ACHTUNDDREISSIG

Sie verließen das Hotel zu Fuß, ohne Begleitung, ohne Auflagen, aber mit ihren Begnadigungen in der Tasche — für alle Fälle. Obgleich es hier am Strand wärmer war als in Trumble, war die Luft frischer. Der Himmel war blauer. Die Welt war wieder schön. Die Luft war voller Hoffnung. Sie lächelten und freuten sich über alles, was sie sahen. Sie schlenderten den Atlantic Boulevard entlang und waren von den Touristen nicht zu unterscheiden.

Ihr Mittagessen bestand aus Steak und Bier in einem Straßencafe, wo sie unter einem Sonnenschirm saßen und den Passanten zuschauen konnten. Es wurde nur wenig gesagt, aber umso mehr gesehen — vor allem die jungen Frauen in Shorts und dünnen Oberteilen. Im Gefängnis waren die Richter alte Männer gewesen — jetzt hatten sie das Bedürfnis, etwas zu erleben.

Besonders Hatlee Beech hatte dieses Bedürfnis. Er hatte Reichtum, Status und Ehrgeiz gehabt, und darüber hinaus als Bundesrichter etwas, das man eigentlich unmöglich verlieren konnte: eine Ernennung auf Lebenszeit. Er war tief gefallen, hatte alles verloren, und in seinen ersten beiden Jahren in Trumble hatte er sich beinahe ununterbrochen im Würgegriff einer Depression befunden. Er hatte sich schließlich damit abgefunden, dass er dort sterben würde, und ernsthaft an Selbstmord gedacht. Jetzt, im Alter von sechsundfünfzig Jahren, trat er geradezu triumphierend aus der Dunkelheit ins Licht. Er hatte fünfzehn Pfund abgenommen, war gebräunt und in guter körperlicher Verfassung, war von einer Frau geschieden, die zwar Geld besaß, darüber hinaus aber nicht viel zu

bieten hatte, und würde in Kürze ein Vermögen sein Eigen nennen können. Nicht schlecht für einen Mann in mittleren Jahren, dachte er. Seine Kinder fehlten ihm, doch sie hatten sich auf die Seite des Geldes geschlagen und ihn vergessen.

Hatlee Beech sehnte sich nach Spaß.

Auch Spicer freute sich auf ein bisschen Spaß, und dabei dachte er vor allem an den Spaß, den ihm die Betriebsamkeit eines Casinos bereiten würde. Seine Frau besaß keinen Pass — es würde also ein paar Wochen dauern, bis er sie in London oder irgendwo anders wieder sehen würde. Gab es in Europa Casinos? Beech glaubte ja. Yarber wusste es nicht, und es war ihm auch gleichgültig.

Yarber war der Zurückhaltendste der drei. Er trank kein Bier, sondern Mineralwasser, und interessierte sich nicht für die nackte Haut der jungen Frauen, die vorbeigingen. In Gedanken war er bereits in Europa. Er würde dort bleiben und nie wieder in sein Heimatland zurückkehren. Er war 60 und sehr fit. Er würde demnächst viel Geld haben und gedachte die nächsten zehn Jahre in Italien und Griechenland zu verbringen.

Gegenüber dem Straßencafe war eine kleine Buchhandlung, wo sie diverse Reiseführer kauften. In einem Geschäft für Freizeitkleidung fanden sie Sonnenbrillen, die ihnen gefielen. Und dann wurde es Zeit, zu Jack Argrow zu gehen und das Geschäft zum Abschluss zu bringen.

Klockner und seine Leute beobachteten sie, als sie zum Sea Turtle Inn zurückgingen. Klockner und seine Leute waren Neptune Beach, Pete's Bar and Grill, das Sea Turtle Inn und ihr gemietetes, beengtes Ferienhaus leid. Sechs Agenten, darunter Wes und Chap, waren noch hier und konnten es kaum erwarten, irgendwo anders eine neue Aufgabe zu übernehmen. Sie hatten die Richter entdeckt, sie aus dem Gefängnis geholt und hierher an den Strand gebracht, und nun wollten sie nur noch, dass die drei endlich das Land verließen.

Jack Argrow hatte die Unterlagen nicht angerührt — jedenfalls lagen sie, noch immer in den Kissenbezug gewickelt, genau so auf dem Sofa, wie Spicer sie hingelegt hatte.

«Die Überweisung ist unterwegs«, sagte Argrow, als sie in seiner Suite Platz genommen hatten.

In Langley sah Teddy noch immer zu. Die drei trugen jetzt alle möglichen Strandklamotten. Yarber hatte eine Anglermütze mit einem fünfzehn Zentimeter langen Schirm auf. Spicer trug einen Strohhut und ein gelbes T-Shirt, und Beech, der Republikaner, erschien in Khaki-Shorts, einem Baumwollpullover und einer Golfmütze.

