ZWEI

Obwohl er seit vierzehn Jahren Abgeordneter war, steuerte Aaron Lake seinen Wagen persönlich durch den Verkehr von Washington. Er brauchte keinen Chauffeur, keinen Kofferträger, keinen Leibwächter. Manchmal begleitete ihn ein Referent, der sich während der Fahrt Notizen machte, doch meist genoss Lake das gemächliche Tempo, das der Washingtoner Verkehr zuließ, und hörte klassische Gitarrenmusik. Viele seiner Freunde, besonders diejenigen, die es zum Vorsitzenden oder Stellvertretenden Vorsitzenden eines Komitees gebracht hatten, besaßen größere Wagen mit Chauffeur. Manche hatten sogar Luxuslimousinen.

Lake nicht. Er hielt dergleichen für eine Verschwendung von Zeit, Geld und Privatsphäre. Wenn er je ein höheres Amt anstreben sollte, würde er jedenfalls keinen Chauffeur haben wollen — so etwas war nur eine Belastung. Außerdem war er gern allein. In seinem Büro ging es zu wie in einem Irrenhaus. Fünfzehn Angestellte waren vollauf damit beschäftigt, Anrufe entgegenzunehmen, Akten anzulegen und den Wählern zu Hause in Arizona zu dienen, die ihn nach Washington geschickt hatten. Drei Referenten standen sich auf den schmalen Fluren gegenseitig im Weg und nahmen mehr Zeit in Anspruch, als sie verdienten.

Er war ein allein stehender Witwer mit einem kleinen, altmodischen Stadthaus in Georgetown, das er sehr mochte. Er lebte zurückgezogen und nahm nur selten an dem gesellschaftlichen Leben teil, das er und seine verstorbene Frau in den frühen Jahren ihrer Ehe so genossen hatten.

leichter Schneefall ließ die Autofahrer auf dem Beltway langsam und vorsichtig fahren. In Eangley passierte Lake nach kurzer Kontrolle die Sicherheitssperre der CIA und war sehr erfreut, dass man einen Vorzugsparkplatz für ihn frei gehalten hatte, wo ihn zwei Beamte in Zivil erwarteten.

«Mr. Maynard erwartet Sie«, sagte der eine ernst, während er ihm die Wagentür öffnete. Der andere nahm seine Aktentasche. Macht hatte gewisse Vorzüge.

Lake hatte den CIA-Direktor noch nie in Langley aufgesucht. Sie hatten zwei Unterredungen auf dem Capitol Hill gehabt, Vorjahren, als der arme Kerl noch hatte gehen können. Doch nun saß Teddy Maynard im Rollstuhl und hatte ständig Schmerzen, und selbst Senatoren ließen sich nach Langley hinausfahren, wenn er mit ihnen sprechen wollte. In vierzehn Jahren hatte er Lake ein halbes Dutzend Mal angerufen, doch Maynard war ein viel beschäftigter Mann. Mit weniger wichtigen Aufgaben betraute er gewöhnlich seine Assistenten.

Unbehindert drangen der Abgeordnete und seine beiden Begleiter durch alle Sicherheitskontrollen in die Tiefen des CIA-Hauptquartiers vor. Als Lake durch den Eingang von Maynards Bürosuite trat, ging er unwillkürlich ein wenig aufrechter und federnder als sonst. Macht war berauschend.

Teddy Maynard hatte nach ihm geschickt.

In einem großen, quadratischen, fensterlosen Raum, der von den Mitarbeitern» der Bunker «genannt wurde, saß der CIA-Direktor allein und starrte unverwandt auf eine große Leinwand, auf der das Gesicht des Abgeordneten Aaron Lake zu sehen war. Es war ein Foto, aufgenommen vor drei Monaten während eines Galadiners für wohltätige Zwecke. Lake hatte ein halbes Glas Wein getrunken, ein wenig gebratene Hähnchenbrust und kein Dessert gegessen, war allein nach Hause gefahren und vor elf Uhr zu Bett gegangen. Das Foto wirkte attraktiv, weil Lake so attraktiv war: rötlich-blondes, volles Haar, fast ohne Grau, ohne künstliche Färbung oder Tönung, dunkelblaue Augen, kantiges Kinn, sehr gute Zähne. Er war dreiundfünfzig und in hervorragender körperlicher Verfassung. Jeden Tag trainierte er eine halbe Stunde auf einer Rudermaschine und sein Cholesterinspiegel lag bei 160. Man hatte keine einzige schlechte Angewohnheit entdeckt. Er war gern in Gesellschaft von Frauen, besonders wenn es nützlich war, in Gesellschaft einer Frau gesehen zu werden. Bei solchen Gelegenheiten trat er in Begleitung einer sechzigjährigen Witwe aus Bethesda auf, deren Mann als Lobbyist ein Vermögen gemacht hatte.

