NEUNZEHN

Die Aktennotiz kam per Fax vom Regionalabteilungsleiter der Strafvollzugsbehörde in Washington. Empfänger war der Gefängnisdirektor von Trumble, M. Emmitt Broon. In knappen, formelhaften Worten teilte der Abteilungsleiter dem Direktor mit, er habe bei der Durchsicht der Besucherliste von Trumble festgestellt, dass die Häufigkeit der Besuche eines gewissen Trevor Carson, der als Anwalt für drei der Insassen fungiere, Anlass zur Besorgnis gebe. Mr. Carson besuche seine Mandanten inzwischen fast täglich.

Zwar habe jeder Gefangene ein von der Verfassung garantiertes Recht auf Besuche seines Anwalts, doch stehe es andererseits im Ermessen der Gefängnisleitung, einer allzu exzessiven Inanspruchnahme dieses Rechts entgegenzuwirken. Mit sofortiger Wirkung seien Anwaltsbesuche daher nur noch dienstags, donnerstags und samstags zwischen 15 und 18 Uhr gestattet. Falls gute Gründe geltend gemacht würden, werde man selbstverständlich Ausnahmen gewähren.

Die neue Regelung werde zunächst für neunzig Tage gelten. Nach Ablauf dieser Zeit werde man eine Neueinschätzung der Situation vornehmen.

Dem Gefängnisdirektor war das sehr recht. Auch ihn hatten Trevors beinahe tägliche Besuche misstrauisch gemacht. Er hatte bereits die Wärter und die Beamten am Empfang befragt, in dem vergeblichen Versuch herauszufinden, wozu diese Besuche eigentlich dienen sollten. Link, der Wärter, der Trevor gewöhnlich zum Anwaltszimmer begleitete und bei jedem Besuch zwei Zwanziger kassierte, sagte dem Direktor, der Anwalt und Mr. Spicer sprächen über Fälle und Berufungen und so weiter.»Juristisches Zeug eben«, sagte Link.

«Und Sie durchsuchen jedes Mal seinen Aktenkoffer?«fragte der Direktor.

«Jedes Mal«, sagte Link.

Höflichkeitshalber wählte der Direktor die Nummer des Anwalts in Neptune Beach. Es meldete sich eine Frau, die recht barsch sagte:»Anwaltskanzlei.«

«Ich möchte bitte Mr. Trevor Carson sprechen.«

«Und wer sind Sie?«

«Emmitt Broon.«

«Tja, Mr. Broon, Mr. Carson macht gerade ein Nickerchen.«

«Ich verstehe. Könnten Sie ihn vielleicht wecken? Ich bin der Direktor des Bundesgefängnisses in Trumble und muss ihn sprechen.«

«Einen Augenblick.«

Er musste lange warten, und als sie wieder an den Apparat kam, sagte sie:»Es tut mir leid — ich konnte ihn nicht wecken. Kann er sie später zurückrufen?«

«Nein. Ich schicke ihm ein Fax.«

Die Idee zu einem Gegenschlag kam York an einem Sonntag auf dem Golfplatz, und im Verlauf des Spiels, bei dem sein Ball hin und wieder auf dem Fairway, häufiger jedoch im Sand und zwischen den Bäumen landete, nahm der Plan Gestalt an und wurde geradezu brillant. Am vierzehnten Loch verabschiedete York sich von seinen Mitspielern und rief Teddy an.

Sie würden sich die Taktik ihrer Gegner aneignen und diese von AI Konyers ablenken. Sie hatten nichts zu verlieren.

York entwarf den Brief und beauftragte einen der fähigsten Fälscher in der Abteilung Dokumente damit, ihn handschriftlich auf einer weißen, aber teuren Briefkarte aufzusetzen. Der Absender wurde auf den Namen Brant White getauft.

Lieber Ricky!

Ich habe deine Anzeige gelesen — sie hat mir gefallen. Ich bin 55, in Topform und suche mehr als einen Brieffreund. Meine Frau und ich haben gerade ein Haus in Palm Valley gekauft, nicht weit von Neptune Beach. Wir werden in drei Wochen dorthin fahren und zwei Monate bleiben. Wenn du interessiert bist, schick mir ein Foto. Wenn es mir gefällt, schreibe ich dir weitere Einzelheiten.

