9

»Wir haben es geschafft«, sagte Gwen trocken, nachdem sie die Einfahrt passiert hatten. »Sie sind hinter uns her.«

»Ob sie uns gesehen haben?«

»Anzunehmen. Wir fuhren in Festbeleuchtung an dem offenen Tor vorbei. Das müssen sie einfach gesehen haben.«

Sie schwebten immer noch durch undurchdringliche Dunkelheit, und über ihren Köpfen rauschten die Blätter.

»Sollen wir unser Heil in der Flucht suchen?« fragte Dirk.


»Ihr Fahrzeug hat funktionierende Laser, unseres nicht.

Als Fluchtweg bleibt uns nur der äußere Boulevard. Der Braithgleiter wird uns hinaufjagen, und über uns warten irgendwo die Jäger. Wir haben nur zwei, höchstens drei getötet. Es sind viel mehr. Wir sitzen in der Falle.« Dirk dachte angestrengt nach. »Wir können den Kreisel noch einmal durchfahren und durch die Ausfahrt schlüpfen, nachdem sie hereingefahren sind.«

»Ja, dieser Versuch liegt wohl nahe. Zu nahe, fürchte ich. Draußen wird ein weiterer Gleiter auf uns warten, da bin ich sicher. Ich habe eine bessere Idee.« Während sie sprach, bremste sie den Manta ab und brachte ihn zum Stehen. Direkt vor ihnen gabelte sich die Straße im leuchtenden Scheinwerferlicht. Links setzte sich der Kreisel fort, rechts begann der äußere Boulevard seinen zwei Kilometer langen Aufstieg. Gwen schaltete das Licht aus, und Dunkelheit hüllte sie ein. Als Dirk etwas sagen wollte, brachte sie ihn mit einem scharfen »Psssscht!« zum Schweigen.

Die Welt war so tiefschwarz, als wäre er blind geworden. Gwen, der Gleiter, Challenge — alles war verschwunden. Er hörte, wie die Blätter sich gegenseitig berührten und glaubte auch den anderen Gleiter, die Braiths, zu hören. Aber das mußte ein Hirngespinst sein, denn mit Sicherheit hätte er zuerst die Lichter der Maschine gesehen. Plötzlich fühlte er ein leichtes Schaukeln, als säße er in einem kleinen Boot. Etwas Hartes berührte seinen Arm. Dirk fuhr zusammen. Dann fuhr etwas kratzend durch sein Gesicht. Blätter.

Sie stiegen auf, direkt in das tiefhängende, dichte Laubwerk des riesigen Emerelibaums hinein.

Ein Zweig, zur Seite gedrückt und dann zurückfedernd, schlug ihm heftig ins Gesicht. Seine Wange blutete. Um ihn herum — überall Blätter. Es knackte, und schließlich gab es einen sanften Stoß. Die Schwingen des Gleiters waren gegen einen dicken Ast gestoßen. Höher konnten sie nicht hinaufsteigen. Blind, eingehüllt in Dunkelheit und unsichtbares Blätterwerk, schwebten sie auf der Stelle. Wenige Augenblicke später schoben sich unter ihnen Lichtkegel vorbei, bogen nach rechts ab, den Boulevard hinauf. Der Gleiter war kaum verschwunden, da kam ein anderer von links in Sicht, bog scharf ab und folgte dem ersten. Dirk war sehr dankbar, daß Gwen seinen Vorschlag verworfen hatte. Endlos lange schwebten sie zwischen den Blättern, aber es erschienen keine anderen Gleiter. Schließlich ließ Gwen die Maschine zur Straße hinabsinken. »Wir haben sie nicht für immer abgehängt«, sagte sie. »Wenn ihre Falle sich schließt und wir nicht drin sind, werden sie zu grübeln anfangen.«

Dirk wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes über die nasse Stelle auf der Wange. Als seine Finger ihm schließlich verrieten, daß der dünne Riß zu verkrusten begann, wandte er sich in die Richtung, aus der Gwen sprach. Er war immer noch blind. »Also jagen sie uns weiter«, sagte er. »Das ist gut. Während sie sich überlegen, wohin wir geflogen sein könnten, werden sie keine Emereli töten. Und Jaan und Garse müßten bald hier sein. Ich glaube, nun ist es an der Zeit, daß wir uns verstecken.«

»Verstecken oder flüchten«, kam Gwens Antwort aus der Dunkelheit. Sie hatte die Scheinwerfer des Gleiters nicht wieder angeschaltet. »Mir kommt da ein Gedanke«, sagte Dirk. Er berührte noch einmal seine Wange. Dann fuhr er befriedigt fort: »Als wir im Kreisel fuhren, habe ich etwas bemerkt. Eine Rampe mit einem Schild. Ich habe sie nur ganz kurz im Scheinwerferlicht gesehen, aber sie hat mich an etwas erinnert. Auf Worlorn gibt es ein U-Bahn-Netz zwischen den Städten, nicht wahr?«

»Das stimmt«, sagte Gwen. »Aber die Züge sind verschwunden.« »Und wenn schon! Ich weiß, daß die Züge nicht mehr fahren, aber was ist mit den Tunneln?

Hat man sie zugeschüttet?« »Ich weiß nicht. Das glaube ich kaum.« Plötzlich leuchteten die Scheinwerfer des Gleiters wieder auf, und Dirk mußte die Augen wegen der plötzlichen Helligkeit zusammenkneifen. »Zeig mir dieses Hinweisschild«, sagte Gwen. Und wieder fuhren sie den Kreisel ab. Wie Dirk vermutet hatte, handelte es sich um einen Eingang zum U-Bahn-System. Eine flache Rampe rührte in die Dunkelheit hinab. Gwen stoppte ab und ließ den Gleiter ein paar Meter davon entfernt in der Schwebe, während sie mit den Scheinwerfern das Schild suchte. »Wir werden den Gleiter zurücklassen müssen,« sagte sie endlich. »Unsere einzige Waffe.« »Ja«, sagte Dirk. Der Eingang war für den grauen Metallmanta viel zu schmal, die Erbauer der U-Bahn hatten augenscheinlich nicht damit gerechnet, daß einmal jemand durch ihre Tunnel zu fliegen wünschte. »Aber vielleicht ist das gerade gut. Wir können Challenge nicht verlassen, und in der Stadt schränkt der Gleiter unsere Mobilität ganz entschieden ein. Stimmt’s?« Als Gwen nicht sofort antwortete, rieb er sich müde die Augen.

»Mir kommt es ganz logisch vor, aber vielleicht kann ich nicht mehr so klar denken. Ich bin erschöpft und habe wahrscheinlich Angst davor, mir das einzugestehen. Ich habe überall blaue Flecken und Schürfwunden und brauche dringend eine Mütze voll Schlaf.« »Nun gut«, sagte Gwen. »Die U-Bahn ist einen Versuch wert. Wir, können einige Kilometer zwischen uns und Challenge bringen und dann ein wenig schlafen. Ich glaube nicht, daß die Braiths uns dort unten vermuten und in den Tunneln jagen werden.« »Es geht also klar«, sagte Dirk.

Sie gingen sehr methodisch vor. Gwen setzte den Gleiter neben dem Zugang zur U-Bahn ab und nahm den Sensorenkoffer und die Geländeausrüstung vom Rücksitz. Auch an die Himmelsflitzer dachten sie und schlüpften in die Flugstiefel. Ihre anderen Stiefel ließen sie zurück. Bei dem Werkzeug unter der Haube des Banshee befand sich auch eine etwa fünfzig Zentimeter lange Taschenlampe aus Metall und Plastik, die ihnen bei ihrem Weg von großem Nutzen sein würde. Als sie zum Aufbruch bereit waren, behandelte Gwen sie beide noch einmal mit dem Antigeruchsspray. Dann mußte Dirk am Eingang warten, während sie den Gleiter halb um den Kreisel flog und am Straßenrand, nicht weit von einem größeren Korridor der ersten Ebene, stehenließ. Sollten die Braiths doch denken, sie hätten sich in das innere Ganglabyrinth von Challenge abgesetzt, dann würde ihnen eine feine, lange Jagd bevorstehen.