Beide Eltern waren tot, und die einzige Tochter war Lehrerin in Santa Fe. 1996 war seine Frau, mit der er neunundzwanzig Jahre verheiratet gewesen war, an Eierstockkrebs gestorben. Ein Jahr darauf hatte auch sein Spaniel im Alter von dreizehn Jahren das Zeitliche gesegnet, und seitdem lebte der Abgeordnete Aaron Lake aus Arizona ganz allein. Er war Katholik, auch wenn das inzwischen keine Rolle mehr spielte, und ging mindestens einmal wöchentlich zur Messe. Teddy drückte auf einen Knopf und das Bild verschwand.

Außerhalb der politischen Klasse von Washington war Lake ein Unbekannter, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er sein Ego im Griff hatte. Wenn er Ambitionen auf ein höheres Amt besaß, so ließ er sich davon nichts anmerken. Einmal war er als potenzieller Kandidat für das Amt des Gouverneurs von Arizona gehandelt worden, aber es gefiel ihm einfach zu gut in Washington. Er liebte Georgetown — das Gedränge auf den Straßen, die Anonymität, das Stadtleben. Dort gab es gute Restaurants, hervorragende Buchhandlungen und gemütliche Espressobars. Er mochte Musik und das Theater und er und seine verstorbene Frau hatten sich keine Veranstaltung im Kennedy Center

entgehen lassen.

Auf dem Capitol Hill galt Lake als intelligenter, fleißiger Abgeordneter — wortgewandt, grundehrlich, loyal und äußerst gewissenhaft. In seinem Wahlbezirk gab es vier große Unternehmen, die Waffensysteme herstellten, und daher war er im Lauf der Zeit zu einem Experten für die Ausrüstung und Einsatzbereitschaft der Streitkräfte geworden. Er war Vorsitzender des Verteidigungskomitees. In dieser Eigenschaft hatte er Teddy Maynard kennen gelernt.

Teddy drückte erneut auf den Knopf und wieder erschien Lakes Gesicht. Der CIA-Direktor war seit 50 Jahren im Geheimdienstgeschäft und hatte nur selten ein ungutes Gefühl im Bauch. Er war beschossen worden, hatte sich unter Brücken verstecken müssen, war in den Bergen fast erfroren, er hatte zwei tschechische Spione vergiftet und in Bonn einen Verräter erschossen, er hatte sieben Sprachen gelernt, im Kalten Krieg gekämpft und sein Bestes getan, um den nächsten zu verhindern, er hatte mehr Abenteuer erlebt als zehn Agenten zusammen, und doch — beim Anblick von Aaron Lakes unschuldigem Gesicht hatte er eindeutig ein ungutes Gefühl.

Er — die CIA — war dabei, etwas zu tun, das der Geheimdienst noch nie getan hatte.

Sie hatten sich 100 Senatoren, 50 Gouverneure und 435 Abgeordnete vorgenommen — die üblichen Verdächtigen eben —, und nur einer war übrig geblieben: Aaron Lake aus Arizona.

Teddy tippte auf den Knopf, und das Bild verschwand. Seine Beine waren zugedeckt. Er trug dasselbe wie jeden Tag: einen Pullover mit V-Ausschnitt, ein weißes Hemd, eine Krawatte in gedeckten Brauntönen. Er fuhr den Rollstuhl zur Tür und bereitete sich darauf vor, seinen Kandidaten zu empfangen.

Während der acht Minuten, die Lake warten musste, bot man ihm Kaffee und ein Stück Kuchen an, das er dankend ablehnte. Er war einen Meter fünfundachtzig groß, wog sechsundsiebzig Kilo und achtete sehr auf sein Äußeres und Teddy wäre überrascht gewesen, wenn er den Kuchen gegessen hätte. Soweit man hier wusste, aß Lake nie Zucker. Nie.

Der Kaffee war stark, und während er ihn trank, ging er in Gedanken noch einmal die Ergebnisse seiner eigenen Nachforschungen durch. Der Zweck dieses Treffens war ein Gespräch über die beunruhigende Menge schwerer Waffen, die vom Schwarzen Markt stammten und an Balkanländer geliefert wurden. Lake hatte zwei Memoranden zu diesem Thema, achtzig eng beschriebene Seiten voller Daten, die er bis zwei Uhr morgens durchgegangen war. Er wusste nicht, warum Mr. Maynard ihn zur Besprechung dieser Angelegenheit nach Langley gebeten hatte, aber er war vorbereitet.

