Dirk war kaum überrascht. Unter seinen Kleidern schmiegte sich das Flüsterjuwel kalt an seine Haut und erinnerte ihn an vergangene Versprechen und vergangene Treuebrüche. Nun waren sie ihm fast gleichgültig. Er verschränkte die Arme und wartete.
Janacek sah enttäuscht aus. »Es scheint Sie nicht schwer zu treffen«, sagte er.
»Es spielt keine Rolle, Garse«, antwortete Dirk. »Ich habe den Tod erwartet, als ich Kryne Lamiya verließ.« Er seufzte. Janacek antwortete nicht gleich, seine blauen Augen schätzten Dirk vorsichtig ab. »Sie verändern sich, t’Larien«, sagte er schließlich. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. »Kümmert Sie Jaan Vikarys Schicksal tatsächlich mehr als Ihr eigenes?«
»Wie soll ich das wissen?« sagte Dirk. »Wie geht Ihr Plan weiter?« Janacek zog die Stirn in Falten.
»Ursprünglich erwog ich, eine Landung mitten im Lager der Braiths, eine direkte Konfrontation. Das schien mir aber nicht gut genug zu sein. Meine Todessehnsucht ist noch nicht so weit gediehen wie die Ihre. Theoretisch hätte ich einen oder mehrere der Jäger zum Duell fordern können, aber das wäre als Unterstützung eines Kriminellen ausgelegt worden, der außerhalb aller Bünde steht. Sie hätten sich mir niemals zum Kampf gestellt. Im Augenblick ist mein eigener Status unbedeutend. Nach meinem Reden und Handeln in Challenge stufen mich die Braiths als menschlich, aber ehrlos ein. In ihren Augen würde ich mich selbst verdammen, wenn ich offen danach trachtete, Jaan zu helfen. Die Höflichkeiten des Kodexes hätten nicht länger Gültigkeit. Ich würde selbst zum Kriminellen, zum potentiellen Spottmenschen werden.
Als zweite Alternative kam ein plötzlicher Überfall auf sie in Betracht. Ohne Warnung zuzuschlagen und so viele wie möglich zu töten. Bis jetzt bin ich aber noch nicht so verdorben, diese Möglichkeit ernsthaft zu erwägen.
Gegen ein solches Verbrechen würde selbst das, was Jaan mit Myrik gemacht hat, sauber aussehen.
Das beste wäre natürlich, wenn wir Jaan ausfindig machen und ihn heimlich und sicher abtransportieren könnten. Dafür sehe ich aber wenig Hoffnung. Die Braiths haben Hunde, wir haben keine. Sie sind erfahrene Jäger und Fährtenleser, besonders Pyr Braith Oryan und Lorimaar Hoch-Braith. Ich bin auf diesem Gebiet weniger geübt, und Sie sind nutzlos. Alles spricht dafür, daß sie Jaan vor uns finden würden.« »Also?« sagte Dirk.
»Indem ich Jaan überhaupt helfe, erweise ich mich schon als falscher Kavalare«, bemerkte Janacek in leicht besorgtem Tonfall. »Deshalb werde ich auch noch ein bißchen falscher sein. Darin liegt unsere beste Chance.
Wir fliegen ganz unverblümt zu ihnen, und ich werde Sie ausliefern, wie ich gesagt habe. Dieser Akt sollte mich in ihrer Gunst wieder steigen lassen. Dann werde ich mich an der Jagd beteiligen und nach Kräften versuchen, dem Morden Einhalt zu gebieten. Vielleicht kann ich einen Streit provozieren oder auf eine andere Art und Weise einige Braiths zum Duell fordern, ohne daß sofort meine Absicht enthüllt wird, Jaan Vikary zu beschützen.« »Sie könnten den kürzeren ziehen«, warnte Dirk. Janacek nickte. »Das ist richtig. Ich könnte verlieren. Aber ich glaube nicht daran. Im Zweikampf stellt nur Bretan Braith Lantry einen gefährlichen Gegner dar. Er und sein teyn befinden sich jedoch nicht unter den Jägern, falls Sie alle Gleiter gesehen und richtig erkannt haben. Lorimaar ist ein fähiger Mann, aber Jaan hat ihn in Challenge verwundet. Pyr ist schnell und mit seinem kleinen Stock recht talentiert, aber Klingen oder Handfeuerwaffen liegen ihm nicht. Sonst gibt es nur noch alte Männer oder Schwächlinge. Ich würde nicht verlieren.« »Und falls Sie die Braiths nicht zu Duellen bewegen können?« »Dann kann ich in der Nähe sein, wenn sie Jaan hetzen.«
»Und dann?«
»Ich weiß nicht. Aber sie werden ihn nicht erwischen.
Das kann ich Ihnen versprechen, t’Larien. Sie werden ihn nicht erwischen!« »Und was wird in der Zwischenzeit aus mir?«
Janacek sah zu ihm herüber, und wieder betrachteten ihn die blauen Augen gedankenvoll. »Sie werden in großer Gefahr sein«, sagte der Kavalare, »aber ich glaube nicht, daß Sie auf der Stelle umgebracht werden, ganz besonders dann nicht, wenn ich sie gebunden und hilflos abliefere. Sie wollen bestimmt eine Jagd mit Ihnen veranstalten. Wahrscheinlich wird Pyr Besitz auf Sie anmelden. Ich hoffe, man nimmt Ihnen die Fesseln ab, zieht Sie nackt aus und läßt Sie in den Wald rennen.
Wenn einige Jagd auf Sie machen, sind es schon weniger, die hinter Jaan herhetzen. Es gibt auch noch eine andere Möglichkeit. In Challenge gerieten Pyr und Bretan über Sie beinahe in Streit. Sollte sich Bretan jemals den Jägern anschließen, dann stehen die Chancen gut, daß dieser Konflikt wieder auflebt. Davon können wir nur profitieren.« Dirk lächelte. »Dein Feind hat seinerseits einen Feind«, sagte er sardonisch.