Brant

Der Absender lautete: Brant, P.O. Box 88645, Upper Darby,PA19082.

Um zwei oder drei Tage zu sparen, wurde der Brief mit einem Stempel des Hauptpostamts von Philadelphia versehen und nach Jacksonville geflogen, wo Klockner ihn persönlich in Aladdin Norths kleinem Postfach in Neptune Beach deponierte. Es war ein Montag.

Am nächsten Tag holte Trevor nach seinem Mittagsschlaf die Post ab, verließ Jacksonville in westlicher Richtung und fuhr den gewohnten Weg nach Trumble. Dort wurde er am Empfang wie üblich von Mackey und Vince begrüßt und trug sich in die Besucherliste ein, die Rufus ihm hinschob. Er folgte Link zum Besucherraum. Spicer erwartete ihn in einem der kleinen Anwaltszimmer.

«Ich kriege hier langsam Druck«, sagte Link, als sie eintraten. Spicer sah nicht auf. Trevor hielt Link zwei Zwanziger hin, die dieser blitzschnell einsteckte.

«Wer macht Druck?«fragte Trevor und klappte den Aktenkoffer auf. Spicer las in einer Zeitung.

«Der Direktor.«

«Mann, er hat meine Besuchszeiten eingeschränkt. Was will er denn noch?«

«Kapierst du nicht?«sagte Spicer, ohne den Blick von der Zeitung zu heben.»Link ist sauer, weil er nicht genug kriegt. Stimmt's, Link?«

«Stimmt vollkommen. Ich weiß ja nicht, was ihr hier für seltsame Dinge treibt, aber wenn ich mal anfange, mir den Aktenkoffer da ein bisschen genauer anzusehen, steckt ihr ganz schön in der Scheiße.«

«Sie werden gut bezahlt«, sagte Trevor.

«Das finde ich nicht.«

«Wie viel willst du?«fragte Spicer und fixierte ihn.

«Tausend pro Monat, in bar«, sagte er und sah Trevor an.»Ich hol's mir in Ihrer Kanzlei ab.«»Tausend Dollar und unsere Post wird nicht kontrolliert?«fragte Spicer.

«Genau.«

«Und keiner erfährt was davon?«

«Ja.«

«Gut. Und jetzt raus.«

Link lächelte ihnen zu und ging hinaus. Er postierte sich vor der Tür und sah, wohl wissend, dass die Überwachungskamera ihn im Bild hatte, hin und wieder durch das kleine Fenster.

Drinnen lief alles ab wie immer. Der Austausch der Briefe dauerte nur ein paar Sekunden. Aus stets demselben abgegriffenen braunen Umschlag zog Joe Roy Spicer die ausgehende Post und reichte sie

Trevor, der die eingegangenen Briefe aus dem Aktenkoffer nahm und sie seinem Mandanten gab.

Diesmal waren es sechs. Manchmal waren es zehn, selten weniger als fünf. Obgleich Trevor weder eine Liste führte noch Kopien anfertigte oder irgendwelche Unterlagen hatte, die als Beweis hätten dienen können, dass er irgendetwas mit diesem krummen Ding der Bruderschaft zu tun hatte, wusste er, dass es im Augenblick zwanzig bis dreißig potenzielle Opfer gab. Er erkannte einige der Namen und Adressen wieder.

Nach Spicers genauen Unterlagen waren es einundzwanzig Opfer. Einundzwanzig Erfolg versprechende Opfer und weitere achtzehn, bei denen die Aussichten nicht so gut waren. Insgesamt beinahe vierzig Brieffreunde, die ihre wahren Neigungen verbargen. Einige fürchteten sich sogar vor ihrem eigenen Schatten, andere wurden von Woche zu Woche kühner, und einige waren drauf und dran, alles stehen und liegen zu lassen und sich in Rickys oder Percys Arme zu werfen.

Das Schwierigste war, die Geduld zu bewahren. Die Sache funktionierte, Geld wechselte den Besitzer, und die Versuchung war groß, zu schnell zu viel herauszupressen. Beech und Yarber waren bienenfleißig und arbeiteten stundenlang an ihren Briefen, während Spicer die Arbeit koordinierte. Es erforderte eine gewisse Disziplin, einen neuen Brieffreund — einen mit Geld — an den Haken zu bekommen und ihn mit so vielen schönen Worten zu bearbeiten, dass er einem vertraute.