Ein leises Summen ertönte, die Tür öffnete sich, und der CIA-Direktor rollte auf ihn zu. Seine Beine waren unter einer Decke verborgen und man sah ihm seine vierundsiebzig Jahre an, doch sein Händedruck war fest — wahrscheinlich von der Kraftanstrengung, die es ihn kostete, sich mit dem Rollstuhl fortzubewegen. Lake folgte ihm in das Büro. Die beiden Bullterrier mit Universitätsabschluss blieben zurück und bewachten die Tür.

Maynard und Lake setzten sich einander gegenüber an einen sehr langen Tisch, an dessen Ende eine große weiße Wand als Projektionsfläche diente. Nach ein paar Begrüßungsworten drückte Teddy einen Knopf, und auf der Wand erschien ein Gesicht. Ein weiterer Knopfdruck, und es wurde dunkler im Raum. Lake gefiel das: Man drückte auf einen kleinen Knopf und sogleich flimmerten Hightech-Bilder. Zweifellos war dieser Raum mit elektronischen Geräten ausgestattet, die so empfindlich waren, dass man seinen Pulsschlag auf zehn Meter Entfernung messen konnte.

«Erkennen Sie ihn?«fragte Teddy.

«Vielleicht. Ich glaube, ich habe das Gesicht schon einmal gesehen.«

«Das ist Natli Tschenkow. Ehemaliger General. Jetzt ein Mitglied dessen, was vom russischen Parlament noch übrig

ist.«

«Auch bekannt als Natty«, sagte Lake stolz.

«Genau. Ein Betonkommunist mit engen Verbindungen zum Militär. Brillanter Kopf mit einem gewaltigen Ego. Sehr ehrgeizig, rücksichtslos und im Augenblick der gefährlichste Mann der Welt.«

«Das wusste ich nicht.«

Ein Knopfdruck, ein anderes Gesicht. Dieses war wie aus Stein gemeißelt und darüber saß die Mütze einer Galauniform.»Das ist Juri Golzin, Stellvertretender Oberkommandierender dessen, was von der Roten Armee noch übrig ist. Tschenkow und Golzin haben große Pläne. «Ein weiterer Knopfdruck, und es erschien ein Kartenausschnitt, der einen Teil Russlands nördlich von Moskau zeigte.»In dieser Region ziehen sie Waffen zusammen«, sagte Teddy.» Zum Teil stehlen sie sie von ihrer eigenen Armee, aber zum Teil — und das ist das Bedeutsame — kaufen sie sie auch auf dem Schwarzen Markt.«

«Woher kommt das Geld?«

«Von überallher. Sie tauschen Öl gegen israelische Radarsysteme. Sie schmuggeln Drogen und kaufen dafür chinesische Panzer, auf dem Umweg über Pakistan. Tschenkow hat enge Verbindungen zur russischen Mafia und einer der Bosse hat kürzlich eine Fabrik in Malaysia gekauft, in der ausschließlich Sturmgewehre hergestellt werden. Die ganze Sache ist sehr verzweigt. Tschenkow ist gerissen und hat einen sehr hohen IQ. Wahrscheinlich ist er ein Genie.«

Teddy Maynard war ein Genie, und wenn er einem anderen dieses Prädikat verlieh, dann war der Abgeordnete Aaron Lake der Letzte, der an der Richtigkeit dieser Aussage zweifelte.»Und wen wollen sie angreifen?«

Teddy überging die Frage. Er war noch nicht bereit, sie zu beantworten.»Sehen Sie die Stadt Wologda? Etwa 800 Kilometer östlich von Moskau. Letzte Woche haben wir 60 Wetrows bis zu einem Lagerhaus in Wologda verfolgt. Wie Sie wissen, ist die Wetrow — «

«Sie entspricht unserer Tomahawk Cruise Missile, ist aber einen halben Meter länger.«

«Genau. In den vergangenen 90 Tagen haben sie 300 von diesen Dingern dorthin verlegt. Sehen Sie die Stadt Rybinsk südwestlich von Wologda?«

«Dort wird Plutonium hergestellt.«

«Ja, tonnenweise. Genug für zehntausend Sprengköpfe. Tschenkow, Golzin und ihre Leute kontrollieren die gesamte Region.«

«Kontrollieren?«

«Ja, durch ein Netzwerk von örtlichen Mafiabossen und Armeeeinheiten. Tschenkow hat seine Leute überall.«

«Zu welchem Zweck.«

Teddy drückte erneut auf einen Knopf, und die Wand wurde wieder weiß. Das Licht blieb jedoch

gedämpft, so dass seine Stimme, als er weitersprach, aus dem Schatten zu kommen schien.»Bis zum Putsch wird es nicht mehr lange dauern, Mr. Lake. Unsere schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich. Alle Bereiche der russischen Gesellschaft und Kultur stehen vor dem Zusammenbruch. Die Demokratie ist ein Witz. Der Kapitalismus ist ein Alptraum. Wir dachten, wir könnten dieses verdammte Land mit Hilfe von McDonald umwandeln, aber das war eine Katastrophe. Die Arbeiter kriegen keinen Lohn und die können von Glück sagen, weil sie noch einen Arbeitsplatz haben. Zwanzig Prozent haben nämlich keinen. Kinder sterben, weil es keine Medikamente gibt. Viele Erwachsene ebenfalls. Zehn Prozent der Bevölkerung sind obdachlos. Zwanzig Prozent hungern. Und mit jedem Tag wird es schlimmer. Das Land wird von organisierten Verbrecherbanden geplündert.

