11

Dirk durchquerte das Zimmer.

Das Lasergewehr lehnte an der Wand. Er hob es hoch und wunderte sich wieder über die ölige Oberflächenbeschaffenheit des schwarzen, glatten Plastikmaterials. Sein Daumen strich über den Wolfskopf. Er hob die Waffe an die Schulter, legte an und feuerte.

Wenigstens eine volle Sekunde lang hing die Lichtemission in der Luft. Er bewegte das Gewehr leicht hin und her, und der bleistiftdünne Strahl bewegte sich mit. Als er erloschen war und seine Augen sich wieder an die normale Helligkeit gewöhnt hatten, sah er, daß er ein unregelmäßiges Loch ins Fenster gebrannt hatte. Der Wind pfiff laut herein und steuerte eine seltsame Dissonanz zur Musik von Lamiya-Bailis bei. Gwen kletterte schwankend aus ihrem Bett. »Dirk? Was ist los?« Er zuckte unschuldig die Achseln und senkte das Gewehr. »Mann!« rief sie. »Was machst du da?«

»Ich wollte nur herausfinden, ob ich damit umgehen kann«, erklärte er. »Ich … ich gehe ebenfalls.«

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Warte, ich suche nur eben meine Stiefel.«

Er schüttelte den Kopf.

»Du auch?« Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich, entstellte sie. »Ich muß nicht beschützt werden, verdammt noch mal.« »Das ist es nicht«, sagte er.

»Falls das so eine idiotische Geste sein soll, um dich in meinen Augen zum Helden aufzuspielen, so wirst du damit kein Glück haben«, sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften.

Er lächelte. »Das hier, Gwen, ist eine idiotische Geste, um mich in meinen eigenen Augen zum Helden zu machen. Deine Augen … deine Augen sind nicht mehr wichtig.« »Was soll es dann?«

Unentschlossen wog er das Gewehr in den Händen.

»Ich weiß nicht«, gab er zu. »Vielleicht, weil ich Jaan gern habe und in seiner Schuld stehe. Vielleicht will ich ihm zeigen, daß ich für ihn noch nicht abgeschrieben bin, obwohl ich davonlief, als er mich zum keth gemacht hatte.«

»Dirk«, begann sie. Eine Handbewegung brachte sie zum Verstummen. »Ich weiß … aber das ist noch nicht alles. Vielleicht will ich nur zu Ruark. Vielleicht ist es auch deshalb, weil es in Kryne Lamiya mehr Selbstmörder gab als in jeder anderen Stadt, und ich einer davon bin. Aus dem Genannten kannst du dir selbst ein Motiv wählen, Gwen.« Die Spur eines Lächelns hellte sein Gesicht auf. »Man sieht nur zwölf Sterne am Himmel, möglicherweise ist das der Grund. Es spielt überhaupt keine Rolle, oder?« »Was kannst du schon ausrichten?«

»Wer weiß? Es ist doch ohnehin egal. Oder kümmert es dich, Gwen? Kümmert es dich wirklich?« Er schüttelte den Kopf. Die ruckartige Bewegung ließ ihm die Haare ins Gesicht fallen, so daß er innehalten mußte, um sie sich aus den Augen zu streichen. »Mir ist es gleich, ob es dich kümmert«, sagte er mit Nachdruck. »In Challenge sagtest du direkt oder indirekt, daß ich selbstsüchtig sei.

Nun, vielleicht war ich das. Und vielleicht bin ich es jetzt noch. Dennoch werde ich dir etwas sagen. Was immer ich von jetzt an tun werde, ich werde dabei nicht zuerst an deine süße Umarmung denken, Gwen. Ist das klar?«

Als ein letzter Satz war das ausgezeichnet, aber im Türrahmen wurde er wieder weich, zögerte, wandte sich um. »Bleib hier, Gwen. Bitte, bleib. Du bist noch verletzt. Jaan sagte etwas von einer Höhle, für den Fall, daß du fliehen mußt. Weißt du etwas darüber?« Sie nickte. »Also, wenn du flüchten mußt, dann dorthin.

Sonst bleibst du hier.« Er winkte ihr ein tapsiges Lebewohl mit dem Gewehr, drehte sich um und ging ein bißchen zu schnell fort.

Unten in der Landeschleuse waren die Wände wieder nur Wände — keine Geister, keine Farbspiele, keine Lichter. Im Dunkeln wäre Dirk fast über den gesuchten Gleiter gestolpert. Während seine Augen sich den veränderten Lichtverhältnissen anpaßten, tastete er sich hinein.

Der herrenlose Gleiter war kein Erzeugnis von Hoch Kavalaan. Bei ihm handelte es sich um einen engen Zweisitzer, eine schwarzsilberne Träne aus Kunststoff und Leichtmetall. Das Fahrzeug wies natürlich überhaupt keine Panzerung auf und war nur mit einer Waffe ausgestattet: dem Lasergewehr, das quer über seinem Schoß lag.

Der Gleiter war nur eine Idee lebendiger als der Rest auf Worlorn, aber dieser Funke mehr reichte aus. Als er den Anlasserknopf eindrückte, erwachte der Wagen zum Leben. Die Instrumente erhellten das Kabineninnere mit ihrem schwachen Leuchten. Rasch aß er einen Proteinriegel und studierte die Armaturen. Die Energieanzeige stand niedrig, zu niedrig, aber es mußte reichen. Er würde die Scheinwerfer nicht einschalten, sondern im Sternenlicht fliegen, auf die Gefahr hin, daß er dann kaum etwas sah. Auf die Heizung konnte er ebenfalls verzichten, solange ihn die Lederjacke vor der schneidenden Kälte schützte. Dirk zog schwungvoll die Schiebetür herab, schnallte sich an und schaltete den Antischwerkraftgenerator ein. Der Gleiter hob vom Boden ab. Er schaukelte zwar ein wenig, aber er gewann an Höhe. Er umfaßte den Hebel, drückte ihn nach vorn — und dann befand er sich plötzlich draußen, zwischen Himmel und Erde.