Janacek verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich bin kein Arkin Ruark«, sagte er. »Ich helfe Ihnen, so gut ich kann. Bevor wir das Lager der Braiths anfliegen, werden wir — ungesehen, wenn es geht — eine Zwischenlandung machen. Der abgestürzte, ausgebrannte Gleiter, den Sie sahen, wird unser Ziel sein. Wir verstecken Ihren Laser im Wrack. Dann, nachdem man Sie freigelassen hat und Sie nackt durch den Wald rennen, müssen Sie versuchen, die Waffe zu erreichen und Ihre Verfolger zu überraschen.« Er zuckte die Achseln. »Ihr Leben kann davon abhängen, wie schnell und in welche Richtung Sie laufen, und ob Sie mit Ihrem Gewehr im entscheidenden Augenblick treffen.« »Und ob ich töten kann«, fügte Dirk hinzu.
»Und ob Sie töten können«, wiederholte Janacek.
»Bessere Chancen kann ich Ihnen nicht anbieten, t’Larien.«
»Ich akzeptiere sie trotzdem«, sagte Dirk. Dann schwiegen sie längere Zeit. Aber als die schwarzen Zacken des Bergmassivs unter ihnen hinweggeglitten waren und Janacek die Lichter des Gleiters gelöscht und ihren langsamen, vorsichtigen Abstieg eingeleitet hatte, wandte sich Dirk ihm wieder zu. »Was hätten Sie getan, wenn ich mit Ihrem Schwindel nicht einverstanden gewesen wäre?« fragte er. Garse Janacek rutschte auf seinem Sitz herum und legte die rechte Hand auf Dirks Arm. Die unberührten Glühsteine brannten schwach im Eisen seines Armreifs. »Der Bund von Feuer-und-Eisen ist stärker als alles, was Sie kennen«, sagte der Kavalare mit ernster Stimme, »und viel stärker als alle Bünde vergänglicher Dankbarkeit. Hätten Sie sich geweigert, t’Larien … ich hätte Ihnen die Zunge aus dem Mund geschnitten, um zu verhindern, daß Sie den Braiths meine Pläne verraten könnten. Dann wäre ich weiter so vorgegangen wie bisher. Willentlich oder nicht, Sie hätten sich mit Ihrer Rolle abfinden müssen. Verstehen Sie mich richtig, t’Larien, ich hasse Sie nicht, obwohl Sie meinen Haß schon mehrere Male verdient hätten.
Manchmal habe ich mich sogar dabei ertappt, wie ich Ihnen Sympathie entgegenbrachte, soviel Sympathie, wie ein Eisenjade für einen außerhalb aller Bünde Stehenden aufbringen kann. Ich hätte Ihnen kein Leid aus reiner Bosheit zugefügt. Dennoch hätte ich Sie verletzt, wenn es meinem Plan dienlich gewesen wäre. Er ist Jaan Vikarys einzige Hoffnung.«
Als er sprach, konnte Dirk in Janaceks Gesicht nicht die kleinste Spur von Humor entdecken. Diesmal war es kein Spaß für ihn.
Dirk blieb nicht viel Zeit, um über Janaceks Worte nachzudenken. Wie ein unglaublich leichter Felsblock fielen sie durch die Nacht und huschten geisterhaft über die Spitzen der Würger. Das Wrack glimmte noch schwach orangerot, und ein Rauchvorhang verdunkelte seine Umrisse. Auch schienen einige der umgestürzten Würgerstämme noch zu brennen, denn von ihnen stammte offenbar der Rauch. Janacek ließ den Gleiter über der Absturzstelle schweben, öffnete eine der dickgepanzerten Türen und warf das Lasergewehr hinaus, das einige Meter unter ihnen auf den umgepflügten Boden schlug. Auf Dirks Verlangen hin ließ er noch die Braithjacke folgen, die Dirk getragen hatte. Das schwere Leder und der Pelzbesatz waren für einen Mann, der nackt durch den Wald rannte, sicherlich ein Geschenk des Himmels. Danach stiegen sie wieder senkrecht in den nachtschwarzen Himmel auf, und Janacek fesselte Dirk an Händen und Füßen. Die dünnen Schnüre schnitten tief in das Fleisch und drohten die Blutzirkulation zu unterbinden. Alles sah sehr echt aus. Nachdem Janacek Innenbeleuchtung und Scheinwerfer wieder eingeschaltet hatte, beschleunigte er den Gleiter und hielt geradewegs auf den Lichtkreis zu.
Die Braithhunde schliefen angebunden am Wasserrand, aber als der fremde Gleiter sich herabsenkte, erwachten sie, und als Janacek landete, heulten sie schon um die Wette. Nur einer der Braiths hielt Wache. Es war der Haut-und-Knochen-Jäger, dessen schwarzes, ungekämmtes Haar nach allen Seiten abstand und den Eindruck machte, als wäre es mit Kohlenstaub festgebacken. Dirk wußte, daß es sich um Pyrs teyn handelte, aber er kannte nicht seinen Namen. Der Mann saß an einem heruntergebrannten Lagerfeuer gleich neben den Braithhunden, das Lasergewehr neben sich. Beim ersten Geräusch der Hunde war er jedoch sofort auf den Beinen.
Janacek entriegelte die massive Kabinentür, schwang sie kraftvoll nach oben und ließ die kalte Nachtluft hereinströmen. Er zog Dirk auf die Füße und stieß ihn unsanft nach draußen, wo er ihn in den kühlen Sand niederzwang.
»Eisenjade«, sagte der Wächter verächtlich. Nun begannen sich seine kethi aus ihren Schlafsäcken zu schälen oder wurden von den Gleitern ausgespien.
»Ich habe ein Geschenk für Euch«, sagte Janacek, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ein Angebot Eisenjades an Braith.« Von seiner knienden Position aus sah Dirk, daß mittlerweile sechs Jäger zusammengekommen waren. Sie hatten sich alle auch an der Jagd in Challenge beteiligt. Der kahle, stämmige Pyr schien im Freien, nicht weit von seinem teyn entfernt, geschlafen zu haben. Er war als erster zur Stelle. Kurz danach gesellten sich Roseph Hoch-Braith und sein stiller muskulöser Begleiter dazu. Auch diese beiden hatten neben ihrem Gleiter auf dem Waldboden geschlafen. Zuletzt tauchte Lorimaar Hoch-Braith Arkellor auf. Seine linke Brustseite war stark bandagiert. Auf den Arm des dicken Mannes gestützt, der schon früher mit ihm zusammen gewesen war, kam er langsam aus dem wuchtig wirkenden roten Gleiter. Alle sechs erschienen so, wie sie geschlafen hatten — angezogen und bewaffnet.