Wir schätzen, dass mindestens 500 Milliarden Dollar außer Landes geschafft worden sind. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Es ist der ideale Zeitpunkt für einen neuen starken Mann, einen neuen Diktator, der den Leuten Stabilität verspricht. Das Land sehnt sich nach einem Führer und Mr. Tschenkow ist zu dem Schluss gekommen, dass er dieser neue Führer ist.«

«Und die Armee steht hinter ihm.«

«Die Armee steht hinter ihm, und mehr braucht er nicht. Der Putsch wird unblutig verlaufen, weil das Volk bereit ist. Man wird Tschenkow zujubeln. Er wird an der Spitze der Armee auf den Roten Platz marschieren und uns, die Vereinigten Staaten, warnen, sich ihm nicht in den Weg zu stellen. Wir werden wieder der Feind sein.«

«Dann kehrt der Kalte Krieg also zurück«, sagte Lake nachdenklich.

«Er wird kein bisschen kalt sein. Tschenkow will expandieren und die alte Sowjetunion wiederherstellen. Er braucht dringend Geld und das wird er sich einfach nehmen, in Form von Land, Fabriken, Öl und Getreide. Er wird kleine, regionale Kriege vom Zaun brechen, die er mit Leichtigkeit gewinnen wird. «Eine weitere Karte erschien. Teddy fuhr fort und präsentierte Lake die erste Phase der neuen Weltordnung.»Ich vermute, dass er sich zunächst die baltischen Staaten vornehmen und die Regierungen in Estland, Lettland und Litauen stürzen wird. Dann wird er sich dem alten Ostblock zuwenden und sich mit den dortigen Kommunisten einigen.«

Der Abgeordnete sah sprachlos zu, wie Russland sich wieder ausdehnte. Teddys Prophezeiungen waren so selbstgewiss, so genau.

«Was ist mit den Chinesen?«fragte Lake.

Doch Teddy war mit Osteuropa noch nicht fertig. Er drückte einen Knopf und präsentierte eine neue Karte.»Und hier werden wir dann hineingezogen.«

«In Polen?«

«Ja. So was gibt's. Polen ist jetzt aus irgendeinem verdammten Grund Mitglied der NATO. Das muss man sich mal vorstellen. Polen steigt in die NATO ein, um Europa und uns zu beschützen. Tschenkow konsolidiert also Russlands alten Einflussbereich und wirft begehrliche Blicke nach Westen. Genau wie Hitler, nur dass der nach Osten geblickt hat.«

«Warum sollte er Polen wollen?«

«Warum wollte Hitler Polen? Weil es zwischen ihm und Russland lag. Er hasste die Polen und war bereit, einen Krieg anzufangen. Tschenkow ist Polen vollkommen gleichgültig — er will es nur in seinem Machtbereich haben. Und er will die NATO zerschlagen.«

«Ist er wirklich bereit, einen dritten Weltkrieg zu riskieren?«

Knöpfe wurden gedrückt. Wo die Karte gewesen war, war nun wieder eine weiße Wand und das Licht wurde heller. Die audiovisuelle Präsentation war beendet — es war an der Zeit für eine ernsthafte Unterredung. Ein Schmerz durchfuhr Teddys Beine und er verzog unwillkürlich das Gesicht.

«Das kann ich nicht sagen«, erklärte er.»Wir wissen zwar eine Menge, aber nicht, was dieser Mann denkt. Er geht behutsam vor, er plant, er bringt seine Leute in Position. Das Ganze kommt nicht gerade unerwartet.«

«Natürlich nicht. Wir kennen diese Szenarien seit acht Jahren, aber es gab immer die Hoffnung, dass er nicht so weit gehen würde.«

«Aber jetzt passiert es. Während wir hier sitzen und uns unterhalten, eliminieren Tschenkow und Golzin ihre Gegner. «

«Wie sieht der Zeitplan aus?«

Teddy rutschte im Rollstuhl hin und her und suchte nach einer Haltung, die den Schmerz vergehen ließ.»Schwer zu sagen. Wenn er schlau ist — und das ist er mit Sicherheit —, wartet er, bis es zu Unruhen kommt. Ich glaube, in einem Jahr wird Natty Tschenkow der berühmteste Mann der Welt sein.«

«In einem Jahr«, sagte Lake mehr zu sich selbst, und es klang, als hätte er soeben sein eigenes Todesurteil gehört.