Ein fürchterlicher Schreck durchzuckte ihn. Wenn der Generator nicht stark genug aufgeladen war, würde es überhaupt kein Flug werden, sondern ein taumelnder Sturz, dem moosbedeckten Boden unter ihm entgegen.

Als er die Schleuse passiert hatte, ruckte der Gleiter und sackte mit alarmierender Geschwindigkeit weg. Aber nur für einen Moment, dann stabilisierte sich die Leistungsabgabe des Generators, und Dirk ritt auf den singenden Winden höher. Das einzige, was sich jetzt noch drehte, war sein Magen.


Dirk gewann ständig an Höhe. Er versuchte, den kleinen Gleiter so hoch wie möglich zu fliegen. Vor ihm lag das Bergmassiv, und darüber hieß es hinwegzukommen. Abgesehen davon verspürte er keine große Lust, anderen nächtlichen Fliegern zu begegnen. In großer Höhe, ohne Licht fliegend, konnte er jeden anderen Gleiter unter sich sofort bemerken und hatte dabei gute Chancen, von anderen nicht gesehen zu werden. Er sah sich nicht nach Kryne Lamiya um, denn er fühlte die Stadt hinter sich, fühlte, wie sie ihn trieb, wie sie seine Ängste von ihm wusch. Furcht war ein närrisches Gefühl. Ihm konnte nichts etwas anhaben, der Tod am allerwenigsten. Selbst als die Sirenenstadt mit ihren weißen und grauen Lichtern verschwunden war, blieb die Musik in seinen Ohren. Sie wurde zwar ständig leiser, war aber immer bei ihm und verlor nichts an Eindringlichkeit. Einen Ton, ein dünnes, schwankendes Pfeifen, hörte er länger als alles andere. Dreißig Kilometer von der Stadt entfernt, war es zusammen mit dem tieferen Heulen des Windes immer noch zu vernehmen. Schließlich wurde ihm bewußt, daß dieses Geräusch von seinen eigenen Lippen stammte.

Er hörte auf zu pfeifen und versuchte, sich auf den Flug zu konzentrieren.

Er war noch keine Stunde in der Luft, da erhob sich die Bergwand vor ihm — oder besser unter ihm, denn zu dieser Zeit flog er schon beträchtlich hoch und fühlte sich den Sternen und den nadelspitzen kleinen Galaxien über sich näher als den Wäldern weit unter ihm. Der Wind war lauter geworden. Schrill und wütend erzwang er sich seinen Weg durch die haarfeinen Ritzen an der Tür, aber Dirk ignorierte ihn. Dort, wo die Berge in die Wildnis übergingen, sah er das Licht. Er legte den Gleiter schräg, begann zu kreisen und langsam hinunterzugehen. Auf dieser Seite der Berge durfte es keine Lichter geben. Was immer es auch war — es mußte untersucht werden. Er flog spiralenförmig abwärts, bis er sich genau über dem Licht befand, dann bremste er den Gleiter ab. Einen Augenblick lang schwebte er unbeweglich, bis er die Leistung des Schwerkraftneutralisators verminderte.

Unendlich langsam sank er hinab, wobei er in seiner Flugmaschine sanft vom Wind geschaukelt wurde.

Unter ihm waren mehrere Lichter. Die Hauptlichtquelle rührte von einem Feuer her. Das konnte er jetzt mit Sicherheit behaupten, denn er sah, wie es flackerte und waberte, als der Wind die Flammen mal in diese, mal in jene Richtung trieb. Aber dort unten gab es auch noch kleinere Lichter — künstliche, in gleichbleibender Stärke schimmernde Leuchtpunkte. Nicht weit von dem Feuer bildeten sie in der Schwärze einen Kreis. Einen Kilometer mochten sie entfernt sein, schätzte er, vielleicht sogar weniger. Die Temperatur in der engen Kabine begann zu steigen, und Dirk fühlte Schweiß auf seiner Haut, der sich unter der schweren Jacke in seine Kleidung sog. Rauch machte ihm ebenfalls zu schaffen, rußschwarze Wolken erhoben sich vom Feuer und beeinträchtigten seine Sicht. Ärgerlich steuerte er den Gleiter aus dem aufsteigenden Rauch heraus und ließ ihn etwas seitlich vom Feuer niedersinken. Grüßend loderten die Flammen zu ihm hoch, lange orangefarbene Zungen, die grell aus dem Rauch hervorstachen. Er sah auch Funken, glimmende Holzscheite oder etwas Ähnliches.

Das Feuer sprühte sie wie einen heißen, gleißenden Regen aus, der in die Schwärze der Nacht hinaufschoß und dann verschwand. Als er noch tiefer sank, wurde ihm ein weiteres Schauspiel geboten. Plötzlich prasselte es unter ihm auf, und blauweiße Flammen breiteten sich schlagartig aus. Ganz kurz roch es scharf nach Ozon, dann war wieder alles vorüber. Dirk hielt den Gleiter regungslos in der Luft. Das Feuer befand sich noch ein ordentliches Stück unter ihm. Andere Leute waren in der Nähe — der Kreis jener künstlichen Lichtquellen —, und er wollte nicht gesehen werden. Sein schwarz- und silberfarbener Gleiter hing bewegungslos am Himmel und war sicher nicht leicht auszumachen. Wenn er sich aber dem Feuer noch mehr näherte, waren seine Umrisse im Licht der Flammen vielleicht zu sehen. Von hier oben aus hatte er eine verhältnismäßig gute Sicht, wenngleich er noch nicht erkennen konnte, was dort unten brannte, das Feuerzentrum war offenbar eine formlose schwarze Masse, aus der die Funken periodisch stoben. Im Schein des Feuers sah er zähes Würgerdickicht, die wächsernen Äste zeigten sich hellgelb im reflektierten Glanz. Einige Bäume waren dem Brand zum Opfer gefallen. Sie waren es, die den Großteil des fetten Rauches beisteuerten, während sie verbrannten. Aber der Rest, jener undurchdringliche Zaun, der den Brandherd umgab, wollte nicht in Flammen aufgehen. Das Feuer breitete sich nicht aus, es nahm sogar sichtlich ab.

