, als die Kosmetikerin erklärte, alles getan zu haben und fertig zu sein, mit dem, was ihr, Karin, aus dem Spiegel entgegenblickte, nicht zufrieden sein. Da stimmte etwas nicht. Aber was? Entweder fehlte irgend etwas — oder es war irgend etwas zuviel. Wohl letzteres.
Das bin ich nicht, dachte Karin, ihr Spiegelbild in Augenschein nehmend. Mitten in diese Musterung hinein klopfte es. Fragend schaute die Kosmetikerin Karin an, und diese nickte zustimmend. Durch die von der Kosmetikerin geöffnete Tür stürmten zwei aufgeregte junge Männer — ein Reporterteam. Der eine von ihnen ließ sich gleich an der Schwelle auf ein Knie nieder und machte mit Blitzlicht und riesenhafter Kamera zwei, drei Aufnahmen von der neuen >Miß Nickeroog<, deren Filmstartag begonnen hatte. Der andere des Zweigespanns war der Texter. Beide kamen von der Redaktion der kleinen, sich aber sehr wichtig nehmenden Insel-Zeitung. Der Texter fragte nicht lange, trat näher, zog einen Stuhl heran und setzte sich ohne Aufforderung Karin gegenüber.
«Sie lassen uns auch leben, das ist nett von Ihnen«, sagte er und zog einen Notizblock nebst Kugelschreiber aus seiner Tasche.»Ich danke Ihnen, Sie werfen uns nicht hinaus, vielen Dank.«
So wird man von der Presse überfahren.
«Wer sind Sie denn?«fragte Karin.
Der Reporter sagte es ihr. Erbitterten Tones fügte er hinzu:»Die Großen in Hamburg haben uns ja schon wieder die Butter vom Brot gestohlen. Weiß der Teufel, wie die das in dieser Geschwindigkeit immer machen. Große Hexerei, muß ich schon sagen. Deshalb wären wir Ihnen dankbar, wenn wir von Ihnen ein bißchen was kriegen würden, was die noch nicht haben.«
«Ich verstehe Sie nicht«, sagte Karin, und es dauerte eine Weile, bis ihr der Reporter beigebracht hatte, daß ihre Fotos bereits eine Seite der größten deutschen Illustrierten füllten.
Ein leichter Schauer lief Karin über den Rücken.
«Gibt's die auch schon in Düsseldorf zu kaufen?«wollte sie wissen.
«Was? Die Illustrierte? Selbstverständlich. In ganz Deutschland. Warum fragen Sie?«
«Nur so.«
«Sind Sie Düsseldorferin?«
«Ja.«
«Aha.«
Das eigentliche Interview hatte begonnen. Die Kosmetikerin sah, daß sie überflüssig geworden war, und packte ihren Kram zusammen.
Karin hatte es sich als Backfisch schon ganz toll vorgestellt, einmal selbst interviewt zu werden, und sie fand vorerst die ganze Art der Befragung höchst lustig und unterhaltsam.
«Hat Ihre Heimatstadt mit Ihrem Aussehen etwas zu tun, Fräulein Fabrici?«
«Wie bitte?«
«Sind Düsseldorferinnen von Haus aus hübscher als meinetwegen Kölnerinnen?«
Karin hob abwehrend beide Hände.
«Ich werde mich hüten, diese Frage zu beantworten.«
«Warum?«
«Um nicht ganz Köln gegen mich aufzubringen. Die Konkurrenz zwischen den beiden Städten ist schon erbittert genug.«
«Erbittert?«
«Ja.«
«Wenn Sie das sagen, wollen Sie dabei unsere Leser etwa an die alljährlichen Karnevalsumzüge erinnern?«
«Nicht nur daran.«
Karin lachte, zusammen mit dem Reporter, der sich eine Notiz machte und dann fortfuhr:»Bleiben wir ein bißchen bei dieser Konkurrenz: Wer hat da die Nase vorn — Düsseldorf oder Köln?«
Die helle Karin mußte nicht im geringsten überlegen, um zu antworten:»Weder Düsseldorf noch Köln. Das ist ein ständiges Brust-an-Brust-Rennen.«
«Bravo!«rief der Reporter, hätte jedoch trotzdem Karin noch gerne aufs Eis gelockt, weshalb er weitermachte:»Es wird aber doch wohl irgendein Gebiet geben, auf dem Köln von Ihrer Heimatstadt distanziert wird?«
«Sicher.«
«So?«freute sich der Zeitungsmensch.»Auf welchem denn?«
«Auf dem der Radschläger.«»Richtig«, stimmte der Reporter amüsiert zu.»Das wird auch der letzte Kölner neidlos anerkennen.«
Karin war noch nicht fertig.