Es trat eine lange Pause ein, in der er über das Ende der Welt nachdachte. Teddy ließ ihm Zeit. Das ungute Gefühl im Bauch hatte deutlich nachgelassen. Lake gefiel ihm sehr. Er sah tatsächlich gut aus, er war wortgewandt und intelligent. Sie hatten die richtige Wahl getroffen.

Er war der ideale Kandidat.

Nach einer Tasse Kaffee und einem Anruf, den Teddy entgegennehmen musste — er kam vom Vizepräsidenten —, setzten sie ihre Unterhaltung fort. Aaron Lake war geschmeichelt, dass der CIA-Direktor sich so viel Zeit für ihn nahm. Die Russen kamen und doch schien Teddy ganz gelassen.

«Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie unvorbereitet unsere Armee ist«, sagte er ernst.

«Unvorbereitet auf was? Auf einen Krieg?«

«Vielleicht. Wenn wir unvorbereitet sind, könnte ein Krieg daraus werden. Aber wenn wir stark sind, können wir ihn vermeiden. Im Augenblick wäre das Pentagon nicht imstande zu tun, was es 1991 im Golfkrieg getan hat.«

«Wir liegen bei siebzig Prozent«, sagte Lake entschieden. Auf diesem Gebiet kannte er sich aus.

«Siebzig Prozent bedeutet Krieg, Mr. Lake. Einen Krieg, den wir nicht gewinnen können. Tschenkow gibt jeden Cent, den er stehlen kann, für Material aus. Wir dagegen kürzen das Budget und reduzieren die Truppenstärke. Wir wollen auf Knöpfe drücken und intelligente Bomben ins Ziel schicken, damit kein amerikanisches Blut vergossen wird. Aber Tschenkow wird zwei Millionen hungrige Soldaten haben, die bereit sind zu kämpfen und, wenn es sein muss, zu sterben.«

Einen Augenblick lang war Lake stolz. Er hatte den Mut gehabt, gegen den letzten Haushaltsentwurf zu stimmen, weil dieser eine Senkung der Militärausgaben vorsah. Die Menschen in seinem Wahlkreis hatten für diese Kürzungen kein Verständnis gehabt.»Können wir nicht an die Öffentlichkeit gehen?«fragte er.

«Nein, auf keinen Fall. Wir haben sehr gute Informanten. Wenn wir jetzt reagieren, weiß er, wie viel wir wissen. Das ist das alte Geheimdienst-Spiel, Mr. Lake. Es ist noch zu früh, um zu enthüllen, was er vorhat.«

«Was also wollen Sie tun?«fragte Lake kurz entschlossen. Es war vermessen, Teddy zu fragen, was er tun wolle. Die Unterredung hatte ihren Zweck erfüllt: Ein weiterer Abgeordneter war ausreichend informiert worden. Jeden Augenblick konnte das Gespräch beendet sein, damit irgendein anderer Ausschussvorsitzender hereingebeten werden konnte.

Doch Teddy hatte große Pläne, und er brannte darauf, Lake einzuweihen.»In zwei Wochen sind Vorwahlen in New Hampshire. Zur Wahl stehen vier Republikaner und drei Demokraten und alle sagen dasselbe. Kein einziger Kandidat will die Militärausgaben erhöhen. Wir haben — Wunder über Wunder — einen Haushaltsüberschuss, und jeder hat viele schöne Ideen, wofür man dieses Geld ausgeben könnte. Ein Haufen Idioten. Noch vor ein paar Jahren hatten wir ein riesiges Defizit, und der Kongress hat das Geld schneller ausgegeben, als man es drucken konnte. Jetzt haben wir einen Überschuss, und der Kongress mästet sich daran.«

Der Abgeordnete Lake senkte den Blick und beschloss, nicht auf diese Bemerkung einzugehen.

Teddy besann sich.»Entschuldigung«, sagte er.»Der Kongress als Ganzes handelt unverantwortlich, aber? ich weiß, dass es viele gute Abgeordnete gibt.«

«Ich bin ganz Ihrer Meinung.«

«Jedenfalls sagen die Kandidaten alle dasselbe. Sehen Sie sich die Favoriten bei den Vorwahlen vor zwei Wochen an. Sie bewerfen sich mit Dreck und stoßen sich gegenseitig Messer in den Rücken, und all das nur, um die Vorwahlen in einem Staat zu gewinnen, der größenmäßig an vierundvierzigster Stelle steht. Es ist zum Verrücktwerden. «Teddy hielt inne, verzog das Gesicht und versuchte, die gelähmten Beine in eine bequemere Stellung zu bringen.»Wir brauchen jemand Neues, Mr. Lake, und wir glauben, dass Sie dieser Jemand sind.«

Lake unterdrückte ein Lachen, indem er erst lächelte und dann hustete. Er überspielte seine Verblüffung und sagte:»Sie scherzen.«

«Sie wissen, dass ich nicht scherze«, sagte Teddy ernst, und nun gab es keinen Zweifel mehr, dass Aaron Lake in eine geschickt gestellte Falle gegangen war.