Dirk wartete und sah zu, wie es erstarb. Er war sich mittlerweile ziemlich sicher, daß er auf einen abgestürzten Gleiter hinabsah, die Funken, der Ozongeruch — das sagte ihm genug. Jetzt mußte er nur noch eines wissen: welcher Gleiter lag dort unten?

Nachdem die Flammen zusammengesunken waren und die Funken nicht mehr tobten, aber noch bevor das Feuer gänzlich erlosch und dem schmierigen Rauch das Feld überließ, sah Dirk Umrisse. Er erkannte einen Flügel, der ganz entfernt dem einer Fledermaus ähnelte, auf groteske Weise verbogen war und in den Himmel zeigte. Er sah ihn nur ganz kurz, denn die Flammenwand dahinter sank in sich zusammen. Es genügte. Dieser Gleiter war kavalarischer Bauart — aber er kannte ihn nicht.

Wie ein dunkles Gespenst über dem Wald entfernte er sich von dem sterbenden Feuer und huschte auf den Ring künstlicher Lichter zu. Diesmal hielt er größeren Abstand. Es war nicht nötig, näher heranzugehen. Die Helligkeit der Lichter reichte aus, um die Szenerie bis ins Detail wiederzugeben.

Er sah eine Lichtung am Rande eines großflächigen Gewässers, die von Scheinwerfern gesäumt wurde. Drei Gleiter befanden sich dort unten, und er konnte alle drei identifizieren. Dasselbe Trio hatte sich in Challenge unter dem Emerelibaum befunden, als Gwen von Myrik Braith angegriffen wurde. Einer davon, der überdachte Wagen mit der roten Panzerung, gehörte Lorimaar Hoch-Braith.

Die beiden anderen waren kleiner und früher kaum voneinander zu unterscheiden gewesen. Aber nun konnte man sogar aus dieser Entfernung erkennen, daß der eine Gleiter Beschädigungen aufwies. Er lag am Rande des Sees halb unter Wasser, und ein Teil von ihm sah verformt aus und glühte. Die gepanzerte Tür war weit geöffnet.

Winzige Gestalten bewegten sich um das Wrack herum. Sie hoben sich von ihrem Hintergrund so wenig ab, daß Dirk sie kaum gesehen hätte, wenn sie nicht auf und ab gegangen wären. Gleich daneben führte jemand Braithhunde aus einer Luke an der Seite von Lorimaars Gleiter.

Stirnrunzelnd berührte Dirk den Schwerkraftregulator und ließ seinen eigenen Gleiter senkrecht in die Höhe steigen, bis von den Männern und ihren Fahrzeugen nichts mehr zu sehen war. Nur noch ein Lichtpünktchen deutete auf die Absturzstelle hin. Zwei Pünktchen, um genau zu sein, aber das Feuer glimmte nur noch schwach und verlor zusehends an Helligkeit.

Behütet von der schwarzen Gebärmutter des Himmels, dachte er erst einmal nach. Der beschädigte Gleiter war der von Roseph gewesen, dieselbe Maschine, die sie in Challenge gestohlen hatten — und eben jene Maschine, mit der Jaan am Morgen nach Larteyn geflogen war.

Dessen war er sich sicher. Es lag auf der Hand, daß die Braiths ihn entdeckt, in den Wald hinein verfolgt und dann mit Lasern vom Himmel geholt hatten. Aber er schien am Leben zu sein — was wollten die Braiths sonst mit den Hunden? Lorimaar führte sein Rudel bestimmt nicht zum Vergnügen durch den Wald. Jaan mußte den Absturz überlebt haben und geflohen sein. Und jetzt wollten ihn die Braiths zur Strecke bringen. Dirk erwog kurz, einen Rettungsversuch zu unternehmen, aber die Aussichten erschienen ihm trübe. Er hatte keine Ahnung, wie er Jaan in der von Nacht verhüllten Außenweltwildnis finden sollte. Für dieses Unterfangen waren die Braiths besser ausgerüstet als er. Er nahm wieder seinen alten Kurs auf: Richtung Bergkette und Larteyn. Allein und unzureichend bewaffnet, konnte er Jaan im Wald kaum von großer Hilfe sein. In der kavalarischen Feuerfeste jedoch konnte er wenigstens Eisenjades Rechnung mit Arkin Ruark begleichen. Die Berge glitten unter ihm dahin, und er entspannte sich wieder. Dennoch ruhte eine Hand auf dem Laser, der noch immer über seinen Beinen lag.

Der Flug dauerte keine Stunde mehr, dann tauchte Larteyn, rot und glühend, zwischen den Bergen auf. Die Stadt sah öde und verlassen aus, aber Dirk durfte diesem Eindruck nicht trauen. Er hielt seine Maschine tief über dem Boden und verlor keine Zeit. Mit hoher Geschwindigkeit schoß er über die quadratischen Dächer und Glühsteinflächen auf jenes Gebäude zu, das er einst mit Gwen Delvano, den beiden Eisenjades und dem verlogenen Kimdissi geteilt hatte. Nur ein anderer Gleiter wartete auf dem windgepeitschten Dach — das schwergepanzerte Militärrelikt. Von Ruarks gelbem Flieger war nichts zu sehen, und auch der Manta fehlte.

Dirk fragte sich, wo der Manta wohl geblieben sein mochte. Ob man ihn in Challenge zurückgelassen hatte?

Aber als er sich auf die Landung vorbereitete, wischte er den Gedanken beiseite. Er stieg aus und hielt dabei den Laser in festem Griff. Die Welt war still und karmesinrot.

Schnellen Schrittes ging er zu den Aufzügen und ließ sich zu Ruarks Quartier hinabtragen. Die Räume waren leer. Er durchsuchte sie gründlich, drehte das Unterste nach oben und kümmerte sich nicht darum, was er durcheinanderbrachte oder beschädigte. Die Besitztümer des Kimdissi standen oder lagen alle noch am alten Platz, aber weder war Arkin Ruark selbst in der Nähe, noch ließ sich ein Anhaltspunkt auf seinen Verbleib finden. Auch Dirks Eigentum, die wenigen Dinge, die er zurückgelassen hatte, als er und Gwen die Flucht ergriffen, lag unberührt. Nur ein kleiner Packen leichter Kleidung, die er von Braque mitgebracht hatte. Völlig nutzlos hier im kalten Wind von Worlorn. Er stellte den Laser ab, kniete sich nieder und kramte durch die Taschen der verschmutzten Hose. Erst als er es fand — gut verstaut und noch immer in Silber und Samt eingeschlagen —, wurde ihm bewußt, wonach er gesucht hatte und warum er nach Larteyn zurückgekehrt war.