»Das Geschenk ist uns willkommen, Eisenjade«, sagte Pyr. Er trug die Handfeuerwaffe an seinem schwarzen, metallischen Gürtel, den Stock hatte er jedoch nicht bei sich, und ohne ihn sah er fast unvollständig aus.
»Aber Eure Anwesenheit behagt uns gar nicht«, sagte Lorimaar und drängte sich in den Kreis. Den größten Teil seines Gewichtes schien er auf seinen teyn verlagert zu haben, der unter der Last niedergedrückt und bucklig aussah und nicht mehr der Riese zu sein schien, der er einst gewesen war. Und Dirk, der ihn sich genau ansah, glaubte trotz der Dunkelheit Runzeln zu erkennen, gezeichnete Haut — frisch eingegrabene Falten des Schmerzes.
»Es liegt inzwischen klar auf der Hand, daß die Duelle, für die man mich zum Schiedsrichter bestimmte, niemals stattfinden werden«, verkündete Roseph ganz ohne den feindseligen Unterton, der Lorimaars Stimme so reichlich ausstattete. »Daher habe ich keine besondere Autorität mehr und kann folglich auch nicht mehr für Hoch Kavalaan oder Braith sprechen. Doch ich bin mir sicher, für uns alle sprechen zu können. Wir tolerieren Eure Störung nicht, Eisenjade, Blutgeschenk oder nicht.«
»Richtig«, stimmte Lorimaar bei.
»Ich will nicht stören«, sagte Janacek, »ich will mich Euch anschließen.«
»Wir jagen Euren teyn«, warf Pyrs Begleiter ein. »Das weiß er«, fauchte Pyr.
»Ich habe keinen teyn«, erwiderte Janacek. »Ein Tier, das mein Eisen-und-Feuer trägt, streift durch die Wälder.
Ich will euch helfen, es zur Strecke zu bringen und ihm abnehmen, was mir gehört.« Seine Stimme klang sehr hart und sehr überzeugend.
Einer der Hunde lief unaufhörlich auf und ab und riß an seiner Kette. Er knurrte, verzog sein Rattengesicht vor Janacek und zeigte ihm zwei gefährlich aussehende Reihen gelber Zähne. »Er ist ein Lügner«, schrie Lorimaar Hoch-Braith. »Selbst unsere Hunde können sein Lügen wittern. Sie mögen ihn nicht.« »Einen Spottmenschen«, fügte sein teyn hinzu.
Garse Janacek drehte seinen Kopf nur ganz leicht. Das tanzende Licht des Feuers beleuchtete seinen Bart, während er sein dünnes, bedrohliches Lächeln lächelte.
»Saanel Braith«, sagte er, »Euer teyn ist verwundet und beleidigt mich straffrei. Er weiß, daß ich ihn nicht zur Rechenschaft ziehen kann. Für Euch gelten diese Vergünstigungen nicht.« »Im Augenblick schon«, griff Roseph ein. »Das ist ein Trick, den wir Euch nicht durchgehen lassen, Eisenjade. Ihr werdet Euch nicht einzeln mit uns duellieren und auf diese Weise Euren aus dem Bund gefallenen teyn retten.«
»Ich schwor, daß ich ihn nicht retten werde. Ich habe keinen teyn.
Ihr könnt mir meine, dem Kodex unterliegenden Rechte nicht nehmen.« Der kleine, zusammengeschrumpfte Roseph — einen halben Meter kleiner als die anderen Kavalaren — starrte Janacek an und weigerte sich nachzugeben. »Wir sind auf Worlorn«, sagte er. »Und wir machen, was wir wollen.« Mehrere der anderen grummelten Beifall. »Ihr seid Kavalaren«, blieb Janacek hart, aber in seinen Gesichtsausdruck schlichen sich Zweifel. »Ihr seid Braiths und Hochleibeigene von Braith, gebunden an euren Festhalt, euren Rat und dessen Entscheidungen.« »In früheren Jahren«, sagte Janacek lächelnd. »Ich sah viele meiner kethi und noch mehr Männer anderer Festhalte die alten Weisheiten aufgeben. ›Dieses und jenes ist falsch‹, pflegten die gezierten Eisenjades zu sagen. ›Da können wir nicht mitmachen.‹ Und die Schafe von Rotstahl echoten hinterher, ebenso die weibischen Männer von Shanagate und leider auch viele Braiths. Sind meine Erinnerungen falsch? Ihr steht vor uns und heißt uns, den Kodex einzuhalten — aber erinnere ich mich etwa nicht daran, wie mir die Eisenjades in meiner Jugend sagten, ich dürfe nicht länger Spottmenschen jagen? Habe ich die weichen Kavalaren falsch in Erinnerung, die nach Avalon gesandt wurden, um alles über Raumschiffe, moderne Waffen und ähnlichen Dingen herauszufinden?
Sie kamen voller Lügen zurück, behaupteten, daß wir uns auf diese oder jene Weise zu verändern hätten und daß so vieles von unserem alten Kodex schändlich sei — wo er uns doch so lange zum Stolz gereichte. Sagt mir, Eisenjade, habe ich unrecht?«
Garse sagte nichts. Er verschränkte die Arme eng vor der Brust. »Jaan Vikary, einst Hoch-Eisenjade, war der größte Veränderer, dieser Lügner. Ihr kamt nicht weit hinter ihm«, sagte Lorimaar. »Ich war niemals auf Avalon«, gab Janacek einfach zurück. »Antwortet mir«, schaltete sich Pyr wieder ein. »Habt Ihr und Vikary nicht danach getrachtet, die alten Wege zu verändern? Habt ihr nicht jene Teile des Kodexes verlacht, die von Euch abgelehnt wurden?« »Ich habe niemals den Kodex gebrochen«, sagte Janacek. »Jaan allerdings … Jaan hatte manchmal …« Er brach ab. »Er gibt alles zu«, sagte der dicke Saanel.
»Wir haben uns abgesprochen«, sagte Roseph mit ruhiger Stimme. »Wenn Hochleibeigene außerhalb des Kodexes töten dürfen, wenn die Dinge, die wir als wahr ansehen, verändert und mißachtet werden, dann können auch wir uns ändern, um die falschen Weisheiten zu vermeiden. Wir sind nicht mehr an Braith gebunden, Eisenjade. Braith ist der beste unter den vier Festhalten, aber das reicht nicht aus. Unsere alten kethi haben sich zu viele der zuckrigen Lügen zu Herzen genommen. Wir werden uns nicht länger davon verwirren lassen. Wir werden zu jenen alten, wahren Grundsätzen zurückkehren, die Bestand hatten, bevor Bronzefaust fiel.