Lake räusperte sich und fand seine Fassung wieder.»Also gut. Ich höre.«

«Es ist ganz einfach. Das Schöne an unserem Plan ist seine Einfachheit. Sie sind zu spät dran, um sich in New Hampshire zur Wahl zu stellen, aber das macht gar nichts. Sollen die anderen sich dort zerfleischen. Wir warten, bis die Vorwahl dort gelaufen ist, und dann überraschen Sie die Nation mit der Bekanntgabe Ihrer Kandidatur. Viele werden fragen: >Wer zum Teufel ist eigentlich Aaron Lake?< Und das ist gut. Das ist genau das, was wir wollen. Sie werden nämlich sehr schnell erfahren, wer Sie sind.

Für den Anfang wird Ihr Programm nur aus einem einzigen Punkt bestehen: Ihrer Haltung zum Rüstungsbudget. Sie werden den Teufel an die Wand malen und allerlei düstere Aussagen darüber machen, wie sehr unsere Streitkräfte geschwächt werden. Und die allgemeine Aufmerksamkeit ist Ihnen gewiß, wenn Sie eine Verdoppelung der Rüstungsausgaben fordern.«

«Eine Verdoppelung?«

«Sehen Sie? Es funktioniert. Jetzt habe ich Ihre volle Aufmerksamkeit. Eine Verdoppelung im Verlauf einer Legislaturperiode.«

«Aber warum? Natürlich muß der Rüstungsetat vergrößert werden, aber eine Verdoppelung wäre zu viel.«

«Nicht, wenn wir vor einem neuen Krieg stehen, Mr. Lake. Einem Krieg, in dem wir Knöpfe drücken und Tausende von Cruise Missiles zu eine Million Dollar pro Stück abfeuern. Du meine Güte — letztes Jahr, bei diesem Balkandesaster, sind sie uns beinahe ausgegangen. Wir kriegen nicht genug Soldaten, Matrosen und Piloten, Mr. Lake. Das wissen Sie. Das Militär braucht jede Menge Geld, um junge Leute anzuwerben. Soldaten, Raketen, Panzer, Flugzeuge, Flugzeugträger — wir haben von allem zu wenig. Tschenkow ist dabei aufzurüsten. Wir nicht. Wir rüsten ab, und wenn das noch über eine Legislaturperiode so weiter geht, dann sind wir geliefert.«

Teddy erhob die Stimme und klang beinahe wütend, und als er sagte:»Dann sind wir geliefert«, hörte Aaron Lake schon die Explosionen und fühlte den Boden unter seinen Füßen wanken.

«Aber woher soll das Geld kommen?«fragte er.

«Das Geld für was?«

«Für die Rüstungsausgaben.«

Teddy schnaubte verächtlich und sagte:»Von dort, woher es immer kommt. MUSS ich Sie daran erinnern, daß wir einen Haushaltsüberschuss haben, Sir?«

«Aber wir sind dabei, ihn auszugeben.«

«Natürlich. Hören Sie, Mr. Lake: Machen Sie sich keine Sorgen um das Geld. Kurz nachdem Sie Ihre Kandidatur bekannt gegeben haben, werden wir den Amerikanern eine Heidenangst einjagen.

Anfangs werden die Leute denken, Sie seien ein bißchen verrückt, irgendein durchgeknallter Typ aus Arizona, der noch mehr Bomben will. Aber wir werden sie wachrütteln. Wir werden auf der anderen Seite der Welt eine Krise heraufbeschwören und plötzlich wird Aaron Lake ein Visionär sein. Die zeitliche Abstimmung ist entscheidend. Sie werden eine Rede darüber halten, wie schwach unsere Position in Asien ist, und kaum jemand wird Ihnen zuhören. Dann schaffen wir dort eine Situation, daß die Welt den Atem anhält, und auf einmal wird jeder ein Interview mit Ihnen führen wollen. Und so wird es während des gesamten Wahlkampfs weitergehen. Wir bauen die Spannung auf. Wir lancieren Analysen, schaffen Situationen, manipulieren die Medien und stellen Ihre Konkurrenten bloß. Ehrlich gesagt, Mr. Lake — ich glaube nicht, daß es sehr schwierig sein wird.«

«Sie hören sich an, als wäre das nicht das erste Mal.«

«Nein. Wir haben ein paar ungewöhnliche Dinge getan, immer in dem Bestreben, unser Land zu schützen. Aber wir haben nie versucht, eine Präsidentschaftswahl zu beeinflussen«, sagte Teddy mit einem Anflug von Bedauern.