«Umgekehrt«, sagte sie,»haben die Düsseldorfer gegen eine Spezialität der Kölner nichts zu bieten.«
«Und die wäre?«
«Tünnes und Schäl.«
«Sie sind eine Expertin darin«, erklärte der Reporter beeindruckt,»kein böses Blut — nicht das kleinste Tröpfchen — zu erregen.«
Er gab es auf, Fangstricke auszulegen, und begnügte sich damit, die üblichen Fragen zu stellen, die nicht den Anschein erweckten, besonders intelligent, interessant oder taktvoll zu sein.
«Haben Sie Geschwister?«
«Nein.«
«Leben Ihre Eltern noch?«
«Ja, Gott sei Dank.«
«Was macht Ihr Vater?«
«Er ist Geschäftsmann.«
«Erfolgreicher?«
Das war eine jener besonders taktvollen Fragen, die in solchen Interviews gestellt werden.
«Erfolgreicher«, antwortete Karin wahrheitsgemäß. Was aber hätte sie gesagt, wenn sie sich dem Zwang gegenüber gesehen hätte, entweder ihren Vater zu blamieren oder zu lügen?
«Nähen Sie Ihre Kleider selbst?«
«Nein.«
«Das heißt also, daß Ihr Vater Sie finanziell entsprechend ausstattet?«
«Er — und meine Mutter.«
«Verfügt sie über ein eigenes Budget?«
«Ja.«
«Sind Sie verlobt?«
«Nein.«
«Aber Sie waren sicher schon verliebt?«
Karin lachte.
«Ja.«
«Mehrmals?«
«Ja.«
«In wen am heftigsten?«
«In unseren Geographielehrer in der Sexta.«
Nun grinste der Reporter.
«Sah er gut aus?«
«Phantastisch! Sehr melancholisch, wissen Sie.«»Melancholisch?«
«Er hatte viel Ärger.«
«Mit Ihnen?«
«Nein.«
«Mit wem dann?«
«Mit seinen drei Söhnen. Keine guten Schüler, wissen Sie.«»Ach, er war verheiratet?«
«Schon etliche Jahre und ganz, ganz fest.«
Den größten Teil all dieser Fragen und Antworten schien der junge Zeitungsmensch im Kopf zu behalten, denn er benützte seinen Kugelschreiber nur selten. Stach allerdings eine Antwort Karins hervor, schrieb er eifrig.
«Wie oft im Jahr fahren Sie in Urlaub?«
«Einmal.«
«Wo hat's Ihnen bisher am besten gefallen?«
Die Antwort, die der Reporter darauf erwartete, war sonnenklar. Karin versagte sie ihm nicht.
«Auf Nickeroog.«
«Was halten Sie von den Männern hier?«
«Sie sind alle reizend.«
«Ist einer unter ihnen, dem es schon gelang, besonders reizend zu sein?«
Einen ganz kleinen Augenblick zögerte Karin, dann erwiderte sie:»Nein.«
Und das ist die reine Wahrheit, dachte sie trotzig. Besonders reizend war der nicht, nicht einmal normal reizend. Reizend nenne ich etwas anderes, aber.
Karin konnte diesen Gedankengang nicht vollenden, da der Zeitungsmensch sie mit seinen Fragen schon wieder unter Beschuß nahm.