In Ruarks Schlafzimmer fand er in einem Versteck eine Kasette, die persönlichen Schmuck enthielt: Ringe, Anhänger, kunstvoll gearbeitete Armbänder und Broschen, mit Edelsteinen besetzte Ohrringe. Er wühlte sich durch die Schatulle, bis er eine dünne Kette mit Klemmverschluß gefunden hatte, an der eine aus Silberdraht und Bernstein geformte Eule hing. Dieser Verschluß hatte ungefähr die richtige Größe. Dirk riß die Bernsteineule ab und befestigte statt dessen das Flüsterjuwel. Dann öffnete er seine Jacke und das dicke Hemd. Er hängte sich die Kette so um den Hals, daß die kalte rote Träne direkt auf seiner blanken Haut lag. Sie begann damit, ihre falschen Versprechungen zu flüstern.

Der kleine Eisklumpen schmerzte auf seiner Brust, aber das war gerade richtig so. Es war Jenny. Schon sehr bald gewöhnte er sich daran, und der Schmerz ließ nach.

Salzige Tränen rannen seine Wangen hinab. Es war ihm egal. Er ging die Treppe hinauf.

Der Arbeitsraum, den Ruark mit Gwen geteilt hatte, bot das gleiche unordentliche Bild, das Dirk in Erinnerung lag, aber auch hier war der Kimdissi nicht. Und auch nicht darüber, in dem verlassenen Appartement, in dem Ruark sich aufgehalten hatte, als Dirk von Challenge aus anrief. Jetzt gab es nur noch einen Ort, an dem er nachsehen konnte. Schnell stieg er bis zur Turmspitze hinauf. Die Tür stand offen. Er zögerte. Dann trat er ein, den Laser schußbereit vor sich haltend. Im großen Wohnraum herrschte das totale Chaos. Den Sichtschirm hatte entweder jemand eingeschlagen oder er war explodiert, überall lagen Glasscherben. Geschwärzte Löcher und Schmelzbahnen an den Wänden rührten von Laserfeuer her. Die Couch war umgeworfen und an mehr als einem Dutzend Stellen aufgeschlitzt worden. Die Füllung lag zum Teil auf dem Fußboden verstreut. Ein paar Handvoll davon waren in die Feuerstelle geworfen worden und hatten sich mit anderem Material zu einem verschmorten Brei verbunden und das Feuer erstickt.

Einer der Wasserspeier lehnte umgekehrt und ohne Kopf am unteren Kaminmantel. Der Kopf mit den Glühsteinaugen lag in der schmierigen Asche des Feuers.

Es stank nach Wein und Erbrochenem. Garse Janacek schlief ohne Hemd auf dem Fußboden. Sein Mund stand offen, und sein roter Bart war vom verschütteten Wein noch stärker gerötet. Er stank wie das Zimmer, schnarchte laut und hatte die Laserpistole noch immer fest im Griff. Inmitten einer Lache von Erbrochenem lag Janaceks zusammengeknäultes Hemd. Betrunken wie er war, hatte er wohl saubermachen wollen.

Dirk ging vorsichtig um Janacek herum und nahm ihm den Laser aus den schlaffen Fingern. Vikarys teyn war doch nicht so sehr jener eiserne Kavalare, den Jaan in ihm vermutet hatte.

Janaceks rechter Arm wurde noch immer von Eisen-und-Glühstein umhüllt. Einige der rotschwarzen Edelsteine waren aus ihren Fassungen gebrochen worden, die Löcher sahen obszön aus. Aber sonst war der Armreif intakt, wenn man einmal von einigen häßlichen Kratzern absah. Oberhalb des eisernen Schmuckstücks wies auch Janaceks Arm Kratzer auf. An einigen Stellen gab es tiefe Schnitte, welche die Kratzer auf dem schwarzen Eisen in das Fleisch hinein fortsetzten. Arm und Armreif waren beide von getrocknetem Blut überkrustet. Dicht neben Janaceks Stiefel bemerkte Dirk das lange, blutbefleckte Messer. Um sich den Rest vorzustellen, bedurfte es keiner besonderen Phantasieleistung. Im Vollrausch hatte er versucht, die Glühsteine herauszubrechen, wobei ihm seine linke, von der alten Wunde behinderte Hand nicht besonders dienlich gewesen war. Dann hatte er wohl die Geduld verloren und wild drauflosgestochen, sich dabei verletzt und vor Schmerz und Wut das Messer fallen lassen.

Dirk ging einige Schritte zurück und machte einen weiten Bogen um Janaceks übelriechendes Hemd. Im Türrahmen blieb er stehen, hob sein Gewehr und schrie:

»Garsei.«

Janacek gab außer Schnarchen keinen Muckser von sich. Dirk rief noch einmal. Diesmal wurde das Schnarchgeräusch vernehmbar leiser. Ermutigt bückte sich Dirk und hob den nächstgelegenen Gegenstand — einen Glühstein — auf, und schleuderte ihn in die Richtung des Kavalaren. Er traf Janacek mitten im Gesicht.

Blinzelnd richtete sich der Mann langsam auf. Dann sah er Dirk und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse.

»Aufstehen«, befahl Dirk und winkte mit dem Laser.

Zitternd kam Janacek auf die Beine, sah sich aber sofort nach seiner eigenen Waffe um.