Die in die Tage zurückreichen, da Eisenjade und Taal und der Tiefkohlenhort in den Lameraanbergen gemeinsam gegen die Dämonen kämpften.«
»Ihr seht, Eisenjade«, sagte Pyr, »Ihr habt uns beim falschen Namen genannt.«
»Das wußte ich nicht«, gab Janacek langsam zu.
»Redet uns richtig an. Wir sind keine Braiths.«
Die Augen des Eisenjade schienen dunkel und überschattet. Er hielt die Arme noch immer verschränkt.
Dann sah er Lorimaar direkt ins Gesicht. »Ihr habt also einen neuen Festhalt gegründet«, platzte er heraus. »Das ist nichts Neues«, sagte Roseph. »Rotstahl wurde von den Abspaltern des Glühsteinberges geboren, und Braith selbst entwuchs Bronzefaust.«
»Ich bin Lorimaar Rein Winterfuchs Hoch-Lorfeyn Arkellor«, sagte Lorimaar mit seiner harten, schmerzerfüllten Stimme. »Ehre Eurem Festhalt«, antwortete Janacek geflissentlich, »Ehre Eurem teyn.«
»Wir alle sind Larteyns«, stellte Roseph fest.
Pyr lachte. »Wir sind der Hochleibeigenenrat von Larteyn, und wir halten am alten Kodex fest.«
In der Stille, die nun folgte, wanderten Janaceks Augen von einem Gesicht zum anderen. Dirk, der noch immer hilflos im Sand kniete, sah, wie sein Kopf sich langsam bewegte. »Ihr habt Euch selbst Larteyns genannt«, sagte Janacek endlich, »also seid Ihr auch Larteyns. Das steht nicht im Widerspruch zu den alten Weisheiten. Dennoch muß ich Euch daran erinnern, daß die Dinge, von denen Ihr sprecht, die Männer und Lehren, die Ihr zitiert, längst tot sind. Die Festhalte, denen Ihr nacheifert, gibt es nicht mehr. Bronzefaust und Taal wurden in Hochkriegen zerstört, bevor Ihr geboren wurdet, und den Tiefkohlenhort flutete man gar schon zu der Zeit des Feuers und der Dämonen.« »Ihre Weisheiten leben in Larteyn weiter«, sagte Saanel. »Ihr seid nur sechs«, bemerkte Janacek, »und Worlorn ist eine sterbende Welt.«
»Unter uns wird sie wieder aufblühen«, sagte Roseph.
»Die Neuigkeit wird sich auf Hoch Kavalaan herumsprechen, und andere werden kommen. Unsere Söhne werden hier geboren werden und in den Würgerwäldern jagen.«
»Ganz wie Ihr wollt«, sagte Janacek. »Das geht mich nichts an. Eisenjade liegt mit Larteyn nicht in Fehde. Ich komme offen zu Euch und bitte Euch, an der Jagd teilnehmen zu dürfen.« Seine Handfläche klatschte auf Dirks Schulter. »Und ich bringe Euch ein Blutgeschenk.«
»Wahr«, sagte Pyr und war für einen Moment still. Dann wandte er sich an die anderen. »Nehmt ihn auf, sage ich.«
»Nein«, widersprach Lorimaar. »Ich traue ihm nicht. Er ist zu begierig.«
»Aus gutem Grund, Lorimaar Hoch-Larteyn«, sagte Janacek. »Große Schande ist über mich und meinen Festhalt gekommen. Ich möchte mich von ihr säubern.«
»Ein Mann muß seinen Stolz bewahren, ganz gleich, wie groß der Schmerz ist«, sagte Roseph nickend. »Das trifft auf jeden zu.« »Laßt ihn jagen«, sagte nun auch Rosephs teyn. »Wir sind zu sechst, und er ist allein. Wie kann er uns etwas anhaben?« »Er ist ein Lügner!«
Lorimaar blieb unbeirrt. »Wie hat er uns hier gefunden?
Fragt Euch das! Und seht nur!« Er deutete auf Janaceks rechten Arm, an dem die Glühsteine wie rote Augen aus ihren Fassungen leuchteten. Nur wenige fehlten.
Mit der Linken fuhr Janacek an sein Messer und zog es aus der Scheide. Dann hielt er Pyr seinen rechten Arm hin. »Helft mir, ihn ruhig zu halten«, sagte er, »und ich werde Jaan Vikarys falsches Feuer herausbrechen. «
Pyr tat wie ihm geheißen. Niemand sprach. Janaceks Hand arbeitete schnell und sicher. Als er fertig war, lagen die Glühsteine im Sand verstreut und glimmten wie Kohlen eines ausgetretenen Feuers. Er bückte sich, hob einen auf, warf ihn leicht hoch und fing ihn wieder, als wollte er sein Gewicht prüfen. Dabei lächelte er die ganze Zeit. Dann riß er den Arm nach hinten und warf kraftvoll. Der Stein wurde weit und hoch hinaufgetragen, bevor er wieder fiel. Am Ende seines Bogens, beim Fallen, sah er beinahe wie eine Sternschnuppe aus. Dirk erwartete beinahe, daß es zischte, wenn der Stein die Wasseroberfläche berührte. Auf diese Entfernung war jedoch nichts zu hören, nicht einmal ein Aufklatschen.
Janacek nahm alle Glühsteine auf, einen nach dem anderen, rollte sie kurz in seiner Handfläche und übergab sie dem See. Als der letzte verschwunden war, wandte er sich wieder den Jägern zu und hielt ihnen den rechten Arm hin. »Leeres Eisen«, sagte er. »Seht her, mein teyn ist tot.« Danach gab es keinen Ärger mehr.
»Die Dämmerung zieht herauf«, sagte Pyr. »Laßt meine Beute frei.« Die Jäger wandten ihre Aufmerksamkeit Dirk zu, und alles lief genauso ab, wie man es ihm erzählt hatte. Sie schnitten ihm die Fesseln durch und gestatteten ihm, sich Hand- und Fußgelenke zu massieren, um das Blut wieder in Bewegung zu setzen.