«Haben Sie ein besonderes Hobby?«
«Ja.«
«Welches?«
«Wenn ich Ihnen das sage, lachen Sie.«
«Ich lache gerne.«
«Ich sammle Briefmarken.«
Der Reporter verzog keine Miene.
«Und wieso soll ich darüber lachen?«
«Weil nur Männer Briefmarken sammeln. Mädchen nicht. Oder haben Sie schon jemals etwas anderes gelesen?«
Der Reporter schaute verdutzt, grinste dann, schrieb ein paar Worte in sein Notizbuch.
«Stimmt«, sagte er dabei.»Ich könnte mir vorstellen, daß das für unsere Leser ein eigenes Thema wäre. Vielleicht äußern sich ein paar dazu.«
«Ich spiele aber auch gern Tennis und reite«, gab sich Karin den normalen Anstrich eines jungen Mädchens, das heutzutage interviewt wird.
«Sind Sie schon gestürzt?«
«Vom Pferd?«
«Ja.«
«Zweimal, aber glimpflich.«
«Reiten Sie auf einem eigenen Pferd?«
«Nein.«
«Warum nicht? Wenn Ihr Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann ist, hätte er Ihnen das doch schon ermöglichen können?«
«Sicher, aber so dumm ist er nicht.«
«Dumm?«»Er ist dafür, sagt er, daß seine Tochter auf dem Teppich bleibt.«
Für diese und die nächste Antwort erntete Karin, als das Interview veröffentlicht wurde, die meisten Sympathien bei den Lesern.
«Und was halten davon Sie, die Tochter?«
«Daß er hundertprozentig recht hat.«
Das war natürlich einen neuen Eintrag ins Notizbuch wert. Die ganze Ernte des Journalisten, die er sich nun schon gesichert hatte, ging bereits weit über jeden Bedarf hinaus, und er hätte längst Schluß machen können, aber gerade jungen Reportern wird in der Redaktion, ehe sie hinausgeschickt werden, eingehämmert, daß das Material, mit dem sie zurückzukommen haben, eigentlich nie umfangreich genug sein kann. Gesiebt, ausgesondert wird dann von den vorgesetzten Redakteuren, den alten Füchsen, deren Aufgabe um so leichter ist, je reicher ihnen Material zur Selektion zur Verfügung gestellt wird. Sehr oft bleibt davon am Ende ohnehin wenig genug übrig.
Langsam hatte aber Karin nun doch genug. Ihre Antworten verloren an Liebenswürdigkeit.
«Waren Sie, als Tennisspielerin, schon einmal in Wimbledon?«
«Nein.«
«Würden Sie gerne hinfahren?«
«Nein.«
«Nein?«Der Reporter schüttelte ungläubig den Kopf.»Warum nicht?«
«Was sollte ich dort? Ich würde schon im ersten Spiel ausscheiden.«
Der Reporter wußte nicht, ob er lachen sollte; er entschied sich für ein flüchtiges Lächeln.
«Ich dachte als Zuschauerin«, sagte er überflüssigerweise.
«Zuschauen kann ich auch in Düsseldorf. Am Fernseher.«
«Hm.«
Die Luft war raus, das spürte nun auch der dickfellige Zeitungsmensch und kam zum Schluß.
«Eine letzte Frage, die wir auch Ihren Vorgängerinnen der letzten drei Jahre gestellt haben: Welches ist Ihr Lieblingsgericht?«
«Gar keines.«
«Aber ich bitte Sie, es gibt für jeden ein Lieblingsgericht, also wird es auch für Sie eines geben.«
«Nein.«
«Und warum nicht?«
«Well ich nicht gern mit der Justiz zu tun habe.«
Der Reporter sagte gar nichts mehr, sondern stand auf und sah sich nach seinem Kollegen, dem Fotografen, um, ohne ihn zu entdecken. Dieser hatte nämlich das Zimmer längst unbemerkt verlassen, um sich unten in der Hotelbar zu stärken. Dort suchte und fand ihn der Texter, der die Gewohnheiten seines Kollegen kannte, für die der Mann eigentlich — oder ganz sicher — noch viel zu jung war.