Argrow reichte jedem der Richter einen der großen Briefumschläge, die auf dem Tisch lagen.»Hier sind Ihre neuen Identitäten. Geburtsurkunden, Kreditkarten, Sozialversicherungsausweise.«

«Und was ist mit den Pässen?«fragte Yarber.

«Nebenan ist eine Kamera aufgebaut. Wir brauchen Fotos für die Pässe und Führerscheine. Das dauert nur eine halbe Stunde. In den kleinen Umschlägen finden Sie außerdem je 5000 Dollar in bar.«

«Ich bin also Harvey Moss?«fragte Spicer nach einem Blick auf seine Geburtsurkunde.

«Ja. Gefällt Ihnen Harvey nicht?«

«Jetzt schon.«

«Du siehst aus wie ein Harvey«, sagte Beech.

«Und wer bist du?«

«James Nunley.«

«Freut mich sehr, dich kennen zu lernen, James.«

Argrow verzog keine Miene und wirkte so angespannt wie zuvor.»Ich muss jetzt Ihre Reiseziele wissen. Die Leute in Washington wollen, dass Sie das Land so schnell wie möglich verlassen.«

«Ich muss die Flugverbindungen nach London erfragen «, sagte Yarber.

«Das haben wir bereits getan. In zwei Stunden geht eine Maschine von Jacksonville nach Atlanta.

Von dort können Sie heute Abend um neunzehn Uhr zehn nach Heathrow fliegen. Sie werden morgen früh in London sein.«

«Können Sie mir einen Platz reservieren?«

«Ist bereits geschehen. Erster Klasse.«

Yarber schloss die Augen und lächelte.

«Und was ist mit Ihnen?«fragte Argrow und sah die beiden anderen an.

«Mir gefällt's hier ganz gut«, sagte Spicer.

«Tut mir Leid. Das gehört zu unserer Abmachung.«

«Wir nehmen den gleichen Flug morgen Nachmittag«, sagte Beech.»Vorausgesetzt, Mr. Yarber meldet uns, dass alles in Ordnung ist.«

«Wollen Sie, dass wir die Reservierungen vornehmen?«

«Ja, bitte.«

Chap trat geräuschlos ein, nahm den Kissenbezug mit den Unterlagen an sich und verließ den Raum wieder.

«Dann wollen wir mal die Fotos machen«, sagte Argrow.

Finn Yarber, der jetzt William McCoy aus San Jose, Kalifornien, war, flog ohne besondere Zwischenfälle nach Atlanta. Dort schlenderte er eine Stunde lang durch den Flughafen, fuhr mit der Monorailbahn, die die Terminals verband, und genoss es, unter Tausenden von Menschen zu sein, die es eilig hatten.

Sein Sitz in der ersten Klasse war mit Leder bezogen und ließ sich in Liegestellung bringen. Nach zwei Gläsern Champagner schloss Yarber die Augen und begann zu träumen. Er wollte nicht einschlafen, denn er fürchtete sich vor dem Erwachen. Er war sicher, dass er dann wieder in seiner Zelle sein, an die Decke starren und seine verbleibenden Tage im Gefängnis zählen würde.

Von einer Telefonzelle neben dem Beach Java Cafe rief Spicer seine Frau an. Anfangs dachte sie, es handle sich um einen schlechten Scherz, und wollte die Gebühren nicht übernehmen.»Wer ist da?«fragte sie.

«Ich bin's, Schatz. Ich bin nicht mehr im Knast.«

«Joe Roy?«

«Ja. Hör zu — ich bin draußen. Bist du noch da?«»Ich glaube schon. Wo bist du?«

«Ich wohne in einem Hotel in Jacksonville, Florida. Ich bin heute Morgen entlassen worden.«»Entlassen? Aber wie — «

«Stell jetzt keine Fragen — ich erkläre dir alles später. Ich fliege morgen nach London. Geh gleich morgen früh zum Postamt und stell einen Antrag auf einen Pass.«

«London? Hast du London gesagt?«

«Ja.«

«In England?«

«Genau. Ich muss für eine Weile dorthin. Das gehört zu der Abmachung.«

«Für wie lange?«

«Zwei Jahre. Hör zu — ich weiß, das klingt unglaublich, aber ich bin frei, und wir werden jetzt eine Zeitlang im Ausland leben.«

«Was für eine Abmachung? Bist du geflohen, Joe Roy? Du hast gesagt, das wäre ganz einfach.«»Nein. Ich bin entlassen worden.«