Dann wurde er gegen einen Gleiter gedrückt, und Roseph und der dicke Saanel hielten ihn fest, während Pyr selbst ihm die Kleider aufschlitzte. Der kahle Jäger ging mit seinem kleinen Messer genauso geschickt um wie mit dem Stock, aber er nahm keine Rücksicht. An der Innenseite von Dirks Schenkel hinterließ er einen langen Schnitt und auf der Brust einen kürzeren, aber dafür tieferen.
Als Pyr ihn verletzte, begann Dirk zu wimmern, raffte sich jedoch nicht zum Widerstand auf. Auch sein Rücken, den die gnadenlosen Braiths zu fest an die kalte Metallflanke des Gleiters preßten, begann zu schmerzen.
Dann war er endlich nackt und zitterte im kühlen Wind.
Plötzlich fiel Pyr etwas auf. »Was ist das?« fragte er und umfaßte das Flüsterjuwel auf Dirks Brust mit seiner kleinen weißen Hand. »Nein«, sagte Dirk.
Pyr zog und zerrte ein paarmal daran. Die dünne Silberkette grub sich schmerzhaft in Dirks Hals, dann brach das Flüsterjuwel aus seiner improvisierten Halterung.
»Nein!« schrie Dirk. Er warf sich plötzlich nach vorn und begann zu kämpfen. Roseph stolperte, mußte seinen Griff um Dirks rechten Arm lockern und ging zu Boden.
Saanel war nicht abzuschütteln. Dirk schlug ihm hart gegen den Hals, direkt unterhalb des fetten Kinns.
Fluchend ließ der dicke Mann los, und Dirk warf sich auf Pyr.
Der hatte jedoch seinen Stock aufgehoben und lächelte.
Mit einem schnellen Schritt war Dirk bei ihm und … hielt inne. Dieses Zögern genügte. Von hinten legte ihm Saanel seinen dicken Arm um den Hals und nahm ihn so fest in den Schwitzkasten, daß ihm die Sinne zu schwinden drohten.
Gelangweilt sah Pyr zu. Er steckte seinen Stock in den Sand und drehte das Flüsterjuwel zwischen Daumen und Zeigefinger. »Spottmenschenschmuck«, stieß er angewidert hervor. Ihm bedeutete er nichts, sein Gehirn war kein Resonanzkörper für die winzigen Espersignale, die der Edelstein ausstrahlte. Vielleicht bemerkte er, wie kalt die kleine Träne in seiner Hand lag, vielleicht auch nicht — aber auf keinen Fall vernahm er das Flüstern. Er rief seinen teyn, der gerade damit beschäftigt war, Sand in das Feuer zu treten. »Hättest du gern ein Geschenk von t’Larien?« Wortlos kam der Mann herüber, nahm das Juwel, musterte es kurz und steckte es dann in seine Jackentasche. Ohne Gefühlsregung wandte er sich ab und umrundete das Lager, wobei er die Handscheinwerfer löschte, die ringförmig im Sand steckten. Als die Lichter ausgingen, sah Dirk, daß es am östlichen Horizont langsam Tag wurde. Pyr zeigte mit dem Stock auf Saanel. »Laß ihn frei«, ordnete er an. Der dicke Mann entließ Dirk aus seinem Würgegriff und trat zurück.
Dirks Hals tat fürchterlich weh, und der trockene Sand unter seinen Füßen war rauh und kalt. Er kam sich entsetzlich schutzlos vor. Ohne das Flüsterjuwel hatte er jetzt Angst. Er sah sich nach Garse Janacek um, aber der Eisenjade befand sich auf der anderen Seite des Lagers und redete hastig auf Lorimaar ein.
»Die Morgendämmerung ist schon heraufgezogen«, sagte Pyr. »Ich kann dich schon jetzt verfolgen, Spottmensch. Lauf!« Dirk warf einen Blick zur Seite.
Roseph sah wütend drein und massierte seine Schulter, als Dirk sich losgerissen hatte, war er hart gefallen.
Saanel lehnte hämisch grinsend am Gleiter. Dirk wich vor ihnen zurück, machte ein paar zögernde Schritte auf den Wald zu. »Komm schon, t’Larien, ich bin sicher, du kannst noch schneller laufen«, rief ihm Pyr zu. »Wenn du schnell genug rennst, bleibst du am Leben. Wir werden auch nur zu Fuß sein, mein teyn, meine Hunde und ich.«
Er zog seine Handfeuerwaffe und warf sie Saanel zu, der sie mit seinen großen, wurstfingerigen Händen fing. »Ich werde keinen Laser tragen, t’Larien«, fuhr Pyr fort. »Es wird eine einfache, saubere Jagd der ältesten Art geben.
Ein Jäger mit Messer und Wurfklinge, eine nackte Beute.
Lauf, t’Larien, lauf!« Sein knochiger, schwarzhaariger Begleiter war herübergekommen, um sich ihm anzuschließen. »Mein teyn«, trug Pyr ihm auf, »binde unsere Hunde los.« Dirk fuhr herum und rannte in Richtung Waldrand davon.
Die Flucht hätte einem Alptraum entsprungen sein können. Er war kaum drei Meter in den Wald eingedrungen, da schlug er sich den Fuß an einem scharfen Stein auf und begann zu humpeln. Aber dieser Stein war nicht der einzige, und alle schienen es ausgerechnet auf seine ungeschützten Füße abgesehen zu haben. Die Stiefel hatten ihm die Jäger abgenommen.
Seine Kleider vermißte er ebenfalls. Im Schutz der Bäume, wo der Wind nicht so eisig pfiff, war es zwar besser, aber er fror immer noch erbärmlich. Eine Zeitlang hatte er Gänsehaut, die dann aber wich. Andere Schmerzen drängten sich in den Vordergrund und ließen die Kälte weniger wichtig erscheinen.
In der Wildnis der Außenwelt war es zu dunkel und zu hell. Zu dunkel, um den Weg zu erkennen. Er stolperte über Wurzeln, schürfte sich Knie und Handflächen auf, trat in Löcher. Aber es war auch zu hell. Die Dämmerung zog zu schnell, viel zu schnell, herauf. Verzweifelt ge-wahrte er das Licht, das die Umrisse der Bäume immer deutlicher hervortreten ließ. Er verlor sein Leuchtfeuer.
Jedesmal, wenn er eine Lichtung erreichte, sah er nach oben, jedesmal, wenn er freie Sicht durch das dichte, überhängende Laubwerk hatte, konnte er es gerade noch ausmachen. Ein einzelner, leuchtendroter Stern: Hoch Kavalaans Sonne, die flammend am Firmament stand.