Ein Blick in die Augen des Fotografen genügte dem Texter, um hervorzustoßen:»Komm, du Trunkenbold, pack deine Sachen zusammen.«
Der Bildreporter hätte sich noch gerne ein bißchen mehr Zeit gelassen und schlug deshalb dem Texter vor, auch ein Glas zu trinken; doch er drang damit nicht durch. Im Auto fragte er:»Was war denn noch bei der?«
«Zuletzt wurde sie schwierig.«
«Inwiefern?«
«Anscheinend hatte sie die Nase voll.«
«Wirst wohl in ihre Intimsphäre eingedrungen sein.«
«Diesbezüglich haben wir uns ja immer sozusagen auf die Theorie zu beschränken. Die Praxis bleibt uns verschlossen.«
Der Fotoreporter schnalzte mit der Zunge und sagte:»Für die Praxis mit der würde ich allerdings meinen guten Ruf hingeben.«
«Junge«, seufzte daraufhin der Texter,»an so eine kommt unsereiner nicht ran; kein Arbeitnehmer, meine ich. Solche Weiber ziehen sich andere Kontoinhaber an Land.«
Karin Fabrici, von der in dieser Weise gesprochen wurde, hatte sich inzwischen auf ihrem Zimmer noch einmal vor den Spiegel gestellt und kaum mehr ihren Augen getraut. Ihr Eindruck war noch enttäuschender als in der Minute, in der die Diplomkosmetikerin von ihr abgelassen hatte. Ein völlig fremder Mensch schaute ihr entgegen, ein Puppengesicht, wie man es so oft in Zeitschriften und Filmprospekten sieht, ein Lärvchen, aufgemacht, seelenlos, mit Löckchen und Kußmündchen, verführerischem Augenaufschlag und erstarrtem Lächeln.
Die ersten Stunden ihres Filmdaseins waren vorbei. Der Uhrzeiger rückte auf halb elf zu. Unten vor dem Portal wartete der schwere Mercedes auf sie.
Sie warf einen Blick in das Programm, das man ihr zu Verfügung gestellt hatte. 10.45 Uhr: Abfahrt zu Probeaufnahmen in einem provisorischen Filmstudio. 12 Uhr: Empfang durch den Produktionsleiter. 13 Uhr: Mittagessen im Kasino. 14.30 Uhr: Siesta. 16.00 Uhr: Tanzteebeginn mit Modenschau des Pariser Salons Sandrou im Kurhaus.
Karin warf das Programm auf den Tisch und wischte sich über die Stirn. Ihr wurde fast schwindlig vor all diesen Verpflichtungen und Ehrungen, und sie wünschte sich spontan weit weg, wollte allein am Strand in ihrem Korb Nr. 45 bei der kleinen, halb verfallenen Sandburg liegen, um zu träumen. Zu träumen von.
Wieder klopfte es an die Tür.
Das wird der Chauffeur sein, dachte Karin und nahm den Seidenmantel vom Haken. Ich versäume mich hier.
«Ja?«rief sie.»Kommen Sie nur herein!«
Sie schlüpfte in ihren Mantel, fand das Ärmelloch nicht und ward so davon abgehalten, zur Tür zu blicken. Jemand betrat den Raum.
«Guten Morgen, gnädiges Fräulein«, sagte eine Stimme, und ein freudiger Schreck durchzuckte Karin Fabrici.
Er!
Er stand in ihrem Zimmer. Er war gekommen, um mit ihr zu sprechen. Ihr Traum bewahrheitete sich.
Vergib dir aber jetzt nichts mehr, ermahnte sie sich selbst. Wirf dich ihm nicht an den Hals. Er soll schon merken, zu Beginn wenigstens, daß hier er derjenige ist, der Buße zu tun hat, und nicht ich.
«Guten Morgen«, sagte sie nicht zu warm und nicht zu kalt; so in der Mitte.