Dirk wartete im Dunkeln, während Gwen den langen Weg um den Baum zurückging und sich dabei mit der Taschenlampe den Weg leuchtete. Dann gingen sie gemeinsam die Rampe zur verlassenen U-Bahn-Station hinab. Dirk hatte sich den Abstieg kürzer vorgestellt. Er schätzte, daß sie sich schon wenigstens zwei Stockwerke unter der Oberfläche befanden. Schweigend folgen sie ihrem eigenen Licht, das von eintönigen, pastellblauen Wänden reflektiert wurde. Er dachte an Bretan Braith, der sich etwa fünfzig Etagen unter ihnen aufhielt. Ihn durchzuckte der verrückte Gedanke, daß in den Tunneln die Energie nicht abgeschaltet worden war, da sie sich schließlich außerhalb der Emerelistadt und damit auch jenseits von Bretans Machtbereich befanden. Aber natürlich war das U-Bahn-System schon lange vor der Ankunft von Bretan und der anderen Braiths auf Worlorn außer Betrieb gesetzt worden. Außer einer großen, hallenden Bahnstation, von der aus kreisrunde Wurmlöcher im Gestein in die Unendlichkeit hinausführten, fanden sie nichts vor. Im Dunkeln schien die Unendlichkeit gar nicht so weit zu sein. Im Bahnhof war es still, und diese Stille schien viel eher vom Tode herzurühren als die Lautlosigkeit auf den Korridoren von Challenge. Es kam ihnen vor, als gingen sie durch eine Gruft. Überall lag Staub. Die Stimme hatte in Challenge keinen Staub zugelassen, aber die unterirdischen Gänge gehörten nicht zu Challenge, waren nicht einmal von pi-Emerel erbaut worden. Ihre Schritte dröhnten erschreckend laut.

Bevor sie sich in einen der Tunnel begaben, prägte sich Gwen die Netzkarte genau ein. »Hier unten gibt es zwei Hauptstrecken«, sagte sie mit leiser Stimme. »Die eine Linie, eine Rundstrecke, verbindet alle Festivalstädte untereinander. Wie es scheint, fuhren die Züge in beide Richtungen. Die andere Strecke diente als Zubringer zwischen Challenge und dem Raumhafen. Jede Stadt hatte ihre eigenen Fahrzeuge im Pendelverkehr zum Raumhafen. Also, welchen Weg wollen wir nehmen?«

Dirk war erschöpft und gereizt. »Ist mir gleich«, sagte er.

»Welchen Unterschied macht es schon? Wir können es ohnehin nicht bis zur nächsten Stadt schaffen. Selbst für die Himmelsflitzer sind die Entfernungen zu groß.«

Gwen sah auf die Karte und nickte gedankenvoll.

»Zweihundertdreißig Kilometer bis Esvoch und dreihundertachtzig bis Kryne Lamiya, wenn wir die entgegengesetzte Richtung nehmen. Zum Raumhafen ist es noch weiter. Ich glaube, du hast recht.« Sie zuckte die Schultern, wandte sich um und wählte aufs Geratewohl eine Richtung. »Hier entlang«, sagte sie.

Sie wollten so schnell wie möglich eine größere Entfernung zurücklegen. Deshalb setzten sie sich auf den Bahnsteigrand und befestigten die Rechtecke aus Metallgewebe an ihren Flugstiefeln. Dann erhoben sie sich und begannen langsam in die von Gwen gezeigte Richtung zu fliegen. Sie flog voraus und blieb nur zwei Handbreit über dem Boden. Während sie die Lampe in der Rechten hielt, glitt ihre linke Hand leicht über die Tunnelwand. Dirk blieb hinter ihr und flog etwas höher, damit er ihr über die Schulter sehen konnte. Der Tunnel, den sie sich ausgesucht hatten, beschrieb eine lange sanfte Kurve und krümmte sich kaum merklich nach links. Es gab nichts zu sehen, das eine Unterhaltung gerechtfertigt hätte. Manchmal verlor Dirk völlig das Gefühl, sich zu bewegen, so gleichmäßig und eintönig verlief ihr Flug. Dann wiederum spürte er überdeutlich, daß er und Gwen in einem zeitlosen Gefängnis dahintrieben, während die Wände unablässig vorüberkrochen. Aber schließlich, als sie sich gut drei Kilometer von Challenge entfernt hatten, landeten sie auf dem Tunnelboden. Bis dahin hatte keiner von beiden etwas gesagt. Gwen lehnte die Taschenlampe gegen die grob behauene Wand. Sie setzten sich in den Staub und öffneten ihre Stiefel. Schweigend legte sie die Geländeausrüstung ab und benutzte den Packen als Kopfkissen. Kaum hatte sie den Kopf darauf gelegt, da war sie auch schon eingeschlafen. Er war allein. Sie hatte ihn verlassen.

Obwohl seine eigene Müdigkeit zunahm, war es Dirk unmöglich, sofort einzuschlafen. Stattdessen setzte er sich an den Rand des kleinen, blassen Lichtkreises — Gwen hatte die Lampe nicht ausgeschaltet — und sah sie an. Er beobachtete das regelmäßige Heben und Senken des Brustkorbes, das Spiel der Schatten auf Wangen und Haar, wenn sie sich im Schlaf bewegte. Ihm fiel auf, wie weit entfernt sie von ihm lag, und er erinnerte sich daran, daß sie sich seit Challenge nicht mehr berührt oder miteinander gesprochen hatten. Aber seine Gedanken waren zu sehr von Angst umnebelt, als daß er sich auf diese Tatsache konzentrieren konnte. Das besorgten schon seine Gefühle für ihn. Auf seiner Brust lastete ein schweres Gewicht, und auch die Dunkelheit in dieser staubigen Höhle unter der Oberfläche des Planeten bedrückte ihn stark. Schließlich knipste er die Lampe aus und mit ihr seine Sicht auf Jenny. Er versuchte zu schlafen, was ihm auch nach einiger Zeit gelang. Aber der Schlaf brachte Alpträume mit sich. Er träumte, mit Gwen zusammen zu sein, sie eng umschlungen zu halten und sie zu küssen. Aber als seine Lippen die ihren berührten, war es plötzlich nicht mehr Gwen. Es war Bretan, den er küßte. Bretan, dessen Lippen trocken und hart waren, dessen Glühsteinauge in der Finsternis scheußlich nahe funkelte. Und danach rannte er wieder.

Es ging endlose Tunnel entlang, in das Nichts hinein.

Aber hinter sich hörte er Wasser rauschen, und als er über die Schulter blickte, glaubte er einen einsamen Kahnfahrer zu sehen, der seinen leeren Lastkahn voranstakte. Der Kahn glitt auf öligem, schwarzem Wasser dahin, und Dirk lief über trockenes Gestein -aber das schien im Traum keine große Rolle zu spielen. Er rannte und rannte, aber der Kahn kam immer näher, und endlich konnte er sehen, daß der Kahnfahrer kein Gesicht hatte, überhaupt kein Gesicht. Danach folgte nichts mehr, und auch später konnte sich Dirk an keinen weiteren Traum erinnern.