Garse hatte auf diesen Stern hingewiesen und ihm gesagt, er sollte ihm folgen, falls er von seinem Weg abkäme. Er würde ihn durch die Wälder zu seinem Laser und der Jacke leiten. Aber die Morgendämmerung kam, kam zu schnell. Die Braiths, die sich jetzt Larteyns nannten, hatten die Jagd zu lange hinausgeschoben. Und jedesmal, wenn er hinaufsah und den richtigen Weg herauszufinden versuchte, jedesmal, wenn er nach seinem Leitstern suchte, war dieser schwächer geworden, sah verwaschener aus. Und vor ihm wurde der Wald immer dichter und knorriger. Die Würger formten an manchen Stellen eine undurchdringliche Mauer und zwangen ihn zu Umwegen, aber in allen Richtungen sah es gleich aus, und man konnte sich leicht verlaufen. Das Licht im Osten hatte eine rötliche Färbung angenommen. Dort irgendwo erhob sich Fetter Satan, um seinen Wegweiser aus dem morgendlichen Zwielichthimmel zu waschen. Er versuchte, noch schneller zu laufen.
Er hatte weniger als einen Kilometer zurückzulegen, weniger als einen Kilometer. Aber nackt in einer urwüchsigen Wildnis, den Tod vor Augen, war ein Kilometer eine schrecklich lange Strecke. Er rannte schon zehn Minuten, als er die Braithhunde wie verrückt hinter sich bellen hörte.
Von diesem Zeitpunkt an dachte er weder nach, noch machte er sich Sorgen. Er rannte.
Schwer atmend, blutend, am ganzen Körper zitternd, verletzt, rannte er wie ein Tier in panischem Schrecken.
Der Lauf wurde zu einer zeitlosen Angelegenheit, zu einer endlosen Tortur, einem Fiebertraum, in welchem auf und nieder stampfende Füße, schmerzhafte Empfindungen, abgerissene Eindrücke und das Bellen der stetig näherkommenden Hunde die Hauptrollen spielten. Er rannte und rannte und kam nirgendwo an. Er rannte wie ein Besessener, aber er kam nicht vom Fleck.
Er krachte in eine dichte Feuerrosenhecke, und die rotgespitzten Dornen durchstachen seine Haut an hundert Stellen, aber er schrie nicht, er rannte unablässig. Er erreichte eine Lichtung, die von glattem grauen Schiefergestein bedeckt war und versuchte zu schnell darüber hinwegzusetzen. Er stolperte, fiel und schlug mit dem Kinn voll gegen den harten Untergrund. Sein Mund füllte sich mit Blut — er spuckte es aus. Blut war auch auf dem Felsen, kein Wunder, daß er ausgerutscht war, sein Blut, aus den Wunden an seinen Füßen.
Er kroch über das glatte Gestein, erreichte wieder den Wald und begann erneut unbeherrscht loszurennen, bis er bemerkte, daß er nicht nach seinem Leuchtfeuer Ausschau hielt. Als er es wiedergefunden hatte, glimmte es nur noch schwach und seitlich hinter ihm. Ein kleines Pünktchen am scharlachroten Himmel. Er fuhr herum und lief darauf zu, wieder über die Felsplatte. Auf der anderen Seite stolperte er über Wurzeln, trat auf unsichtbare Zweige, riß, wild mit den Armen um sich schlagend, Buschwerk zur Seite. Dann stieß er mit dem Kopf gegen einen tiefhängenden Ast, so daß er beinahe gestürzt wäre. Benommen rannte er weiter. Auf einem schwarzen, mit rosa Schleim überzogenen und verfault riechenden Moosbett wäre er beinahe ausgeglitten. Im letzten Moment konnte er sich fangen und weiterrennen, immer weiter. Er sah zu seinem Leitstern hoch — und er war verschwunden. Er lief weiter. Es mußte einfach der richtige Weg sein, sonst… Hinter ihm bellten die Hunde.
Es war nur ein Kilometer, weniger als ein Kilometer. Er fröstelte. Ihm war heiß. In der Brust peinigten ihn tausend Nadeln. Er rannte weiter, ruderte mit den Armen, stolperte und fiel, raffte sich auf, hetzte weiter. Die Hunde waren hinter ihm, ganz nahe, ganz nahe, die Hunde waren hinter ihm.
Und dann plötzlich — er wußte nicht, wann oder wie lange er gelaufen war, er wußte nicht, welchen Weg er zurückgelegt hatte, denn der Stern war fort — glaubte er einen leichten Brandgeruch wahrzunehmen. Mit langen Sätzen sprang er in die vermeintliche Richtung, zwischen den Bäumen hindurch auf eine Lichtung hinaus, jagte auf die andere Seite der öden, unbewachsenen Stelle zu — und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Die Hunde waren direkt vor ihm.
Wenigstens einer. Knurrend, mit kleinen, bösen Augen, die haarlose Schnauze geöffnet, so daß die häßlichen Fangzähne entblößt waren, kam er aus dem Wald geschlichen. Dirk versuchte, um ihn herumzulaufen, aber das Tier hatte ihn schon erreicht, sprang ihn an, warf ihn um und war wieder auf allen vieren. Mit einiger Anstrengung kam Dirk erneut auf die Knie, der Hund umkreiste ihn und schnappte unerbittlich zu, wenn er Anstalten machte, sich zu erheben. Das hatte ihm bereits einen tiefen Biß am linken Arm eingebracht. Er verlor zwar Blut, aber der Hund fuhr ihm nicht an den Hals, um ihn zu töten. Abgerichtet, dachte Dirk, er ist abgerichtet.
Der Hund umkreiste ihn fortwährend und ließ ihn keinen Sekundenbruchteil lang aus den Augen. Pyr hatte ihn vorausgeschickt und kam mit seinem teyn und den anderen Hunden nach. Der hier würde ihn zur Unbeweglichkeit verdammen, bis die anderen heran waren.
In wilder Verzweiflung sprang Dirk auf die Beine und warf sich den Bäumen entgegen. Der Hund machte einen Satz, erwischte ihn am Arm und riß ihn daran zu Boden.