»Den Laser werden Sie nicht finden«, sagte Dirk höhnisch. »Ich habe ihn hier.«

Janaceks Augen waren verklebt und sahen müde aus, aber er schien seinen Rausch fast ausgeschlafen zu haben. »Was wollen Sie hier, t’Larien?« sagte er langsam und in einem Tonfall, der mehr Erschöpfung als die Nachwirkungen des Alkohols ausdrückte. »Sind Sie hergekommen, um über mich zu spotten?« Dirk schüttelte den Kopf. »Nein, Sie tun mir leid.«

Janacek starrte ihn ungläubig an. »Ich tue Ihnen leid?«

»Sie sind also nicht der Meinung, daß Sie Mitleid nötig haben? Sehen Sie sich einmal um!«


»Vorsichtig«, warnte Janacek. »Wenn Sie sich weiter über mich lustig machen, werde ich herausfinden, ob Sie Manns genug sind, diesen Laser abzufeuern, den Sie so ungeschickt halten.« »Lieber nicht, Garse«, sagte Dirk.

»Bitte, ich benötige Ihre Hilfe.« Janacek warf den Kopf in den Nacken und röhrte los. Als er sich müde gelacht hatte, erzählte ihm Dirk alles, was geschehen war, seit Myrik Braith von Vikary getötet wurde. Janacek hörte zu. Steif, die Arme eng vor seiner nackten, narbigen Brust verschränkt, stand er da. Als Dirk ihm seine Erkenntnisse über Ruark eröffnete, lachte er ein weiteres Mal. »Die Manipulatoren von Kimdiss«, murmelte er.

Dirk ließ ihn murmeln und beendete dann seine Geschichte. »Na und?« bemerkte Janacek danach. »Wie kommen Sie darauf, daß mich das alles etwas angehen könnte?«

»Ich meine, Sie sollten nicht zulassen, daß die Braiths Jaan wie ein Tier jagen.«

»Er hat sich selbst zum Tier gemacht.«

»Nach dem Recht der Braiths, wie ich annehme«, erwiderte Dirk. »Sind Sie ein Braith?« »Ich bin Kavalare.«

»Sind jetzt alle Kavalaren gleich?« Er zeigte auf den Steinkopf des Wasserspeiers, der im Kamin lag. »Wie ich sehe, nehmen Sie jetzt auch Trophäen, genau wie Lorimaar.«

Daraufhin erwiderte Janacek nichts. Seine Augen blickten sehr kalt. »Vielleicht hatte ich unrecht«, sagte Dirk, »aber als ich hier hereinkam und alles sah, wurde ich nachdenklich. Ich kam zu der Überzeugung, daß Sie möglicherweise doch dem Mann menschliche Gefühle entgegenbringen, der so lange Ihr teyn war. Ich erinnerte mich an Ihren Ausspruch, daß Sie und Jaan einen Bund eingegangen sind, der angeblich stärker ist als alles, was ich kenne. Aber das war wohl eine Lüge.« »Es war die Wahrheit. Jaan Vikary hat diesen Bund gebrochen.«

»Gwen brach schon vor Jahren alle Banden zwischen uns«, hielt Dirk ihm entgegen. »Aber als sie mich brauchte, bin ich gekommen. Gut, es stellte sich heraus, daß sie mich nicht wirklich brauchte, und die Gründe für mein Kommen waren zu einem großen Teil egoistischer Natur. Aber ich bin gekommen. Das können Sie mir nicht nehmen, Garse. Ich habe mein Versprechen gehalten.« Er machte eine Pause. »Und ich würde nicht erlauben, daß sie jemand jagt, wenn ich das verhindern kann. Mir scheint, zwischen uns bestand ein viel stärkerer Bund als euer kavalarisches Eisen-und-Feuer.«

»Sie können sagen, was Sie wollen, t’Larien. Sie ändern damit nichts. Allein der Gedanke, Sie hielten Versprechen, reizt mich zum Lachen. Was ist denn aus Ihren Versprechungen Jaan und mir gegenüber geworden?« i »Ich habe sie gebrochen«, sagte Dirk schnell.

»Das weiß ich wohl. Also stehen wir beide gleich, Garse.« »Ich habe niemanden verraten.«

»Sie lassen die Leute im Stich, die Ihnen am nächsten standen. Gwen, die Ihre cro-betheyn war, die mit Ihnen schlief, Sie liebte und gleichzeitig haßte. Und Jaan, Ihren prächtigen teyn.«

»Ich habe sie nie verraten«, sagte Janacek aufgebracht.

»Von dem Tag an, als sie zu uns stieß, verriet Gwen mich und das Jade-und-Silber, das sie trug. Und Jaan, in der Art, wie er Myrik tötete, hat alles Achtbare hinter sich gelassen. Er hat mich und die Pflichten, die mit Eisen-und-Feuer verbunden sind, einfach ignoriert. Ich schulde keinem der beiden etwas.«

»Oh nein, Sie nicht.« Unter dem Hemd fühlte Dirk das harte Flüsterjuwel auf seiner Haut. Es durchflutete ihn mit Worten und Erinnerungen, mit dem Geist des Mannes, der er einst gewesen war. Er wurde sehr wütend.

»Und das besagt schon alles, nicht wahr? Sie schulden ihnen nichts, wen kümmert es also? All eure verdammten Kavalarbünde bestehen im Endeffekt nur aus Schuld und Verpflichtung. Traditionen, alte Festhaltweisheiten wie der Duellkodex und die Spottmenschenjagd. Folge ihnen einfach, denke nur nicht darüber nach. Mit einer Sache hatte Ruark recht — keiner von euch kennt ein Gefühl wie Liebe. Außer Jaan vielleicht, und bei ihm bin ich mir auch nicht ganz sicher. Was zum Teufel wäre geschehen, wenn Gwen seinen Armreif nicht mehr getragen hätte?«

»Dasselbe!«

»Wirklich? Und was ist mit Ihnen? Haben Sie Myrik gefordert, nur weil er Gwen verletzt hat? Oder war der Grund ein anderer? Vielleicht, weil er Ihr Jade-und-Silber beschädigte?« schnauzte Dirk. »Möglicherweise hätte Jaan genauso gehandelt, nicht aber Sie, Janacek. Sie sind ein Kavalare wie Lorimaar einer ist, so förmlich wie Chell oder Bretan. Jaan wollte sein Volk aus den Niederungen herausführen, aber ich glaube, Sie waren nur zufällig dabei und kümmerten sich wenig um seine Absichten, die Sie ohnehin nicht guthießen.« Er zerrte Janaceks Laser aus dem Gürtel und warf ihn mit der freien Hand durch das Zimmer. »Hier«, rief er und senkte sein Gewehr. »Jagen Sie weiterhin Spottmenschen!«

Janacek war verblüfft. Mit einer Reflexbewegung fing er die Waffe aus der Luft. Dann wog er sie plump in der Hand und sagte mit finsterer Miene: »Ich könnte Sie jetzt töten, t’Larien.«

»Tun Sie es, oder lassen Sie es bleiben«, sagte Dirk.