Wo kein Licht sein konnte, schien ein helles Licht. Es drang selbst durch seine geschlossenen Augenlider und seinen Schlummer: ein schaukelnder, gelbstrahlender Kreis, ganz nahe, dann wieder weiter weg. Als es sich zum erstenmal in seinen sauer verdienten Schlaf drängte, kam es Dirk nur undeutlich zu Bewußtsein. Er murmelte etwas und rollte sich weg. Neben ihm tuschelten Stimmen, und jemand lachte kurz und hell auf. Dirk ignorierte alles.

Dann traten sie ziemlich brutal nach ihm, mitten ins Gesicht. Sein Kopf flog zur Seite, und der gnädige Schlaf machte verschwommenem Schmerz Platz. Verwirrt und ohne Orientierung rappelte er sich zu einer sitzenden Haltung auf. Seine Schläfe pochte. Alles war viel zu hell.

Er riß den Unterarm vor das Gesicht, um sich vor dem Licht und weiteren Tritten zu schützen. Wieder ein Lachen. Langsam nahm die Welt Formen an.

Natürlich waren es Braiths. Einer von ihnen, ein dünner, knochiger Mann mit schwarzem Kraushaar, stand auf der anderen Seite des Tunnels und hielt Gwen mit einer Hand fest. In der anderen trug er eine Laserpistole. Ein weiterer Laser, ein Gewehr, baumelte von seiner Schulter herab. Gwens Arme waren auf dem Rücken zusammengebunden. Sie stand schweigend und mit gesenktem Kopf da.

Der über Dirk stehende Braith hatte seinen Laser nicht gezogen, sondern hielt eine starke Handlampe in der Linken, die den U-Bahn-Tunnel mit gelbem Licht füllte.

Der gleißende Licht machte es Dirk schwer, den Mann genau zu erkennen. Aber er war groß wie ein Kavalare, ziemlich schwer und kahl wie ein Ei.

»Endlich geruhst du, uns deine Aufmerksamkeit zu schenken«, sagte der Mann mit der Lampe. Der andere lachte dasselbe Lachen, das Dirk zuvor schon gehört hatte.

Dirk erhob sich mühevoll und trat einen Schritt zurück, fort von den Kavalaren. Er lehnte sich gegen die Tunnelwand und versuchte sich zu sammeln, aber sein Schädel schien vor Schmerz zu explodieren. Die Szene verschwamm. Der unverschämt helle Handscheinwerfer fraß sich schmerzend in seine Augen.

»Du hast das Wild verletzt, Pyr«, sagte der Braith auf der anderen Tunnelseite.

»Nicht allzusehr, möchte ich hoffen«, antwortete der Schwergewichtige.

»Werdet ihr mich töten?« fragte Dirk. Er brachte die Worte mit erstaunlicher Leichtigkeit heraus, wenn man bedachte, welchen Sinn sie ergaben. Endlich begann er sich von dem Tritt zu erholen. Gwen hob den Kopf und sagte mit hoffnungsloser Stimme: »Am Ende werden sie dich töten. Aber es wird kein leichtes Ende sein. Es tut mir leid, Dirk.«

»Schweig, betheyn- Hündin«, sagte der massige Mann, den sein Begleiter Pyr nannte. Dirk erinnerte sich schwach daran, diesen Namen schon einmal gehört zu haben. Der Mann warf ihr beim Sprechen einen abfälligen Seitenblick zu, dann blickte er wieder auf Dirk.

»Was will sie damit sagen?« fragte Dirk nervös. Er preßte sich eng gegen die Wand und versuchte unauffällig die Muskeln zu spannen. Pyr stand keinen Meter von ihm entfernt. Der Braith wirkte dreist und unaufmerksam, aber Dirk mußte sich fragen, inwieweit seine Beobachtung zutraf. Der Mann hielt den Scheinwerfer mit der linken Hand über dem Kopf, aber in der Rechten trug er etwas anderes — einen Stab von etwa einem Meter Länge. Dieser bestand aus schwarzem Holz und hatte einen Hartholzknauf an dem einen sowie eine kurze Klinge am anderen Ende. Er hielt ihn lässig in der Mitte und klopfte damit rhythmisch gegen sein Bein.

»Du hast uns eine feurige Jagd geliefert, Spottmensch«, sagte Pyr. »Und das sage ich nicht nur leichthin. Wenige kommen mir in der traditionellen Hochjagd gleich. Und keiner übertrifft mich. Selbst Lorimaar Hoch-Braith Arkellor hat nur die Hälfte meiner Trophäensammlung aufzuweisen. Deshalb ist es die Wahrheit, wenn ich behaupte, diese Jagd sei außergewöhnlich gewesen. Ich bin glücklich, daß sie noch nicht zu Ende ist.«

»Was?« entfuhr es Dirk. »Noch nicht zu Ende?« Pyr war so nahe, daß er sich fragte, ob er ihn zwischen sich und den anderen, den mit dem Laser, bringen und ihm vielleicht den klingenbewehrten Stab entreißen konnte.

Möglicherweise konnte er sogar Pyrs Feuerwaffe aus dem Halfter ziehen.

»Es ist weder ehrenhaft noch besonders sportlich, einen schlafenden Spottmenschen gefangenzunehmen. Du wirst noch einmal laufen, Dirk t’Larien.«

»Er macht dich zu seinem persönlichen korariel«, sagte Gwen und sah die Braiths mit kalkulierter Herausforderung an. »Außer ihm und seinem teyn wird dich niemand jagen dürfen.« Pyr wandte sich ihr erneut zu. »Schweig, habe ich gesagt!« Sie lachte ihm ins Gesicht. »Da ich Pyr kenne«, fuhr sie fort, »wird es eine unverfälscht traditionelle Jagd werden. Du wirst in den Wäldern losgelassen, wahrscheinlich nackt. Die beiden hier werden ihre Laser und Gleiter zurücklassen und dir mit Messern, Wurfschwertern und Hunden folgen.


Nachdem sie mich meinen Herren ausgeliefert haben, natürlich.«

Pyr machte ein finsteres Gesicht. Der andere Braith hob seine Pistole und schlug Gwen damit quer über den Mund.

Dirk konzentrierte sich, zögerte einen Augenblick zu lange und sprang.

Selbst die Entfernung von einem Meter war zu groß.

Pyr lächelte, als sein Kopf herumfuhr. Mit erschreckender Geschwindigkeit kam der Stab hoch, und der Knauf traf Dirk in die Magengrube. Er taumelte, krümmte sich zusammen und versuchte, irgendwie weiterzukommen. Pyr trat spielerisch zurück, holte mit seinem Stock aus und traf Dirk in der Nierengegend. Die Welt verschwand in einem roten Nebel. Nachdem er zusammengebrochen war, bemerkte er kaum, daß Pyr über ihm stand. Dann schlug der Braith ein drittes Mal zu, führte einen fast beiläufigen Schlag seitlich gegen den Kopf. Danach war nichts mehr.

Schmerzen. Das war sein erster Gedanke. Es war auch sein einziger Gedanke. Sein Kopf drehte sich, klopfte und dröhnte in seltsamem Rhythmus. Sein Magen tat ebenfalls weh, und darunter fühlte sich alles taub an.

Schmerz und Schwindelgefühl hatten Dirks Welt erobert.

Lange Zeit konnte sich nichts neben ihnen behaupten.

Schritt für Schritt kehrte jedoch ein verwaschenes Stück Bewußtsein zurück. Er begann, Dinge zu bemerken.

Zuerst den Schmerz — er schwoll an und flaute ab. Er kam und ging und kam und ging, immer auf und ab.

Auch sein Körper bewegte sich in diesem auf und ab schwellenden Rhythmus, wie er schließlich erkannte. Er lag auf einem Ding, das getragen oder gezogen wurde. Er bewegte die Hände, versuchte es jedenfalls. Es war nicht leicht. Der Schmerz schien alle normalen Wahrneh-mungen wegzuschwemmen. Sein Mund war voller Blut.