Lake schob langsam den Stuhl zurück, erhob sich, streckte Arme und Beine und ging am Tisch entlang zum anderen Ende des Raumes. Seine Füße fühlten sich schwerer an als zuvor. Sein Puls raste. Die Falle war zugeschnappt: Er war gefangen.

Langsam kehrte er zu seinem Platz zurück.»Ich habe nicht genug Geld«, wandte er ein, obgleich er wußte, daß sein Gegenüber sich bereits mit dieser Frage befaßt hatte.

Teddy nickte lächelnd und tat, als dächte er darüber nach. Lakes Haus in Georgetown war 400 000

Dollar wert. Etwa die Hälfte dieser Summe hatte er in Investmentfonds angelegt, weitere 100000 in Kommunalobligationen. Er hatte keine nennenswerten Schulden und in seiner Wahlkampfkasse befanden sich 40 000 Dollar.

«Ein reicher Kandidat wäre nicht attraktiv«, sagte Teddy und drückte auf einen weiteren Knopf. Wieder erschienen Bilder an der Wand, gestochen scharf und in Farbe.»Geld wird kein Problem sein, Mr. Lake«, fuhr er fort und seine Stimme klang jetzt viel unbeschwerter.»Wir werden die Rüstungsunternehmen zahlen lassen. Sehen Sie sich das an. «Er machte eine Geste mit der Rechten, als wußte Lake vielleicht nicht, wohin er sehen sollte.»Im letzten Jahr hat die Luftfahrt- und Rüstungsindustrie fast 200 Milliarden Dollar umgesetzt. Wir werden nur einen Bruchteil davon benötigen.«

«Einen wie großen Bruchteil?«

«So viel, wie Sie brauchen. Ich schätze, wir werden mit Leichtigkeit hundert Millionen kriegen können.«

«Aber man kann hundert Millionen Dollar nicht verstecken.«

«Darauf würde ich nicht wetten, Mr. Lake. Und machen Sie sich darüber keine Sorgen. Sie halten Ihre Reden, Sie machen Ihre Werbespots, Sie organisieren Ihren Wahlkampf. Das Geld wird schon kommen. Bis November werden die amerikanischen Wähler eine solche Angst vor der großen Katastrophe haben, daß es ihnen egal sein wird, wie viel Sie ausgegeben haben. Es wird ein Erdrutschsieg werden.«

Teddy Maynard bot ihm also einen Erdrutschsieg an. Lake saß benommen schweigend da und starrte auf die Statistiken an der Wand: 194 Milliarden für Luftfahrt und Rüstung. Im vergangenen Jahr hatte der Militärhaushalt eine Höhe von 270 Milliarden. Wenn man das innerhalb von vier Jahren auf 540 Milliarden verdoppelte, würden die Rüstungsunternehmen satte Gewinne einfahren. Und den Arbeitern würde es gut gehen. Die Löhne und Gehälter würden steil ansteigen. Vollbeschäftigung!

Die Arbeitgeber würden den Kandidaten Lake mit Geld unterstützen und die Gewerkschaften würden ihm Wählerstimmen verschaffen. Als er sah, wie schlicht und genial Teddys Plan war, ließ der anfängliche Schock nach. Man kassierte das Geld von denen, die von seiner Wahl profitieren würden. Man jagte den Wählern eine solche Angst ein, daß sie zu den Urnen rannten. Man gewann mit überwältigender Mehrheit. Und rettete damit die Welt.

Teddy ließ ihn einen Augenblick lang nachdenken und sagte dann:»Wir werden das meiste über die Interessengruppen laufen lassen. Da gibt es die Gewerkschaften, die Verbände der Ingenieure und leitenden Angestellten, verschiedene Arbeitgebervereinigungen — wir haben jede Menge Auswahl.

Und wir werden noch ein paar Verbände gründen.«

Lake war in Gedanken bereits dabei, sie zu gründen. Hunderte von Interessengruppen, allesamt ausgestattet mit Geld — er würde mehr Mittel zur Verfügung haben als je ein Kandidat zuvor. An die Stelle des Schocks war jetzt Begeisterung getreten. Unzählige Fragen schössen ihm durch den Kopf: Wer wird mein Vizepräsident sein? Wer leitet die Kampagne? Wen ernenne ich zu meinem Stabschef? Wo soll ich meine Kandidatur bekannt geben? Doch er beherrschte sich.»Es könnte funktionieren«, sagte er schließlich.