»Darauf kommt es nun nicht mehr an. Wenn Sie Jaan jemals wirklich geliebt hätten …« »Ich liebe Jaan nicht«, fauchte Janacek mit hochrotem Gesicht. »Er ist mein teyn

Dirk ließ die Worte des Kavalaren eine Weile im Zimmer schweben. Gedankenvoll kratzte er sich am Kinn. »Ist?« fragte er dann. »Sie meinen doch wohl, Jaan war ihr teyn

Die Röte in Janaceks Gesicht verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Unter seinem Bart zuckte ein Mundwinkel auf eine Weise, die Dirk an Bretan erinnerte. Halb beschämt und beinahe verstohlen wanderte sein Blick über den schweren Eisenarmreif, der den blutverkrusteten Unterarm umspannte.

»Es gelang ihnen nicht, alle Glühsteine herauszubrechen, oder?« sagte Dirk einlenkend.

»Nein«, gab Janacek zu. Seine Stimme klang seltsam weich. »Nein, ich schaffte es nicht. Was natürlich nicht viel besagen will. Das gegenständliche Eisen zählt nicht mehr, wenn das andere Eisen nicht mehr ist.« »Es ist aber noch nicht verschwunden, Garse«, sagte Dirk. »Als wir zusammen in Kryne Lamiya waren, hat Jaan von Ihnen gesprochen. Daher weiß ich es. Vielleicht fühlt er sich auch mit Gwen durch Eisen verbunden, und vielleicht ist das falsch. Fragen Sie nicht mich. Alles, was ich weiß ist, daß für Jaan das andere Eisen noch existiert. Er trug seinen Eisen-und-Feuer-Armreif in Kryne Lamiya. Ich kann mir vorstellen, daß er ihn auch tragen wird, wenn ihn die Braithhunde zu Tode hetzen.«

Janacek schüttelte den Kopf. »T’Larien«, sagte er, »Ihre Mutter stammt von Kimdiss, darauf könnte ich schwören.

Dennoch kann ich Ihnen nicht widerstehen. Sie manipulieren zu gut.«

Er grinste, und es war wieder das alte Grinsen, das er an jenem Morgen zur Schau stellte, als er den Laser auf Dirk richtete und fragte, ob ihn das beunruhige. »Jaan Vikary ist mein teyn«, sagte er. »Was meinen Sie, was ich tun soll?«

Janaceks Bekehrung war langsam vor sich gegangen, aber sie war gründlich. Der Kavalare nahm die Sache sofort in die Hand. Dirk schlug vor, auf der Stelle aufzubrechen und alles weitere unterwegs zu beschließen, aber Janacek bestand darauf, sich zu duschen und umzuziehen. »Falls Jaan noch lebt, wird er bis zum Tagesanbruch in Sicherheit sein. Nachts sehen die Hunde nicht gut, und die Braiths werden nicht darauf erpicht sein, in einem dunklen Würgerwald umherzuirren. Nein, t’Larien, sie werden kampieren und abwarten. Ein einzelner Mann zu Fuß kann nicht weit kommen. Und so haben wir die Zeit, ihnen als echte Eisenjades gegenüberzutreten.«

Als sie zum Aufbruch bereit waren, sah man Janacek die hinter ihm liegenden Ausschweifungen nicht mehr an. Er hatte den Bart gesäubert und zurechtgestutzt, das dunkelrote Haar sorgfältig nach hinten gekämmt, und in seinem pelzbesetzten Anzug aus Chamäleonstoff sah er schlank und untadelig aus. Nur sein rechter Arm — gewaschen und vorsichtig bandagiert, aber dennoch auffällig — sprach gegen ihn. Allerdings schienen ihn die Schnittwunden in keiner Weise beeinträchtigt zu haben, es sah elegant und gekonnt aus, wie er seinen Laser in Anschlag brachte, ihn untersuchte und ins Halfter zurückgleiten ließ. Zusätzlich zu der Pistole trug Janacek noch ein langes zweischneidiges Messer und ein Gewehr wie Dirk. Als er es in die Hand nahm, grinste er fröhlich.

Während der Wartezeit hatte sich Dirk gewaschen und rasiert und dann die Gelegenheit wahrgenommen, sich zum erstenmal seit Tagen ein herzhaftes Mahl zu gönnen.

Als sie zum Dach hinaufstiegen, fühlte er sich voller Energie.

Im Inneren von Janaceks riesigem Gleiter war nicht viel mehr Platz als in der winzigen herrenlosen Maschine, mit der Dirk von Kryne Lamiya hierhergeflogen war, obgleich Janaceks Gefährt vier schmale Sitze statt zwei aufwies. »Die Panzerung«, bemerkte Garse, als ihn Dirk auf den begrenzten Innenraum ansprach. Er schnallte Dirk in einem harten, unkomfortablen Sitz fest, der durch eine Art Kampfverkleidung nochmals geschützt war, verfuhr selbst auf ähnliche Weise und hob den Gleiter ab.

Die Kabine war schwach beleuchtet und rundum geschlossen. Wohin man sah, befanden sich Apparaturen und Instrumente, sogar über den Türen. Dafür gab es keine Fenster. Vor dem Piloten vermittelten acht kleine Sichtschirme acht verschiedene Ansichten der Außenwelt. Das Dekor war schlicht: unverzierte, unlackierte Hartlegierung. »Dieses Fahrzeug ist älter als wir beide zusammen«, sagte Janacek beim Aufsteigen. Er schien ein Gespräch zu wünschen und war auf seine rauhe Art freundlich. »Und es hat mehr Welten gesehen als Sie. Seine Geschichte ist faszinierend. Dieses Modell hier wurde vor etwa vierhundert Standardjahren von den Weisheiten auf Dam Tullian gebaut und in deren Kriegen gegen Erikan und Strolchs Hoffnung eingesetzt. Nach etwa einem Jahrhundert wurde es beschädigt und zurückgelassen. Die Erikaner bauten es in Friedenszeiten um und verkauften es an die Stahlengel auf Bastion.