In seinen brennenden Ohren klingelte und summte es.

Ja, er wurde getragen. Da waren Stimmen, er konnte Stimmen sprechen und brummen hören. Was gesagt wurde, verstand er nicht. Irgendwo vor ihm tanzte ein Licht, sonst gab es nur grauen Nebel. Ganz langsam ließ das Brummen nach. Schließlich drangen die einzelnen Wörter bis an sein Bewußtsein vor.

»… nicht gerade glücklich«, sagte jemand, den er nicht kannte. Jedenfalls glaubte er nicht, ihn zu kennen. Es war schwer zu sagen. Alles war so weit entfernt, und er schaukelte auf und ab. Der Schmerz kam und ging, kam und ging, kam und ging.

»Ja«, ließ eine andere Stimme verlauten. Sie klang tief, knapp und fest.

Wieder Brummen — mehrere Stimmen gleichzeitig.

Dirk bekam nichts von dem Inhalt mit.

Dann gebot ein Mann den anderen zu schweigen.

»Genug«, sagte er. Seine Stimme schien noch weiter entfernt als die ersten beiden, sie kam irgendwie von vorn, aus dem tanzenden Licht. Pyr? Pyr. »Ich fürchte Bretan Braith Lantry nicht, Roseph. Ihr vergeßt, wer ich bin. Als Bretan Braith noch an den Titten der eyn-kheti saugte, hatte ich in unzugänglichen Gegenden schon drei Köpfe erbeutet. Nach allen alten Rechten gehört der Spottmensch mir.«

»Gewiß«, erwiderte die erste der unbekannten Stimmen. »Falls Ihr ihn in den Tunneln zur Strecke gebracht hättet, würde keiner Euer Recht in Frage stellen.

Aber Ihr tatet es nicht.« »Ich wünsche eine reine Jagd der ältesten Art.« Jemand sagte etwas auf altkavalarisch.


Gelächter folgte. »Viele Male haben wir in unserer Jugend zusammen gejagt,« sagte die fremde Stimme.

»Hättet Ihr nur anders über Frauen gedacht, dann wären wir leicht teyn-\md-teyn geworden. Ich will Euch nicht ins Unrecht setzen. Nein. Aber Bretan Braith Lantry will diesen Mann so sehr …«

»Er ist kein Mann, er ist ein Spottmensch. Ihr habt ihn selbst dazu ernannt, Roseph. Was Bretan Braith will, ist mir egal.« »Ich habe ihn zum Spottmenschen erklärt, und das ist er auch. Für Euch und mich ist er nur einer unter vielen. Wir können die Puddingkinder jagen, die Emereli und andere. Ihr braucht ihn nicht, Pyr. Bretan Braith meint, daß der Mann, den er herausgefordert hat, kein Mann ist.«

»Das ist wahr, aber es ist noch nicht alles. T’Larien ist eine besondere Sorte Wild. Zwei unserer kethi wurden durch seine Hand getötet, und Koraat liegt mit gebrochenem Rückgrat im Sterben. Kein Spottmensch hat das jemals fertiggebracht. Ich werde ihn nehmen, wie es mir zusteht. Ich habe ihn gefunden, ich allein.«

»Ja«, sagte die zweite der neuen Stimmen, jene tiefe, abgehackte. »Das ist allerdings wahr, Pyr. Wie habt Ihr ihn entdeckt?« Pyr nutzte die Gelegenheit zum Prahlen.

»Ich ließ mich durch den Gleiter nicht in die Irre führen wie Ihr und Ihr, ja selbst Lorimaar. Sie waren schlau, dieser Spottmensch und die betheyn-Schlampe, die mit ihm flüchtete. Sie wollten den Wagen nicht wie einen Wegweiser in die Richtung zeigen lassen, in die sie verschwunden waren. Als Ihr mit Euren Hunden durch den Korridor ausschwärmtet, begannen mein teyn und ich damit, die Allee im Licht des Scheinwerfers nach Spuren abzusuchen. Ich wußte, daß die Hunde dabei nutzlos waren. Wir brauchten sie nicht. Ich bin ein besserer Spurensucher als jeder Hund oder Hundeführer. Ich habe Spottmenschen über die blanken Felsen der Lameraanberge verfolgt und durch geborstene Totenstädte gejagt. Selbst in den aufgegebenen Festhalten Taals, Bronzefausts und des Glühsteinberges habe ich sie aufgestöbert. Bei diesen beiden war es bedauerlich einfach. Wir untersuchten jeden Gang ein paar Meter weit und gingen dann zum nächsten weiter.

So fanden wir die Spur. Zuerst Schleifspuren auf dem Boden vor einer Rampe, die zu den Tunneln hinabführte, dann Fußabdrücke im Staub. Natürlich verschwand die Spur, als sie ihre Flugspielzeuge anlegten, aber zu dieser Zeit hatten wir nur noch zwei mögliche Richtungen zur Auswahl. Ich befürchtete, sie könnten den ganzen Weg bis Esvoch oder Kryne Lamiya fliegen, aber das war nicht der Fall. Wir verloren viel Zeit und mußten einen langen Weg zurücklegen, aber wir fingen sie.«

Dirk war nun fast munter, obwohl sein Bewußtsein noch immer von Schmerz umwabert wurde. Er bezweifelte, daß sein Körper auf die Befehle seines Gehirns reagieren würde. Wenigstens konnte er jetzt ohne Trübung sehen. Voraus ging Pyr Braith, den Scheinwerfer in der Hand. Er sprach mit einem kleineren, dunkelrot und weiß gekleideten Mann neben sich, bei dem es sich um Roseph, den Schiedsrichter der vertagten Duelle handeln mußte. Zwischen ihnen ging Gwen. Ihre Hände waren noch immer gebunden. Sie gab keinen Ton von sich. Dirk fragte sich, ob man sie geknebelt hatte, aber das war unmöglich zu beantworten, da er nur ihren Rücken sah.

Er lag auf einer Art von Tragbahre und wurde mit jedem Schritt durchgeschüttelt. Ein weiterer Braith in Dunkelrot und Weiß trug sie am anderen Ende, seine grobknochigen Fäuste umspannten die hölzernen Stangen. Pyrs theyn befand sich wahrscheinlich hinter ihm und hielt die Tragbahre an ihrem anderen Ende. Sie hatten den Tunnel, der sich endlos hinzuziehen schien, noch nicht verlassen. Dirk konnte nur schwer abschätzen, wie lange er bewußtlos gewesen war. Aber es mußte sich schon um eine beträchtliche Zeitspanne handeln, denn als er Pyr anzugreifen versucht hatte, war von Roseph und der Bahre nichts zu sehen gewesen. Sicher hatten seine Bezwinger ihre Festhaltbrüder zu Hilfe gerufen und im Tunnel auf sie gewartet. Keiner schien Notiz davon zu nehmen, daß Dirk die Augen geöffnet hatte. Oder vielleicht hatten sie es bemerkt und kümmerten sich einfach nicht darum. Sein Zustand ließ keine großen Taten zu, er konnte höchstens um Hilfe schreien. Pyr und Roseph setzten ihr Gespräch fort, in das sich die beiden anderen von Zeit zu Zeit einmischten. Dirk versuchte mitzuhören, aber die Schmerzen machten es ihm nicht leicht. Und was sie sagten, war für Gwen und ihn nur von sehr geringem Wert. Roseph schien Pyr hauptsächlich davor zu warnen, daß Bretan Braith sehr ungehalten werden könnte, falls Pyr darauf bestand, Dirk selbst zu töten. Pyr gab sich gleichgültig. Seinen Äußerungen war klar zu entnehmen, daß er Bretan, der zwei Generationen jünger war als der Rest von ihnen — und dem man seiner Meinung nach deshalb lieber argwöhnisch begegnen sollte — wenig Respekt entgegenbrachte. Während des ganzen Gesprächs erwähnten die Jäger die Eisenjades mit keinem Wort. Dirk schloß daraus, daß Jaan und Garse noch nicht in Challenge angekommen waren oder zumindest diese vier Kavalaren noch nichts davon wußten. Nach einer Weile gab er das anstrengende Mithören auf und ließ sich in einen Halbschlaf zurücksinken. Die Stimmen verschwammen wieder, waren aber noch lange Zeit hörbar. Schließlich verstummten sie jedoch. Ein Ende der Tragbahre knallte zu Boden, und er wurde unsanft geweckt. Starke Hände ergriffen ihn unter den Armen und hoben ihn hoch.