Diesmal stand er nicht wieder auf. Der Hund ließ ihn los und stand wie versteinert über ihm. Blut und Geifer tropften von seinem Maul herab. Dirk versuchte sich mit dem unverletzten Arm hochzustemmen. Er kroch einen halben Meter. Der Hund knurrte wütend. Die anderen waren nahe. Er hörte das Bellen. Dann hörte er über sich etwas anderes. Er sah zu dem kleinen Stückchen Himmel hinauf, das die dunklen Wolken nicht verdeckten. Der Braithhund zog sich einen Meter zurück und starrte ebenfalls nach oben. Da war das Geräusch wieder. Es glich einem gellenden Kriegsruf, einem langanhaltenden, keifenden Kreischen, einem Todesschrei, der in seiner Intensität beinahe melodisch wirkte. Dirk fragte sich, ob er nun starb und dabei die Gesänge von Kryne Lamiya im Ohr hatte. Aber der Hund hörte es auch. Er setzte sich und starrte wie gebannt nach oben. Etwas Schwarzes verdunkelte das rötlichgrau schimmernde Fleckchen Himmel.
Dirk sah es fallen. Es war riesig, pechschwarz, und an der Unterseite gab es tausend kleine, rote Mäuler. Sie standen alle offen und sangen, stießen das nervenzerfetzende, schreckliche Geheul aus. Das Ding war dreieckig und besaß keinen Kopf, ein großes, dunkles Segel, ein windgetragener Mantarochen, ein Lederumhang, den jemand am Himmel verloren hatte.
Ein Lederumhang mit Mäulern und einem langen, dünnen Schwanz.
Er sah, wie der Schwanz plötzlich herumpeitschte und dem Hund quer über die Schnauze schlug. Aufheulend zog er sich zurück. Aber schon schwebte die fliegende Kreatur über ihm, wobei sich ihre riesigen Flügel auf graziöse Weise wellenförmig bewegten. Dann senkte sie sich auf den Hund hinab und schloß die Schwingen um ihn. Beide Tiere gaben keinen Laut von sich. Der Hund, der riesige, kräftige Hund mit der Rattenschnauze, der aufgerichtet fast so groß war wie ein Mann — der Hund war verschwunden. Das andere Wesen hatte ihn gänzlich eingehüllt und lag nun wie eine schwarze Lederwurst von immenser Größe im Gras. Es herrschte tiefe Stille. Der Jagdruf des Raubtieres hatte den gesamten Wald zum Schweigen gebracht. Von den anderen Hunden hörte er nichts mehr.
Vorsichtig erhob sich Dirk auf die Beine und ging humpelnd um den erstarrten Mörder-Umhang herum. Er schien sich kaum zu bewegen. Im frühmorgendlichen Dämmerlicht hätte ihn mancher sicherlich für einen mißgestalteten Baumstamm gehalten.
In Gedanken sah ihn Dirk aber noch so, wie er am Himmel ausgesehen hatte: ein schwarzer, heulender, fallender Schatten, der ganz aus Schwingen und Mäulern bestand. Einen kurzen Augenblick lang hatte er nur die Silhouette gesehen und gedacht, Jaan Vikary sei gekommen, um ihn mit dem grauen Mantagleiter zu retten.
Die andere Seite der Lichtung wurde von dichtgedrängt stehenden, braungelben Würgerbäumen beherrscht.
Hinter ihnen stieg Rauch auf. Müde wich Dirk dem wächsernen Geäst aus, quetschte sich hindurch oder brach Äste, wo es nötig war.
Das Wrack brannte nicht mehr, aber eine dünne Rauchfahne ringelte sich noch immer von ihm hoch.
Beim Absturz mußte der Gleiter zuerst mit einem Flügel Bodenberührung bekommen haben, denn in die Erde war ein langer Graben gepflügt worden. Bevor sie schließlich brach, hatte die Schwinge noch mehrere Bäume gefällt.
Der andere Flügel zeigte senkrecht in die Luft.
Schmelzbahnen im Metall und viele Löcher, die von einer Laserkanone herrührten, hatten die Fledermausform fast unkenntlich gemacht.
Die Kabine war eingedrückt und geschwärzt, auf Dirks Seite klaffte ein großes gezacktes Loch.
Direkt daneben fand Dirk sein Lasergewehr. Er stieß auch auf Knochen. Zwei Skelette lagen in tödlicher Umarmung. Die dunklen, nassen Knochen, die noch braun vom Blut und anhaftenden kleinen Fleischstückchen waren, hatten sich ineinandergeschoben. Ein Skelett war menschlichen Ursprungs. Alle Extremitäten waren gebrochen, und die Mehrzahl der Rippen war zerschmettert oder fehlte ganz. Eines übersah Dirk jedoch nicht: ein zweifach gebrochener Unterarm endete in einer dreifingerigen Metallklaue. Vermischt damit und genauso tot waren die Überreste eines Wesens, das die Leiche aus dem brennenden Gleiter ins Freie gezogen hatte — ein Räuber oder Aasfresser, dessen gummiartig anmutenden, von schwarzen Adern umgebenen Knochen gekrümmt und sehr groß aussahen. Der Banshee hatte das Tier beim Fressen der Leiche überrascht. Kein Wunder, daß er in der Nähe gewesen war. Von der pelzbesetzten Lederjacke, die Garse und er abgeworfen hatten, war keine Spur zu entdecken. Dirk schleppte sich zu dem ausgekühlten Wrack des Gleiters hinüber und kletterte in den dunklen Rachen. Als er sich hineinfallen ließ, schnitt er sich an einer scharfen Metallkante, aber er bemerkte es kaum, ein Kratzer mehr, darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Vor dem Wind geschützt, und — wie er hoffte — auch vor den Braiths und dem Banshee, wartete er. Die meisten seiner Wunden hatten sich geschlossen, wie er stumpfsinnig bemerkte. Wenigstens blutete er jetzt nur noch ein bißchen. Aber der braune Schorf war überall dick mit Schmutz verkrustet, und er fragte sich, ob er nicht etwas gegen eine drohende Infektion unternehmen konnte. Im Moment schien das jedoch keine große Rolle zu spielen, er schob den Gedanken beiseite und umklammerte den Laser noch fester, in der Hoffnung, die Jäger würden nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Was sie wohl aufhielt? Vielleicht fürchteten sie sich davor, den Banshee zu stören, ja, das schien einen Sinn zu ergeben. Auf der kalten Asche legte er den Kopf in die Armbeuge und versuchte, nicht zu denken und nicht zu fühlen. Seine Füße kamen ihm wie rohe Fleischklumpen vor. Ungeschickt versuchte er, sie in der Luft zu halten, so daß sie nichts berührte. Das half ein wenig, aber er hatte nicht die Kraft, in dieser unnatürlichen Stellung lange zu verweilen. Wo der Braithhund ihn gebissen hatte, schmerzte sein Arm höllisch. Eine Zeitlang wünschte er sich inbrünstig, er könnte den Schmerz unterbinden und seinen Kopf in einen klareren Zustand versetzen. Dann überlegte er es sich anders. Gerade die Schmerzen waren es, die ihn wahrscheinlich davor bewahrten, bewußtlos zu werden, dachte er. Und wenn er jetzt einschlief, dann würde er nie wieder aufwachen.