Diese setzten es bei einer Reihe von Feldzügen ein, bis schließlich Promethaner den Gleiter erbeuteten. Ein Kimdissihändler fand ihn auf Prometheus und verkaufte ihn mir, und ich führte ihn in den Duellkodex ein. Seither hat mich niemand mehr zum Luftkampf herausgefordert.

Passen Sie auf.« Er streckte die Hand aus und drückte einen Leuchtknopf ein. Die plötzliche Beschleunigung preßte Dirk in seinen Sitz zurück. »Zusatztriebwerke für Höchstgeschwindigkeiten«, sagte Janacek grinsend. »Wir werden nicht die halbe Zeit brauchen, die Sie benötigten, t’Larien.«

»Gut«, ließ sich Dirk vernehmen. In ihm nagte etwas.

»Sagten Sie, Sie hätten die Maschine von einem Kimdissihändler?« »Das stimmt«, erwiderte Janacek.

»Die friedfertigen Kimdissi sind im Waffenhandel ganz groß. Wie Sie wissen, habe ich für diese Manipulatoren wenig übrig, bietet sich mir aber ein gutes Geschäft, dann ziehe ich auch meinen Vorteil daraus.«

»Arkin machte aus seinem pazifistischen Standpunkt eine große Schau«, sagte Dirk. »Ich nehme an, das war alles Attrappe.« »Keineswegs«, erwiderte Janacek. Er lächelte und warf Dirk einen Seitenblick zu. »Schockiert Sie das, t’Larien? Die Wahrheit ist vielleicht noch bizarrer. Wir nennen die Kimdissi nicht ohne Grund Manipulatoren. Ich setze voraus, Sie haben auf Avalen Geschichte studiert?« »Ein wenig«, antwortete Dirk.

»Soweit es Alt-Erde, das Bundesimperium, den Doppelkrieg und die Expansion betraf.« »Aber nicht die Geschichte der Außenwelten«, sagte Janacek. »Das war zu erwarten. So viele Welten und Kulturen es im menschlichen Einflußbereich gibt, so viele Geschichtsprozesse existieren auch. Wollte man nur die einzelnen Namen lernen, man könnte sie unmöglich alle behalten. Hören Sie mir zu, und ich werde Ihnen etwas erzählen. Haben Sie den Fahnenkreis bemerkt, als Sie auf Worlorn landeten?« Entwaffnend erwiderte Dirk seinen Blick. »Nein.« »Nun, vielleicht sind sie jetzt nicht mehr an Ort und Stelle. Zur Zeit des Festivals jedenfalls flatterten auf dem Platz vor dem Landefeld vierzehn Fahnen. Eine absurde Selbstgefälligkeit der Toberianer, denn von den vierzehn Planetenflaggen bedeuteten zehn überhaupt nichts. Aber irgendwie setzten sie ihren Willen durch. Welten wie Eshellin und die Vergessene Kolonie wußten überhaupt nicht, was eine Fahne ist, während die Emereli das andere Extrem darstellten. Auf ihrem Planeten hatte jede der hundert Turmstädte ihr eigenes Banner. Die Dunklinge lachten uns alle aus und hißten ein pechschwarzes Tuch.« Diese Tatsache schien ihn sehr zu amüsieren. »Und was Hoch Kavalaan angeht, so hat wir keine Fahne für unsere Welt. Wir erfanden jedoch eine. Sie wurde aus der Geschichte entlehnt. Ein Rechteck, das in vier Rechtecke verschiedener Farbe unterteilt war: ein grüner Banshee auf schwarzem Feld für Eisenjade, Shanagates silberfarbene Jagdfledermaus auf Gelb, gekreuzte Schwerter auf Karmesinrot für Rotstahl, und für Braith ein weißer Wolf auf Purpur. Es war die alte Standarte der Hochleibeigenenliga. Man gründete die Liga ungefähr zu der Zeit, als die ersten Sternenschiffe nach Hoch Kavalaan zurückkehrten.

Damals lebte ein Mann, ein großer Führer, namens Vikor Hoch-Rotstahl Corben. Er war eine Generation lang die herausragende Persönlichkeit im Hochleibeigenenrat von Rotstahl, und als die Fremden kamen, war er überzeugt, daß sich alle Kavalaren vereinigen mußten, damit Wissen und Reichtum gleichmäßig verteilt würden. Aus diesem Grund schuf er die Hochleibeigenenliga,, deren Flagge ich Ihnen beschrieben habe. Leider war dieser Union nur eine kurze Lebensdauer beschieden. Kimdissihändler fürchteten die Macht eines vereinten Hoch Kavalaan und schlossen mit Braith einen Vertrag, der dieser Koalition als einziger moderne Waffen versprach. Die Hochleibeigenen von Braith waren der Liga nur aus Furcht beigetreten. Sie wollten die Sterne, die nach ihrer Ansicht ohnehin nur von Spottmenschen bewohnt wurden, lieber meiden. Was sie aber nicht daran hinderte, Spottmenschenlaser entgegenzunehmen. So kam es zum letzten Hochkrieg. Trotz der Kimdissiwaffen wurde , Braith von Eisenjade, Rotstahl und Shanagate geschlagen, aber Vikor Hoch-Rotstahl verlor dabei sein Leben, und die Verluste an Menschen waren ungeheuer.

Die Hochleibeigenenliga überdauerte ihren Gründer nur um wenige Jahre. Das schwer geschlagene Braith versteifte sich auf den Glauben, daß es von Kimdissi-Spottmenschen überlistet und mißbraucht worden war, um in der Folgezeit den alten Traditionen noch treuer ergeben zu sein als zuvor. Um den Frieden mit Blut zu unterzeichnen und ihn dauerhaft zu machen, ließ die Liga — nun von den Hochleibeigenen Shanagates beherrscht — alle Kimdissihändler auf Hoch Kavalaan und eine Schiffsbesatzung Toberianer gefangennehmen, erklärte sie zu Kriegsverbrechern — übrigens ein Begriff, den uns die Fremden beibrachten — und setzte sie in den Ebenen wieder aus, wo sie als Spottmenschen gejagt wurden.