Sie hatten den Bahnhof unter Challenge erreicht, und Pyrs teyn zog ihn auf den Bahnsteig hinauf. Er machte keine Anstalten, ihm dabei zu helfen, sondern gab sich so leblos wie er konnte und ließ sich wie ein Stück totes Fleisch tragen.

Dann lag er wieder auf der Bahre, und sie trugen ihn die Rampe hinauf in die Stadt. Auf dem Bahnsteig hatten sie ihn nicht gerade mit Samthandschuhen angefaßt, die Welt um ihn begann wieder zu kreisen. Pastellblaue Wände zogen vorbei und erinnerten ihn daran, wie sie in der letzten Nacht in die andere Richtung geflüchtet waren. Aus irgendeinem Grunde war ihm zu dieser Zeit der Einfall, sich in den U-Bahn-Schächten zu verstecken, als sehr schlau vorgekommen.

Die Wände verschwanden. Sie befanden sich wieder in Challenge. Diesmal sah er den wuchtigen Emerelibaum in seiner ganzen Großartigkeit. Es war ein blauschwarzer, knorriger Riese, dessen Äste tief über den sichtbaren Teil des Kreisels hingen, während seine höchsten Zweige bis an die im Schatten liegende Decke reichten. Es war Tag geworden. Die Einfahrt stand weit offen, und durch den Torbogen konnte Dirk den Fetten Satan und eine einzelne gelbe Sonne über dem Horizont stehen sehen. Ob sie nun auf- oder untergingen, vermochte er nicht zu sagen. Dazu war er viel zu desorientiert und zerschlagen. Zwei wuchtige Kavalargleiter standen neben der zur U-Bahn hinabführenden Rampe auf der Straße. Pyr ließ neben ihnen anhalten, und Dirks Bahre wurde abgesetzt.


Vergeblich versuchte er sich aufzurichten. Seine Glieder gaben sofort nach, und der Schmerz kam zurück, bis er aufgab und sich wieder hinlegte.

»Ruft die anderen herbei«, sagte Pyr. »Diese Angelegenheit sollte hier und jetzt erledigt werden, damit ich meinen korariel auf die Jagd vorbereiten kann.«

Während er sprach, hatte er sich vor Dirk aufgebaut. Alle drängten sich jetzt um die Tragbahre, selbst Gwen. Aber nur sie sah herab, und ihre Blicke trafen sich. Sie war geknebelt. Und müde und hoffnungslos.

Die anderen Braiths benötigten eine gute Stunde, um sich einzufinden. Für Dirk war es eine Stunde schwindenden Lichts und wiederkehrender Kraft. Es war Abend. Jenseits der Einfahrt sank Fetter Satan langsam außer Sicht. Die Dunkelheit nahm zu, wurde dichter und schwärzer, bis die Kavalaren sich schließlich gezwungen sahen, die Scheinwerfer ihrer Gleiter einzuschalten. Zu diesem Zeitpunkt war das Schwindelgefühl von Dirk gewichen. Pyr erkannte das und ließ ihm die Hände hinter dem Rücken binden. Er zwang ihn, sich aufzusetzen und gegen einen der Gleiter zu lehnen. Gwen wurde befohlen, sich neben ihn zu setzen. Den Knebel nahm man nicht fort.

Obwohl Dirk nicht geknebelt war, wagte er es nicht zu sprechen. Mit kaltem Blech im Rücken und von den Fesseln wundgeriebenen Handgelenken saß er da, wartete, beobachtete, hörte zu. Von Zeit zu Zeit versuchte er, Gwen ins Gesicht zu schauen. Aber sie hatte den Kopf auf die Brust sinken lassen und erwiderte keinen seiner Blicke. Sie kamen einzeln und in Paaren.

Die kethi der Braiths. Die Jäger von Worlorn. Sie kamen aus dem Schatten und aus dunklen Ecken. Wie bleiche Geister. Zuerst gab es nur Geräusche und verschwommene Schemen. Dann traten sie in den kleinen Lichtkreis und gaben sich als Menschen zu erkennen. Und selbst dann sahen sie nicht gerade menschlich aus. Der erste von ihnen führte vier große, rattengesichtige Hunde mit sich, und Dirk erkannte ihn.

Er war auf dem äußeren Boulevard gewesen. Der Mann band seine Hunde an die Stoßstange von Rosephs Gleiter, grüßte knapp Pyr, Roseph und deren teyns und setzte sich einige Meter vor den Gefangenen mit gekreuzten Beinen auf den Boden. Er sprach nicht ein einziges Wort und bewegte sich auch nicht mehr. Seine Augen hielt er starr auf Gwen gerichtet. Dirk konnte seine Hunde hinter sich im Dunkeln heulen hören. Ihre Eisenketten schabten und rasselten. Dann kamen die anderen. Lorimaar Hoch-Braith Arkellor, ein braungebrannter Riese in einem Anzug aus pechschwarzem Chamäleonstoff, den Knöpfe aus weißen Knochen zierten. Er traf in einem schweren, dunkelroten Luftgleiter ein. Unter der gewölbten Haube konnte Dirk ein Rudel Braithhunde erkennen. In Lorimaars Begleitung war ein bullig untersetzter Mann, doppelt so schwer wie Pyr, mit dickem, aber muskulösem Körper und einem blassen Schweinsgesicht. Hinter ihnen kam ein gebrechlich aussehender Veteran, allein und zu Fuß. Der kahle, runzlige und nahezu zahnlose Alte hatte nur eine Hand aus Fleisch und Blut, die andere war eine dreifingrige Kralle aus dunklem Metall. Mit Entsetzen bemerkte Dirk den Kinderkopf, der vom Gürtel des Alten hing und eines der beiden weißen Hosenbeine mit einer inzwischen rostbraun verfärbten Blutspur besudelt hatte.

Schließlich erschien Chell, hochgewachsen wie Lorimaar, weißhaarig, mit Schnurrbart und sehr müde. Er führte einen riesigen Braithhund mit sich. Innerhalb des Lichtkreises blieb er blinzelnd stehen. »Wo ist Euer teyn?« wollte Pyr wissen.

»Hier«, krächzte es aus der Dunkelheit. Einige Meter weiter leuchtete schwach ein Glühstein. Bretan Braith Lantry trat vor und stellte sich neben Chell, sein Gesicht zuckte.

»Es sind alle zusammengekommen«, sagte Roseph Hoch-Braith zu Pyr.

»Nein«, widersetzte sich jemand. »Koraat fehlt.« Der schweigende Jäger sprang vom Boden auf. »Er ist nicht mehr. Er bat um sein Ende, und ich habe es ihm gewährt.

Er war wirklich übel zugerichtet. Er war der zweite keth, den ich heute sterben sah. Der erste war mein teyn, Teraan Braith Nalarys.« Während er sprach, nahm er keine Sekunde lang die Augen von Gwen. Er beendete seinen Kommentar mit einem langen, atemlosen Satz in der Altkavalar-Sprache. »Drei von uns sind tot«, sagte der alte Mann.