Das Ärmelloch verweigerte sich ihr immer noch. Die Verrenkungen, zu denen sie sich dadurch gezwungen sah, um es zu finden, wirkten komisch. Rasch trat er hinzu und leistete ihr den benötigten Kavaliersdienst. Sie bedankte sich, als sie den Mantel endlich anhatte.
Die Blicke, mit denen er sie musterte, gefielen ihr nicht ganz. Sie hatten einen zweifelnden Charakter.
«Wollen Sie sich nicht setzen?«fragte sie ihn.
«O nein«, erwiderte er.»Ich sehe doch, Sie sind auf dem Sprung. Ich will Sie nicht aufhalten.«
«Aber Ihr Besuch hat doch irgendeinen Zweck?«
Das klang nicht besonders gut. Karin wußte dies auch im selben Augenblick, in dem sie es gesagt hatte, und sie hätte es deshalb gerne gelöscht, wie auf einem Tonband. Leider ging das nicht.
«Ich wollte Sie beglückwünschen«, erwiderte er, doch sein Gesicht strafte ihn dabei Lügen.
«Zu was?«
«Zu Ihrer gestrigen Wahl.«
«Danke.«
Eine Pause trat ein, in der jeder spürte, daß dieses Gespräch nicht gut lief, und das machte Karin nervös.
«Was sehen Sie mich so an?«fragte sie.
«Verzeihen Sie. Sind Ihnen meine Blicke unangenehm?«
«Nein, das nicht, aber.«
«Ich versuche Sie so anzusehen wie immer.«
«Sie versuchen es?«
«Ja.«
«Aber es gelingt Ihnen nicht?«
Er zögerte, erwiderte jedoch dann:»Offengestanden nein.«
«Warum nicht?«
«Weil Sie sich ziemlich verändert haben. Damit muß ich erst fertig werden.«
«Fertig werden? Das klingt nicht gerade danach, daß Sie begeistert wären?«
Er schwieg.
«Keine Antwort ist auch eine Antwort«, sagte sie daraufhin und setzte hinzu:»Meine >Veränderung<, wie Sie es nennen, gefällt Ihnen also nicht?«
«Ganz und gar nicht«, zögerte er nun nicht mehr zu antworten.
«Aber mir«, behauptete Karin, in der sich der alte Widerspruchsgeist regte.
«So?«Er zog die Mundwinkel nach unten.»Und ich hoffte, Sie seien für diese Kleckserei nicht verantwortlich.«
«Kleckserei?«
«Man habe Sie dazu vergewaltigt, dachte ich.«
«Kleckserei?«wiederholte sie.
«Sehen Sie sich doch an im Spiegel.«
«Das habe ich schon getan.«
«Und? Hatten Sie nicht den Eindruck, daß Sie mit dem Gesicht in einen Farbenkübel gefallen sind?«
Die Funken sprühten wieder zwischen den beiden. So etwas wollte sich Karin nicht sagen lassen, jedenfalls nicht von einem Menschen, der, wie sie dachte, allen Grund hatte, ihr gegenüber bescheidener aufzutreten.
«Sie haben ja keine Ahnung von solchen Dingen«, giftete sie ihn an.»Was verstehen Sie von Kosmetik? Ich nehme an, daß sich dort, wo Sie herkommen, die Mädchen einmal am Tag das Gesicht mit kaltem Brunnenwasser waschen, und damit hat sich's. Erzählen Sie mir deshalb lieber etwas vom Landleben, wenn Sie mit mir sprechen; davon mögen Sie etwas verstehen.«
«Es würde Ihnen nicht schaden, den Kopf in sauberes, kaltes Brunnenwasser zu stecken. Erstens bekämen Sie davon ein reines Gesicht, und zweitens verschwänden die Flausen, die man Ihnen in den Kopf gesetzt hat.«
Karin verlor die Beherrschung.