«Aber du hattest noch mehr als zwanzig Monate abzusitzen.«

«Jetzt nicht mehr. Stell morgen einen Antrag auf einen Pass und tu, was ich dir sage.«

«Wozu brauche ich einen Pass?«

«Damit wir uns in Europa treffen können.«

«Und da müssen wir ein paar Jahre bleiben?«

«Zwei Jahre, ja.«

«Aber Mutter ist krank. Ich kann sie nicht einfach allein lassen.«

Er dachte an einige Dinge, die er über ihre Mutter hätte sagen können, schwieg aber, holte tief Luft und sah die Straße hinunter.»Ich muss weg«, sagte er dann.»Ich habe keine andere Wahl.«

«Komm nach Hause.«

«Das kann ich nicht. Ich erklär's dir später.«

«Das wäre schön.«

«Ich rufe dich morgen an.«

Beech und Spicer aßen Fisch in einem Restaurant, in dem die Mehrzahl der Gäste weit jünger war als sie. Dann schlenderten sie ein wenig herum und landeten schließlich in Pete's Bar and Grill, wo sie sich ein Baseballspiel im Fernsehen ansahen und den Trubel genossen.

Yarber war irgendwo über dem Atlantik, auf der Spur ihres Geldes.

Der Zollbeamte in Heathrow warf nur einen kurzen Blick auf Yarbers Pass, der ein Wunderwerk der

Fälschungskunst war. Der Pass trug deutliche Gebrauchsspuren und hatte Mr. William McCoy rund um die Welt begleitet. Aaron Lake hatte tatsächlich mächtige Freunde.

Yarber nahm ein Taxi zum Hotel Basil Street in Knightsbridge, wo er das kleinste verfügbare Zimmer nahm und bar bezahlte. Er und Beech hatten dieses Hotel beim Blättern in einem Reiseführer aufs Geratewohl ausgesucht. Es war altmodisch, voll gestopft mit Antiquitäten und erstreckte sich über mehrere Etagen. In dem kleinen Speisesaal in der ersten Etage bestellte er sich Kaffee, Spiegeleier und Blutwurst zum Frühstück. Anschließend machte er einen Spaziergang. Um zehn Uhr hielt sein Taxi vor dem Gebäude der Metropolitan Trust Bank in der City. Der Dame am Empfang gefiel seine Aufmachung nicht — er trug Jeans und einen Pullover —, doch als sie merkte, dass er Amerikaner war, zuckte sie die Schultern und schien sich damit abzufinden.

Man ließ ihn eine Stunde lang warten, doch das machte ihm nichts aus. Er war nervös, ließ es sich aber nicht anmerken. Wenn es sein musste, würde er tage-, wochen-, monatelang warten. Er hatte gelernt, geduldig zu sein. Mr. McGregor, der die Überweisung bearbeitet hatte, bat ihn schließlich in sein Büro, entschuldigte sich für die Verzögerung und sagte, das Geld sei gerade eingetroffen. Die sechs Millionen Dollar hatten den Atlantik sicher überquert und befanden sich nun auf britischem Boden.

Allerdings nicht lange.»Ich möchte das Geld in die Schweiz überweisen«, sagte Yarber. Er besaß nicht nur das nötige Selbstbewusstsein, sondern mittlerweile auch die erforderliche Erfahrung.

Am selben Nachmittag flogen Beech und Spicer nach Atlanta. Wie Yarber schlenderten sie, während sie auf den Anschlussflug nach London warteten, durch das Flughafengebäude. Im Flugzeug nahmen sie ihre Plätze in der ersten Klasse ein, genossen ein ausgedehntes Mahl mit den dazugehörigen Getränken, sahen sich einen Film an und versuchten zu schlafen.

Zu ihrer Überraschung erwartete Yarber sie in Heathrow. Er überbrachte ihnen die erfreuliche Nachricht, dass das Geld bereits in die Schweiz weitergeleitet worden war. Die nächste Überraschung war sein Vorschlag, sofort weiterzureisen.

«Die wissen, dass wir hier sind«, sagte er, während sie in einer Flughafenbar Kaffee tranken.»Wir müssen sie abschütteln.«

«Glaubst du, dass sie uns verfolgen?«fragte Beech.

«Damit müssen wir rechnen.«

«Aber warum?«fragte Spicer.

Sie diskutierten den Plan eine halbe Stunde lang und machten sich daran, eine Wahl zu treffen. Schließlich entschieden sie sich für einen Alitalia-Flug nach Rom. Selbstverständlich erster Klasse.

«Spricht man in Rom englisch?«fragte Spicer beim Einchecken.

«Eigentlich spricht man dort italienisch«, sagte Yarber.

«Meinst du, der Papst wird uns empfangen?«

«Der ist wahrscheinlich zu beschäftigt.«

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