»Wir werden ihrer schweigend gedenken«, sagte Pyr.

Er trug noch immer seinen Stock mit dem Hartholzknauf und der kurzen Klinge und schlug ihm beim Sprechen unablässig gegen sein Bein, genauso, wie er es im Tunnel getan hatte. Trotz ihres Knebels versuchte Gwen zu schreien. Pyrs teyn, der spindeldürre Kavalare mit dem unbändigen Haar, kam herüber und stellte sich drohend neben sie.

Aber der ungeknebelte Dirk hatte die Lage erfaßt. »Ich werde nicht schweigen«, rief er. Wenigstens versuchte er es. Seine Stimme wollte noch nicht recht mitmachen.

»Sie waren Mörder und verdienten den Tod.«

Alle Braiths blickten auf ihn.

»Knebelt ihn, bringt ihn zum Schweigen«, sagte Pyr.

Schnell leistete sein teyn diesem Befehl Folge. Als es geschehen war, ergriff Pyr wieder das Wort. »Du wirst noch ausreichend Zeit zum Schreien haben, Dirk t’Larien, wenn du nackt durch die Wälder rennst und meine Hunde hinter dir bellen hörst.«

Linkisch wandte sich Bretan um. Auf seinem Narbengewebe glitzerte Licht. »Nein«, sagte er. »Zuerst erhebe ich Anspruch.« Pyr sah ihm ins Gesicht. -»Ich verfolgte den Spottmenschen. Ich nahm ihn gefangen.«

Bretans Gesicht zuckte.

Chell, der noch immer die Hundekette um die Faust gewickelt hielt, legte seine andere schwere Hand auf Bretans Schulter. »Das geht mich nichts an«, sagte ein anderer. Es war der Braith, der am Boden saß und unbeweglich starrte. »Was wird aus der Schlampe?«

Sichtlich ungern wandten ihm die anderen ihre Aufmerksamkeit zu. »Sie können wir nicht bestrafen, Myrik«, sagte Lorimaar Hoch-Braith. »Sie gehört zu Eisenjade.«

Das Gesicht des Mannes verzerrte sich. Einen Augenblick lang war er kaum wiederzuerkennen. Die Grimasse erinnerte an ein Tier, unbekannte Emotionen kamen zum Vorschein. Dann war es vorbei. Seine Züge wurden wieder zu dem bleichen, unbewegten Antlitz, das keine Regung verriet. »Ich werde diese Frau töten«, sagte er. »Teraan war mein teyn. Sie hat seinen Geist auf eine seelenlose Welt verdammt.« »Sie?« Lorimaars Stimme klang ungläubig. »Ist das die Wahrheit?« »Ich habe es gesehen«, erwiderte der Mann am Boden, den sie Myrik nannten. »Als sie uns niederfuhr und Teraan sterbend liegen ließ, habe ich noch hinterhergefeuert. Es ist die Wahrheit, Lorimaar Hoch-Braith.«

Dirk versuchte, auf die Beine zu kommen, aber der spindeldürre Kavalare stieß ihn hart zurück und schlug, wie zur Bekräftigung seiner Handlung, Dirks Kopf gegen den Metallkotflügel des Gleiters. Dann sprach der schwächliche Alte — jener klauenbewehrte Veteran, der den Kinderkopf trug. »Dann nehmt sie zu Eurer persönlichen Beute«, sagte er mit einer Stimme, die so dünn und scharf war wie das Abhäutmesser, das er am Gürtel trug. »Die Weisheit der Festhalte ist alt und über alle Zweifel erhaben, meine Brüder. Sie ist nun keine echte Frau mehr, falls sie je eine war, weder Haltfrau noch eyn-kethi. Wer würde seine Stimme für sie erheben?

Sie hat den Schutz ihres Hochleibeigenen verlassen, um mit einem Spottmenschen davonzulaufen! Wenn ihr Fleisch je richtiges Menschenfleisch war, dann ist das nicht länger so. Ihr kennt die Wege der Spottmenschen, der Lügner, der Wermenschen und großen Betrüger.

Allein im Dunkel mit ihr, hat dieser Spottmensch Dirk t’Larien sie sicherlich erschlagen und einen Dämonen gleich ihm an ihre Stelle gesetzt, der genauso aussieht wie sie.«

Chell nickte zustimmend und sagte etwas Feierliches auf Altkavalar. Die anderen Braiths sahen weniger überzeugt aus. Lorimaar tauschte fragende Blicke mit seinem teyn, dem Untersetzten, Bulligen. Bretans scheußliches Gesicht, zur einen Hälfte wie eine Maske aus Narbengewebe, zur anderen Hälfte wie die reine Unschuld, gab keinerlei Aufschluß. Pyr blickte finster drein und klopfte weiterhin unablässig mit seinem Stock.

Roseph war es, der etwas erwiderte. »Als ich Schiedsrichter am Todesquadrat war, habe ich Gwen Delvano für menschlich erklärt«, sagte er vorsichtig.

»Das ist wahr«, meinte Pyr.

»Vielleicht war sie damals menschlich«, sagte der alte Mann. »Jetzt aber hat sie Blut gekostet und mit einem Spottmenschen geschlafen. Wer würde sie jetzt noch menschlich nennen?« Die Hunde begannen zu jaulen.

Jene vier, die Myrik an den Gleiter gekettet hatte, eröffneten das schaurige Konzert, in das die in Lorimaars überdachtem Fahrzeug eingeschlossene Meute einstimmte. Chells Riesenhund knurrte und zog an seiner Kette, bis der ältliche Braith ärgerlich herumfuhr.

Daraufhin setzte sich das Tier und fiel in das Heulkonzert ein. Fast alle Jäger starrten in die geräuschlose Dunkelheit hinter ihrem kleinen Kreis. Der zur Regungslosigkeit erstarrte Myrik war die einzige Ausnahme — er nahm seine Augen nicht von Gwen Delvano. Mehr als einer griff mit der Hand zur Waffe.

Hinter den Gleitern, am Rand des Kreises, standen die beiden Eisenjades Seite an Seite im Schatten.

Dirks Schmerzen verloren von einer Sekunde zur anderen an Bedeutung. Sein Körper zitterte und bebte. Er sah auf Gwen, Gwen sah sie an. Besonders Jaan.

Dann trat Jaan ins Licht, und Dirk bemerkte, daß er Gwen fast ebenso anstarrte wie es Myrik tat. Er schien sich sehr langsam zu bewegen — wie eine Traumgestalt, wie ein Schlafwandler. Garse Janacek an seiner Seite hingegen wirkte wach und lebhaft.

Vikary war in einen gefleckten Anzug aus Chamäleonstoff gekleidet, der alle Schwarztönungen aufwies, als er den Kreis seiner Feinde betrat. Die Hunde verstummten. Jetzt gaukelte der Stoff des Anzugs ein schmutziges Grau vor. Die Ärmel seines Hemdes endeten über den Ellbogen, Eisen-und-Glühstein umschlossen seinen rechten Unterarm, Jade-und-Silber seinen linken.

Einen endlosen Augenblick lang überragte er alle.

Chell und Lorimaar waren beide einen Kopf größer, aber irgendwie schien Vikary zu dominieren. Er glitt an ihnen vorbei und wirkte wie ein schreitender Geist, der sich zwischen den Braiths bewegte, als würde er sie überhaupt nicht wahrnehmen.

Neben Gwen und Dirk hielt er an.

Dann war die Illusion verblaßt. Die Braiths begannen zu sprechen, und Jaan Vikary war wieder nur ein Mann unter vielen, größer als die meisten, aber kleiner als einige.