«Wäre nicht bald mal wieder was fällig?«fragte Trevor.

Spicer betrachtete die neuen Briefe.»Erzähl mir nicht, dass du pleite bist«, sagte er.»Du verdienst mehr als wir.«

«Mein Geld ist genauso gebunkert wie eures. Ich hätte bloß gern mehr davon.«

«Ich auch. «Spicers Blick fiel auf den Umschlag mit Brants Absender in Upper Darby, Pennsylvania.»Ah, ein Neuer«, murmelte er und öffnete ihn. Er las den Brief und war überrascht von seinem Ton. Keine Angst, keine überflüssigen Worte, kein vorsichtiges Herantasten. Dieser Mann wollte was erleben.

«Wo ist Palm Valley?«fragte er.

«Fünfzehn Kilometer südlich der Strande. Warum?«

«Was für ein Ort ist das?«

«Eins von diesen eingezäunten Reservaten mit Golfplatz für reiche Pensionäre. Die kommen fast alle aus dem Norden.«

«Wie viel kosten die Häuser?«

«Tja, ich bin noch nie dort gewesen. Die haben ein verschlossenes Tor, und überall sind Wachmänner. Als könnte einer dort einsteigen und ihnen ihre Golfwagen klauen. Aber-«

«Wie viel kosten die Häuser?«

«Mindestens eine Million. Ich hab Anzeigen für welche gesehen, die drei Millionen kosten sollen.«»Warte hier«, sagte Spicer, nahm den braunen Umschlag mit den Briefen und ging zur Tür.

«Wo gehst du hin?«fragte Trevor.

«Zur Bibliothek. Ich bin in einer halben Stunde zurück.«

«Ich hab was Besseres zu tun, als hier herumzusitzen.«

«Nein, hast du nicht. Lies die Zeitung.«

Spicer sagte etwas zu Link, der ihn durch den Besucherraum und aus dem Verwaltungsgebäude hinaus eskortierte. Er ging mit raschen Schritten den Weg zwischen den gepflegten Grünflächen entlang. Die Sonne schien, und die Gärtner verdienten sich ihre 5 °Cents pro Stunde.

Wie übrigens auch die Bibliothekare. Beech und Yarber saßen in ihrem kleinen Besprechungszimmer, wo sie sich gerade bei einem Schachspiel von der Arbeit des Briefeschreibens erholten, als Spicer eilig und mit einem ganz untypischen Lächeln auf den Lippen eintrat.»Jungs, wir haben endlich einen dicken Fisch an der Angel«, verkündete er und warf Brants Brief auf den Tisch. Beech las ihn vor.

«Palm Valley ist eine von diesen Siedlungen für reiche Golfspieler«, erklärte Spicer stolz.»Die Häuser kosten so um die drei Millionen. Der Typ hat jede Menge Geld und will sich nicht lange mit Briefen aufhalten.«

«Er scheint es ziemlich eilig zu haben«, bemerkte Yarber.

«Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagte Spicer.»Er will in drei Wochen herkommen.«

«Wie sind die Entwicklungsmöglichkeiten?«fragte Beech. Es gefiel ihm, sich wie jemand auszudrücken, der vorhatte, Millionen zu investieren.

«Mindestens eine halbe Million«, sagte Spicer.»Lasst uns sofort einen Brief schreiben. Trevor wartet so lange.«

Beech schlug eine seiner zahlreichen Mappen auf und zeigte sein Sortiment: Briefpapier in vielen sanften Pastellfarben.»Ich glaube, da nehme ich Pfirsich«, sagte er.

«Unbedingt«, stimmte Spicer ihm zu.»Pfirsich muss es sein.«

Ricky schrieb eine Kurzfassung des Briefes zur ersten Kontaktaufnahme: achtundzwanzig Jahre alt, College-Absolvent, in einer geschlossenen Drogenklinik, aber mit Aussicht auf baldige Entlassung (wahrscheinlich bereits in zehn Tagen), sehr einsam, auf der Suche nach einem reifen Mann, mit dem er eine Beziehung beginnen konnte. Wie schön, dass Brant in der Nähe leben würde, denn Ricky hatte eine Schwester in Jacksonville, bei der er wohnen konnte. Es gab also keine Hürden und Hindernisse. Wenn Brant in den Süden kam, war er bereit. Aber auch er wollte erst ein Foto sehen. War Brant wirklich verheiratet? Und würde seine Frau auch in Palm Valley leben? Oder würde sie vielleicht in Pennsylvania bleiben? Wäre das nicht großartig?