«Hinaus!«rief sie, zur Tür zeigend.»Verlassen Sie mein Zimmer, ich will Sie nicht mehr sehen!«
Wortlos ging er. Die Tür klappte zu, und Karin Fabrici stand zitternd vor Erregung und allein in ihrem Zimmer, so wie sie es verlangt hatte.
Auf der kleinen Kommode schlug diskret eine Tischuhr.
11.30 Uhr. Unten vor dem Eingang des Hotels stand der weiße Mercedes. Miss Nickeroog< war überfällig, sie wurde längst erwartet, aber oben saß eine arme, unglückliche Karin Fabrici im Sessel und weinte in ihr Taschentuch hinein.
Johannes M. Markwart, der Kurdirektor und Baron v. Senkrecht, die alle drei kurz darauf ins Zimmer traten, um Karin aufzustöbern, standen ratlos vor ihr und wußten nicht, was sie sagen und machen sollten. Aber fest stand, daß kein längerer Aufschub mehr möglich war.
«Gnädiges Fräulein«, ergriff der Kurdirektor die Initiative,»wir haben keine Zeit mehr; aus dem Studio wurde schon zweimal angerufen, wo Sie bleiben. Tut mir leid, daß Sie — «
«Weinen können Sie später«, fiel Markwart ein.
«Nehmen Sie sich bitte zusammen, gnädiges Fräulein«, sagte der Baron.»Die Zeit drängt wirklich.«
«Was ist hier geschehen?«fragte der Kurdirektor.»Haben Sie über den Service zu klagen? Ist Ihnen jemand zu nahe getreten, ein Kerl vom Personal etwa?«
Karin schüttelte den Kopf, wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen.
«Das kann alles noch geklärt werden — morgen oder übermorgen«, ließ sich Markwart vernehmen.»Höchstwahrscheinlich besteht aber dann gar kein Anlaß mehr dazu, ich kenne das.«
«Die sind doch alle hysterisch«, flüsterte er dem Kurdirektor zu.
«Sie müssen sich jetzt am Riemen reißen, gnädiges Fräulein, gestatten Sie mir dieses soldatische Wort«, sagte der Baron.»Ein deutsches Mädchen darf sich nicht einfach so gehen lassen, wenn es die Pflicht hat.«
Er wußte anscheinend nicht mehr weiter, räusperte sich.
«Sie wissen schon, was ich meine«, schloß er.
«Also los!«befahl Johannes M. Markwart, der Hauptverantwortliche für die ganze Veranstaltung, die nicht mitten im Ablauf steckenbleiben durfte, und griff nach Karins Oberarm, um sie zur Tür zu führen.
Erst mußte sich Karin jedoch noch einmal vor den Spiegel stellen, da die Tränen in ihrem Gesicht Zerstörungen hervorgerufen hatten, mit denen sie sich nicht der Öffentlichkeit präsentieren konnte. Dann wurde sie von den drei Herren hinunter zu dem weißen Mercedes geleitet. Der livrierte Chauffeur riß bei ihrem Erscheinen den Wagenschlag auf und salutierte militärisch. Im Nu sammelte sich eine kleine Menschenmenge an, die der Abfahrt rufend und winkend beiwohnte.
Karin blickte, als sich der Wagen in Bewegung setzte, in den Rückspiegel und sah in der Menge den Mann, der ihren Tränensturz ausgelöst hatte, stehen, still, braungebrannt, beobachtend. Sie sah auch noch, wie er sich abwandte und die Richtung zum Strand einschlug, als wolle er noch einmal den Korb und die kleine Sandburg an der niedrigen Düne aufsuchen, ehe er vielleicht Nickeroog zu verlassen gedachte.
Da lehnte sich Karin Fabrici weit in ihren Sitz zurück und schloß die Augen.
Nicht denken, sagte sie sich immer wieder vor, nicht denken. Morgen ist alles vorbei, der ganze Rummel, und du wirst ihn vergessen.
Wen >ihn
Den Rummel?
Oder ihn?
Werde ich den Rummel vergessen können? Ja, den ohne weiteres.
Werde ich aber auch ihn vergessen können.?