»Ihr geht zu weit, Eisenjades«, sagte Lorimaar in hartem, verärgertem Tonfall. »Ihr wurdet nicht zu diesem Ort gerufen. Ihr habt kein Recht, hier zu sein.«

»Spottmenschen«, spuckte Chell. »Falsche Kavalaren.«

Bretan Braith Lantry machte sein eigentümliches Geräusch. »Eure betheyn gewähre ich Euch, Jaantony Hoch-Eisenjade«, sagte Pyr mit fester Stimme, obwohl er mit seinem Stock einen nervösen Rhythmus klopfte.

»Bestraft sie nach Eurem Willen, wie Ihr es müßt. Der Spottmensch jedoch ist für meine Jagd bestimmt.« Garse Janacek war einige Meter entfernt stehengeblieben. Seine Augen wanderten von einem Sprecher zum anderen, und zweimal schien er antworten zu wollen. Aber Jaan Vikary ignorierte sie alle. »Nehmt ihnen die Dinger aus dem Mund«, sagte er und deutete auf die Gefangenen.

Pyrs langbeiniger teyn stand über Dirk und Gwen gebeugt und sah dem Hochleibeigenen von Eisenjade ins Gesicht. Er zögerte einen langen Moment, dann bückte er sich tiefer und entfernte die Knebel. »Danke«, sagte Dirk.

Gwen schüttelte den Kopf, um einige Haarsträhnen aus den Augen zu bekommen. Unsicher rappelte sie sich auf.

Die Arme waren ihr noch immer auf dem Rücken zusammengebunden. »Jaan«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Hast du es gehört?«

»Ich habe es gehört«, sagte Vikary. Dann wandte er sich an die Braiths: »Bindet sie los.«


»Ihr nehmt Euch viel heraus, Eisenjade«, sagte Lorimaar. Pyr jedoch wirkte unsicher. Er lehnte sich auf seinen Stock und sagte schließlich: »Zerschneidet ihre Fesseln.«

Sein teyn riß Gwen herum und befreite sie mit seinem Messer. »Zeig mir deine Arme«, sagte Vikary zu Gwen.

Sie zögerte. Dann nahm sie langsam die Hände nach vorn und streckte . sie mit den Flächen nach unten aus. An ihrem linken Arm blitzte Jade-und-Silber. Sie hatte es nicht abgenommen.

Gebunden und hilflos sah Dirk zu. Ihm war kalt. Sie hatte es nicht abgenommen …

Vikary schaute auf Myrik herab, der noch immer mit überkreuzten Beinen vor Gwen saß und diese mit verengten Augen anstarrte. »Steh auf!«

Der Mann erhob sich und wandte sich dem Eisenjade zu. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft war sein Blick nicht auf Gwen gerichtet. Vikary wollte gerade etwas sagen, da kam ihm Gwen zuvor. »Nein«, rief sie.

Während der ganzen Zeit hatte sie sich die Handgelenke gerieben. Jetzt hörte sie auf und legte die rechte Hand auf das Schmuckstück. Ihre Stimme klang sehr gefaßt. »Verstehst du nicht, Jaan? Es geht nicht.

Wenn du ihn forderst, wenn du ihn tötest — dann nehme ich es ab. Ganz bestimmt.«

Erstmals spielte eine Gefühlsregung auf Jaans Gesicht, man konnte sie nur als Ärger interpretieren. »Du bist meine betheyn«, sagte er. »Wenn ich ihn nicht … Gwen …«

»Nein.«

Einer der Braiths begann zu lachen, woraufhin sich Garses Gesicht vor Wut verzerrte und gleichzeitig ein wildes Aufleuchten in die Augen des Mannes trat, den die anderen Myrik nannten.


Falls Gwen es bemerkt hatte, so ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken. Sie wandte sich Myrik zu. »Ich habe Euren teyn getötet«, begann sie. »Ich, nicht Jaan und nicht der arme Dirk. Ich habe ihn getötet, und ich gebe es zu. Er hat uns gejagt, genau wie Ihr. Und er hat Emereli umgebracht.«

Myrik erwiderte nichts. Alles schwieg.

»Wenn Ihr Euch schon duellieren müßt, wenn Ihr mich wirklich tot sehen wollt, dann duelliert Euch mit mir!« fuhr Gwen fort. »Ich habe es getan. Kämpft gegen mich, wenn Euch Eure Rache so wichtig ist.« Pyr lachte laut auf. Einen Augenblick später fielen sein teyn und Roseph mit ein, dann folgten mehrere der anderen — der fette Mann, Rosephs bulliger, strenggesichtiger Begleiter, der klauenbewehrte Alte. Alle lachten.

Myriks Gesicht lief erst blutrot an, dann weiß. Dann wurde es wieder dunkelrot. »Betheyn- Schlampe«, fauchte er. Ein krampfartiges Zucken lief über sein Gesicht, und seine Augen leuchteten ein weiteres Mal auf.

Jetzt sah es jeder. »Du machst dich über mich lustig.

Ein Duell… mein teyn … und du bist eine Frau!«

Er beendete den Satz mit einem Schrei, der den Männern durch Mark und Bein fuhr und die Hunde in Geheul ausbrechen ließ. Dann verlor er die Kontrolle über sich.

Er hob die Hände, die sich spastisch zu Fäusten ballten und wieder öffneten, schlug sie vor das eigene Gesicht, als sie von seiner Wut erschreckt zurückwich — und war plötzlich über ihr. Sein Schwung brachte sie beide zu Fall. Sich überschlagend rangen sie miteinander. Seine dürren Finger hatten sich um ihren Hals gelegt. Dann krachten sie hart gegen einen der Gleiter. Myrik war oben und befand sich Gwen gegenüber in günstiger Position. Seine Finger krallten sich tief in das weiche Fleisch ihres Halses. Verzweifelt schlug sie um sich und traf ihn hart am Kinn. Aber in seiner blinden Wut schien er es kaum zu spüren. Er begann damit, ihren Kopf gegen den Gleiter zu schlagen, immer wieder, immer wieder, und schrie dabei unablässig auf altkavalarisch. Mit Mühe gelang es Dirk, auf die Beine zu kommen, nur um dann mit gefesselten Händen tatenlos herumstehen zu müssen.

Garse machte zwei, drei schnelle Schritte nach vorn, und endlich bewegte sich auch Jaan Vikary. Aber es war Bretan Braith, der die beiden als erster erreichte, Myrik einen Arm um den Hals legte und den Tobenden von dem Mädchen herabzog. Myrik schlug wie ein Wahnsinniger um sich, bis Lorimaar Bretan zu Hilfe eilte. Mit vereinten Kräften brachten sie den Mann zwischen sich und hielten ihn fest.

Gwen saß regungslos da. Ihr Kopf ruhte, zur Seite geneigt, auf dem Panzerblech, gegen das Myrik ihn geschmettert hatte. Vikary kniete sich neben sie und versuchte ihr einen Arm um die Schultern zu legen. Ihr Hinterkopf rutschte beim Anheben über die Seitenwand des Luftwagens und hinterließ eine schmierige Blutspur auf dem Blech. Auch Janacek kniete sich rasch hin und fühlte ihren Puls. Befriedigt erhob er sich wieder. Dann wandte er sich mit vor Wut zusammengekniffenen Lippen an die Braiths. »Sie trug Jade-und-Silber, Myrik«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Ihr seid ein toter Mann. Ich fordere Genugtuung.«

Myrik hatte zu schreien aufgehört. Jetzt keuchte er nur noch. Einer der Hunde jaulte auf und war dann wieder still. »Lebt sie?« fragte Bretan mit seiner Sandpapierstimme. Jaan Vikary sah zu ihm auf, und sein Gesicht wirkte so seltsam angestrengt, wie es das von Myrik noch vor wenigen Augenblicken gewesen war.