Sie legten dasselbe Farbfoto bei, das sie schon hundertmal verwendet hatten. Es hatte sich als unwiderstehlich erwiesen.

Spicer brachte den pfirsichfarbenen Umschlag in das Anwaltszimmer, wo Trevor ein Nickerchen machte.»Das hier muss sofort in den Briefkasten«, befahl Spicer ihm. Sie verbrachten noch zehn Minuten mit der Besprechung der Basketball-Wetten und verabschiedeten sich dann ohne Händedruck.

Auf dem Rückweg nach Jacksonville rief Trevor seinen Buchmacher an. Jetzt, da er größere Summen einsetzte, hatte er einen neuen, größeren Buchmacher. Die digitale Verbindung war abhörsicher, doch der Apparat war es nicht. Klockner und seine Leute waren wie immer über alles informiert und führten über Trevors Wetten Buch. Er war recht erfolgreich: In den vergangenen zwei Wochen hatte er 4500 Dollar gewonnen. Seine Kanzlei hatte ihm im selben Zeitraum bloß 800 Dollar eingebracht.

Außer im Handy befanden sich noch vier weitere Mikrofone in Trevors Käfer. Die meisten davon waren von billiger Machart, taten jedoch ihren Dienst. Und unter jeder Stoßstange waren Sender montiert, die von der Batterie des Wagens gespeist und alle paar Nächte, wenn Trevor entweder schlief oder sich betrank, überprüft wurden. Mittels eines leistungsstarken Empfängers im Haus gegenüber der Kanzlei verfolgte man den Käfer, wohin er auch fuhr. Während Trevor auf der Landstraße dahintuckerte, per Handy mit Geld um sich warf wie ein Profi aus Las Vegas und dabei heißen Kaffee aus einem Schnellrestaurant trank, sandte er mehr Funksignale aus als die meisten Privatjets.

7. März, der große Super Tuesday. Tausende Anhänger jubelten, Musik schmetterte, und zahllose Ballons schwebten von der Decke, als Aaron Lake triumphierend und mit federnden Schritten zur Mitte der Bühne eines riesigen Ballsaals in einem Hotel in Manhattan ging. Er hatte im Staat New York 43 Prozent der Stimmen errungen, während Gouverneur Tarry nur auf recht schwache 29 Prozent gekommen war. Die anderen Kandidaten teilten sich den mageren Rest. Lake umarmte Leute, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, winkte Leuten zu, die er nie in seinem Leben wieder sehen würde, und hielt ohne schriftliches Konzept eine mitreißende Siegesrede.

Dann jettete er nach Los Angeles, wo ihn eine weitere Feier erwartete. Seine neue Boeing war groß genug für 100 Passagiere. Ihre monatliche Leasingrate betrug eine Million Dollar, und sie flog mit einer Reisegeschwindigkeit von 750 Stundenkilometern. Lake und seine Mitarbeiter verfolgten in 12 500 Meter Höhe die Sendungen mit den Ergebnissen aus den zwölf Bundesstaaten, in denen am großen Super Tuesday Vorwahlen stattgefunden hatten. An der Ostküste hatten die Wahllokale bereits geschlossen. In Maine und Connecticut hatte Lake nur knapp, in New York, Massachusetts, Maryland und Georgia jedoch sehr deutlich gesiegt. In Rhode Island hatten ihm 800 Stimmen gefehlt, in Vermont dagegen hatten 1000 Stimmen den Ausschlag zu seinen Gunsten gegeben. Während er Missouri überflog, erklärte CNN ihn mit vier Prozent Vorsprung vor Gouverneur Tarry zum Sieger in diesem Staat. In Ohio war die Entscheidung ähnlich knapp.

Als Lake in Kalifornien landete, war das Rennen so gut wie gelaufen. Von den 591 Delegiertenstimmen, über die an diesem Tag entschieden worden war, hatte er 390 errungen. Seine Dynamik hatte weiter zugenommen. Und das Wichtigste war: Aaron Lake hatte jetzt das Geld. Gouverneur Tarry befand sich im Sturzflug, während Lake sich höher und höher hinaufschwang.

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