Banshees töteten viele von ihnen, andere verhungerten, aber die meisten wurden von den Jägern erwischt, die ihre Köpfe als Trophäen nach Hause brachten. Es hieß, daß die Hochleibeigenen von Braith besondere Freude daran hatten, denjenigen Männern die Haut abzuziehen, von denen sie einst mit Waffen versorgt und unterrichtet worden waren.

Heute sind wir auf diese Jagd nicht mehr stolz, aber wir können die Gründe verstehen. Seit der Zeit des Feuers und der Dämonen war kein Krieg in unserer Geschichte länger und blutiger. Es war eine Zeit großen Leids und noch größeren Hasses, und sie zerstörte die Hochleibeigenenliga. Die Eisenjadeversammlung erklärte die Kimdissi zu Menschen. Dann zog sie sich aus der Liga zurück, denn sie konnte die Jagden nicht länger billigen. Rotstahl folgte bald darauf. Die Spottmenschenschlächter bestanden nur aus Braiths und Shanagates, und von da an war der Shanagate-Trutz mit sich in der Liga allein. Vikors Banner wurde vergessen, bis das Festival uns wieder daran erinnerte.« Hier unterbrach Janacek seine Erzählung und sah Dirk in die Augen. »Können Sie die Wahrheit jetzt erkennen, t’Larien?«

»Ich kann verstehen, warum Kavalaren und Kimdissi einander nicht leiden können«, gab Dirk zu.

Janacek lachte. »Es geht über Ihr Geschichtsverständnis hinaus«, sagte er. »Kimdiss hat keine Kriege geführt, aber diese Welt hat Blut an den Händen. Als Tober-im-Schleier Wolfheim angriff, unterstützten die Manipulatoren beide Seiten. Als auf pi-Emerel zwischen den Urbaniten, deren Universum ein einziges Gebäude ist, und den Sternensuchern, die nach erweitertem Horizont strebten, der Bürgerkrieg ausbrach, hatte Kimdiss wieder die Finger im Spiel und versorgte die Urbaniten mit kriegsentscheidendem Material.« Er grinste. »Ehrlich, t’Larien, es gibt sogar Gerüchte, wonach Kimdiss innerhalb des Schleiers seine Fäden spinnen soll. Man sagt, daß Agenten von Kimdiss die Stahlengel und die Veränderten Menschen von Prometheus gegeneinander aufgehetzt haben sollen, daß sie es waren, die den Vierten Cuchulainn von Tara absetzten, weil er sich weigerte, mit ihnen Handel zu treiben, daß sie auf Braque eingriffen, um die sich langsam regende technologische Entwicklung unter das Joch der Braquepriester zu zwingen. Kennen Sie die alte Religion von Kimdiss?« »Nein.«

»Die würde Ihnen bestimmt gefallen«, sagte Janacek.

»Ein außerordentlich komplexes Credo, friedlich und ungeheuer zivilisiert. Danach kann alles gerechtfertigt werden, nur persönliche Gewalttaten nicht. Ihr großer Prophet, der Sohn des Träumers — als mythische Figur verehrt, obwohl seine Lehren ins Gegenteil verkehrt wurden — sagte einst: ›Erinnert euch daran, euer Feind hat seinerseits einen Feind.‹ Das trifft genau zu. Und das nahmen sich die Kimdissi sehr zu Herzen, es ist der Kern ihrer Philosophie.«

Dirk bewegte sich unruhig auf seinem Sitz. »Und Sie meinen, daß Ruark …«

»Ich meine gar nichts«, unterbrach ihn Janacek.

»Ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse. Meine brauchen Sie nicht zu übernehmen. Gwen Delvano habe ich das früher auch alles gesagt. Weil sie meine cro-betheyn war und ich mich um sie sorgte. Sie war ziemlich erheitert. Die Geschichte, meinte sie, besage überhaupt nichts. Arkin Ruark stünde nur für sich selbst und nicht für einen Archetypus der Außenweltgeschichte. Dann weihte sie mich ein. Er war ihr Freund, mußte ich hören, und dieser Bund, diese Freundschaft« — seine Stimme ätzte wie Säure, als er dieses Wort aussprach — »wog irgendwie mehr als die Tatsache, daß er ein Lügner und Kimdissi war. Gwen empfahl mir, die Geschichte meines eigenen Volkes anzusehen. Falls die bloße Tatsache, als Kimdissi geboren zu werden, aus Arkin Ruark einen Manipulator mache, dann sei ich ein Sammler von Spottmenschenköpfen, weil ich ein Kavalare bin.« Dirk überlegte kurz. »Da hatte sie nicht ganz unrecht«, sagte er leise. »Oh? Tatsächlich?«

»Ihr Argument war richtig«, sagte Dirk. »Wie es scheint, täuschte sie sich in Ruark, aber im allgemeinen …«

»Im allgemeinen ist es besser, allen Kimdissi zu mißtrauen«, sagte Janacek selbstsicher. »Man hat Sie betrogen und ausgenutzt, t’Larien, und Sie ziehen keine Lehren daraus. Sie gleichen Gwen aufs Haar. Genug davon jetzt.«

Mit dem Knöchel seines Zeigefingers pochte er auf einen der Sichtschirme. »Die Berge liegen direkt vor uns.

Nun dauert es nicht mehr lange.«

Dirk hielt sein Lasergewehr krampfhaft umfaßt. Er begann zu schwitzen und mußte die Handflächen an der Hose abwischen. »Haben Sie einen Plan?«

»Ja«, sagte Janacek grinsend. Und damit lehnte er sich zu Dirk hinüber und schnappte sich den Laser von Dirks Beinen. »Es ist in Wirklichkeit ein ganz einfacher Plan«, fuhr er fort und setzte die Waffe außer Reichweite vorsichtig ab. »Ich werde Sie Lorimaar übergeben.«

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