»Sie lebt.«

»Ein Glück«, sagte Janacek, »aber nicht für Euch, Myrik. Für Euch bleibt alles beim alten. Trefft Eure Wahl!«

»Bindet mich los!« rief Dirk. Keiner machte Anstalten dazu. »Bindet mich los!« schrie er wie von Sinnen.

Jemand schnitt seine Fesseln durch.

Er ging zu Gwen und kniete sich neben Vikary. Ihre Augen trafen sich kurz. Dirk untersuchte ihren Hinterkopf, wo das dunkle Haar von Blut verklebt war, das langsam zu verkrusten begann. »Vielleicht nur eine Gehirnerschütterung und eine Platzwunde«, sagte er. »Es kann aber auch ein Schädelbruch oder Schlimmeres sein.

Ich kann es nicht sagen. Gibt es hier einen medizinischen Notdienst?« Er sah sie der Reihe nach einzeln an. »Gibt es einen?«

Bretan antwortete. »In Challenge funktioniert er nicht mehr, t’Larien. Die Stimme kämpfte gegen mich. Ich mußte sie und die automatischen Einrichtungen der Stadt abstellen.«

Dirk verzog entmutigt das Gesicht. »Dann darf sie nicht bewegt werden. Vielleicht ist es wirklich nur eine Gehirnerschütterung. Ich glaube, es ist am besten, wenn sie ganz still liegenbleibt.«

Unglaublicherweise ließ sie Jaan Vikary in Dirks Armen und stand auf. Lorimaar und Bretan, die Myrik in sicherem Griff zwischen sich hielten, gab er ein Zeichen mit der Hand. »Laßt ihn los!«

»Was?«

Janacek warf Vikary einen verdutzten Blick zu.

»Jaan«, sagte Dirk, »machen Sie sich keine Gedanken um ihn. Gwen…«


»Bringen Sie Gwen in einen der Gleiter«, sagte Vikary.

»Ich glaube nicht, daß wir sie bewegen …«

»Hier ist sie nicht sicher, t’Larien. Bringen Sie sie in einen Gleiter.«

Janacek war verwirrt. »Mein teyn?«

Vikary wandte sich wieder an die Braiths. »Ich sagte Euch bereits, daß Ihr diesen Mann freilassen sollt.« Er machte eine Pause. »Diesen Spottmenschen, wie Ihr ihn nennen würdet. Er hat den Namen verdient.«

»Was habt Ihr vor, Hoch-Eisenjade?« sagte Lorimaar mit Nachdruck.

Dirk hob Gwen hoch und legte sie vorsichtig auf den Rücksitz des nächsten Gleiters. Sie war bewußtlos und ganz schlaff, aber ihr Atem ging regelmäßig. Dann ließ er sich auf den Fahrersitz hinübergleiten und wartete, sich dabei die Hände massierend, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen.

Jeder schien ihn vergessen zu haben. Lorimaar Hoch-Braith sprach immer noch. »Wir erkennen Euer Recht an, Myrik gegenüberzutreten. Aber da Teraan Braith Nalarys nicht mehr unter den Lebenden weilt, kann nur einer von Euch den Kampf aufnehmen. Euer teyn sprach als erster die Herausforderung und deshalb …«

Jaan Vikary hatte seine Laserpistole in der Hand. »Laßt ihn los und tretet beiseite.«

Verblüfft ließ Lorimaar Myriks Arm los und entfernte sich von ihm. Bretan zögerte. »Hoch-Eisenjade«, krächzte er, »um Eurer Ehre willen und der seinen, um der Eures Festhalts und Eures teyns — senkt die Waffe!«

Vikary zielte auf den Jüngling. Dessen Gesicht zuckte, dann gab er Myrik frei und trat mit groteskem Kopfschütteln zurück. »Was geht hier vor?« wollte der einhändige Veteran mit schriller Stimme wissen. »Was macht er?« Keiner antwortete ihm. »Jaan«, sagte Garse Janacek mit entsetzter Stimme. »Du mußt von Sinnen sein. Steck deine Waffe weg, mein teyn. Ich habe ihn herausgefordert. Ich werde ihn für dich töten.« Er legte die Hand auf Jaans Arm. Jaan Vikary schüttelte sie ab und richtete seine Waffe auf Garse. »Nein! Zurück! Du mischst dich jetzt nicht ein. Es ist für sie.« Janaceks Gesicht verdunkelte sich. Sein sonst so überlegenes Grinsen war verschwunden, und auch sein schwarzer Humor war wie weggeblasen. Er ballte die rechte Hand zur Faust und hob sie langsam vor sein Gesicht.

Zwischen den beiden Eisenjades leuchtete Eisen-und-Glühstein auf. »Unser Bund«, sagte Janacek. »Besinne dich, mein teyn. Meine Ehre und die deine und die unseres Festhalts.« Sein Tonfall war sehr ernst.

»Und was ist mit ihrer Ehre?« sagte Vikary. Indem er ungeduldig mit dem Laser herumfuchtelte, zwang er Janacek, von ihm abzulassen. Dann wandte er sich wieder Myrik zu.

Allein und verwirrt, schien Myrik nicht zu wissen, was von ihm erwartet wurde. Seine Wut war verraucht, obwohl er noch schwer atmete. Ein dünner, von Blut leicht rot gefärbter Speichelfaden rann ihm aus dem Mundwinkel. Er wischte ihn mit dem Handrücken weg und sah unsicher zu Garse Janacek hinüber. »Die erste der vier Wahlen«, begann er benommen. »Ich treffe die Wahl der Art und Weise.« »Nein«, fuhr Vikary dazwischen. »Du triffst keine Wahl. Sieh mich an, Spottmensch.«

Myrik sah von Janacek auf Vikary und wieder zurück.

»Die Wahl der Art und Weise«, wiederholte er stumpfsinnig.

»Nein«, sagte Vikary erneut. »Du hast Gwen Delvano auch keine Wahl gelassen. Sie hätte sich dir in einem fairen Duell gestellt.« Myriks Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, die Fassungslosigkeit ausdrückte. »Sie?

Im Duell? Ich … sie war eine Frau, ein Spottmensch.« Er nickte, als sei damit alles gesagt und geregelt. »Sie war eine Frau, Eisenjade! Seid Ihr verrückt geworden? Sie hat mich zum Gespött der anderen gemacht. Mit einer Frau duelliert man sich nicht.« »Und mit dir auch nicht, Myrik. Verstehst du das? Verstehst du? Und mit« … er feuerte, und eine halbe Sekunde lang glühte eine fingerdicke Lichtbahn auf, die Myrik tief am Rumpf, zwischen den Beinen, traf, so daß der Mann aufschrie … »… dir« … er feuerte nochmals und brannte Myrik ein Loch in den Hals, direkt unterhalb des Kinns, während der Mann fiel, wartete er, bis sich sein Laser wieder aufgeladen hatte … »… auch« … fuhr er fünfzehn Sekunden später fort, gleichzeitig sengte ein weiterer Strahl der sich krümmenden Gestalt über die Brust, dann zog sich Vikary zurück, bewegte sich auf den Gleiter zu … »…nicht!« beendete er seinen Satz, schon halb im Gleiter, und bei diesem Wort raste ein letzter Feuerstoß aus seiner Pistole — und Lorimaar Hoch-Braith Arkellor stürzte mit halbgezogener Waffe zu Boden.

Dann schlug er die Tür zu, und Dirk warf den Schwerkraftneutralisator an. Mit einem Ruck jagten sie nach vorn und dann steil nach oben. Sie hatten mit einer Hälfte des Gleiters die Einfahrt passiert, als das Laserfeuer zu zischen begann und Löcher in die Panzerung brannte.

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