«Aber ja, Mr. Lake. Es wird funktionieren. Vertrauen Sie mir. Wir planen diese Sache schon seit einiger Zeit.«

«Wie viele Leute wissen davon?«

«Nur ein paar. Man hat Sie sorgfältig ausgewählt, Mr. Lake. Es gab viele potenzielle Kandidaten, und Ihr Name tauchte immer wieder ganz oben auf der Liste auf. Wir haben Ihren Hintergrund überprüft.«

«Ziemlich langweilig, was?«

«Ja. Nur Ihre Beziehung zu Ms. Valotti macht mir ein wenig Sorgen. Sie ist zweimal geschieden und hat eine Schwäche für Schmerztabletten.«

«Ich wußte gar nicht, daß ich eine Beziehung zu Ms. Valotti habe.«

«Sie sind in letzter Zeit öfter mit ihr gesehen worden.«

«Ihre Leute haben anscheinend ein wachsames Auge auf mich.«

«Haben Sie etwas anderes erwartet?«

«Nein, eigentlich nicht.«

«Sie sind mit ihr zu einem Wohltätigkeitsessen zugunsten unterdrückter Frauen in Afghanistan gegangen. Ich bitte Sie!«Teddys Stimme klang plötzlich scharf und sarkastisch.

«Ich wollte eigentlich gar nicht hingehen.«

«Dann gehen Sie nicht. Halten Sie sich fern von diesem Quatsch. Überlassen Sie das den Heulsusen aus Hollywood. Ihre Ms. Valotti bringt Ihnen nichts als Ärger.«

«Sonst noch jemand?«Lake war jetzt ein wenig unsicher. Seit dem Tod seiner Frau war sein Privatleben nicht gerade aufregend, doch auf einmal war er geradezu stolz auf diese Tatsache.

«Eigentlich nicht«, sagte Teddy.»Ms. Benchly ist eine attraktive Frau und macht einen stabilen Eindruck.«

«Oh, vielen Dank.«

«Man wird Sie nach Ihrer Haltung zum Abtreibungsgesetz befragen, aber da werden Sie nicht der Erste sein.«

«Das ist ein abgedroschenes Thema«, sagte Lake. Er war es leid, darüber zu debattieren. Er war für und gegen die Freigabe von Abtreibungen gewesen, hatte sich für die Selbstbestimmung der Frau und dann wieder für das Recht des ungeborenen Lebens stark gemacht und die Feministinnen hatten ihn abwechselnd unterstützt und bekämpft. In seinen vierzehn Jahren im Kongreß war er kreuz und quer über dieses Minenfeld gejagt worden und hatte es nicht ein einziges Mal geschafft, heil hindurchzukommen.

Nein, die Abtreibungsfrage schreckte ihn nicht mehr, jedenfalls nicht im Augenblick. Weit mehr Sorgen machte ihm die Tatsache, daß die CIA in seinem Privatleben herumschnüffelte.

«Was ist mit GreenTree?«fragte er.

Teddy machte eine wegwerfende Handbewegung.»Das ist zweiundzwanzig Jahre her. Es wurde niemand verurteilt. Ihr damaliger Partner hat Bankrott gemacht und wurde angeklagt, aber die Geschworenen haben ihn freigesprochen. Man wird das ausgraben — man wird alles ausgraben —, aber wir, Mr. Lake, werden die Aufmerksamkeit auf andere Themen lenken. Das ist der Vorteil, wenn man seine Kandidatur in letzter Minute erklärt: Die Presse hat nicht genug Zeit, alte Geschichten hervorzukramen.«»Ich bin allein stehend. Es hat bisher nur einen einzigen Präsidenten gegeben, der nicht verheiratet war.«

«Sie sind Witwer und waren mit einer wunderbaren Frau verheiratet, die hier und in Ihrer Heimat sehr angesehen war. Glauben Sie mir: Das wird kein Thema sein.«

«Was macht Ihnen dann Sorgen?«

«Nichts, Mr. Lake. Überhaupt nichts. Sie sind der ideale Kandidat. Überaus geeignet. Wir werden uns um die Themen kümmern, wir werden den Leuten Angst machen und wir werden Geld einsammeln.«

Lake erhob sich abermals, ging auf und ab, strich sich über das Haar, rieb sich das Kinn und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.»Ich habe eine Menge Fragen«, sagte er.

«Vielleicht kann ich einige davon beantworten. Lassen Sie uns morgen noch einmal darüber sprechen, hier, um dieselbe Zeit. Überschlafen Sie es, Mr. Lake. Die Zeit drängt, aber ich finde, vor einer solchen Entscheidung sollte man vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit haben. «Teddy rang sich ein Lächeln ab.

«Es ist ein faszinierendes Angebot. Ich werde darüber nachdenken. Morgen gebe ich Ihnen meine Antwort.«

«Und übrigens: Niemand weiß von unserer kleinen Unterhaltung.«

«Natürlich nicht.«

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