Er sah den Fetten Satan über dem Wald hängen. Die blutigrote Scheibe wurde von blauschwarzen Ästen halb verdeckt. Neben ihm strahlte eine einzelne gelbe Sonne sehr hell, ein kleiner Funken am Firmament. Er blinzelte ihnen zu. Sie waren alte Freunde.
Der Lärm der Braithhunde brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Zehn Meter vor ihm brachen die Jäger durch das Unterholz. Nicht so nah, wie er sie erwartet hatte. Natürlich waren sie den Würgern ausgewichen, dachte er, anstatt sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen. Pyr Braith war fast unsichtbar — blauschwarz gekleidet hob er sich kaum von dem Baum ab, vor dem er stand —, aber Dirk sah seine Bewegungen, den Stock, den er in der einen und die silberglänzende Klinge, die er in der anderen Hand über seinem Kopf hielt. Sein teyn war ihm einige Schritte voraus. An kurzen Ketten hielt er zwei Hunde, die wie wahnsinnig bellten und ihn dermaßen nach vorn zogen, daß er in einen Trabschritt verfiel. Ein dritter Hund rannte frei neben ihm her und begann sofort auf den abgestürzten Gleiter loszujagen, als sie die Büsche hinter sich hatten.
Zwischen verkohlten Sitzen und zerschmetterten Armaturen lag Dirk auf dem Bauch im Wrack. Plötzlich kam ihm alles unendlich lustig vor. Pyr ließ die Silberklinge über seinem Kopf kreisen und rannte ebenfalls los, er war sich sicher, endlich seine Beute gefunden zu haben. Er hatte keinen Laser. Aber Dirk besaß einen. Dirk kicherte ausgelassen, hob das Gewehr und zielte bedächtig.
Als er den Abzug durchzog, kam seine Erinnerung zurück, schnell und stechend, wie der Lichtstrahl, der aus seinem Laser blitzte. Janacek, es war noch nicht lange her, mit ernstem Gesicht, die Achseln zuckend: Ihr Leben kann davon abhängen, wie schnell und in welche Richtung Sie laufen, und ob Sie mit Ihrem Gewehr im entscheidenden Augenblick treffen, hatte er gesagt. Und Dirk hatte hinzugefügt: Und ob ich töten kann. Es war ihm so schrecklich wichtig erschienen, das Töten, viel wichtiger, als nur zu rennen.
Er kicherte wieder. Das Rennen war ihm sehr schwergefallen. Das Töten mutete dagegen äußerst leicht an — er brauchte nur abzudrücken. Die gleißendhelle Lichtlanze hing eine lange Sekunde in der Luft und spießte Pyr auf. Sie traf ihn mitten in den Leib, als er auf die Absturzstelle zulief. Der Braith stolperte und fiel auf die Knie. Einen Augenblick lang hing sein Unterkiefer auf absurde Weise herunter, dann fiel er aufs Gesicht und war Dirks Blicken entschwunden. Nur noch die lange Silberklinge war zu sehen, wie sie im aufgewühlten Boden steckte und im starken Wind langsam hin und her schaukelte.
Pyrs schwarzhaariger Kumpan ließ die Ketten los und erstarrte, als sein teyn zu Boden ging. Dirk schwenkte den Laser leicht herum und drückte ab, aber nichts geschah, die fünfzehn Sekunden dauernde Aufladephase war noch nicht beendet. Das machte aus der Jagd einen Sport, erinnerte er sich. Wenn man verfehlte, hatte das Wild eine gute Chance, sich aus dem Staub machen zu können. Er ertappte sich erneut beim Kichern. Der Jäger erwachte aus seiner Erstarrung, warf sich auf den Boden und rollte sich in die lange Furche, die von der Gleiterschwinge gepflügt worden war. »Jetzt liegt er im Schützengraben und sucht nach seinem Laser«, dachte Dirk, »aber er wird ihn nicht finden.« Die Hunde umlagerten den Gleiter und bellten, wann immer er seine Position veränderte oder den Kopf hob. Keiner von ihnen kam herein, um ihn zur Strecke zu bringen. Das war die Aufgabe des Jägers. Dirk zielte lange und schoß dem nächsten durch die Kehle. Er fiel wie ein nasser Sack zu Boden, und die beiden anderen wichen zurück. Dirk rappelte sich auf die Knie und kroch aus seinem Versteck hervor. Er versuchte, sich aufzurichten, indem er sich an dem verbogenen Flügel hochzog. Die Welt drehte sich im Kreise. Durch seine Beine zuckte stechender Schmerz, die Füße spürte er überhaupt nicht mehr. Aber irgendwie hielt er sich aufrecht.
Ein Ruf ertönte, etwas auf altkavalarisch, Dirk kannte das Wort nicht. Fauchend griffen die riesigen Hunde direkt nacheinander an, ihre Schnauzen hingen weit offen und trieften. Aus den Augenwinkeln heraus sah Dirk, wie sich der Jäger keine drei Meter von ihm entfernt aufrichtete. Sein Messer hatte er schon gezogen. Einer seiner langen, dünnen Arme vollführte damit eine Art Kreisbewegung, und dann schepperte es gegen den Gleiterflügel, an dem Dirk lehnte. Im selben Moment hatte sich der Mann herumgeworfen und rannte davon.
Der erste Hund war heran und flog durch die Luft. Dirk ließ sich fallen und riß die Waffe hoch. Die Zähne schnappten zu, verfehlten ihn, aber der Körper des Tieres traf ihn mit ungeheurer Wucht, wirbelte ihn herum, und dann war er im Staub über ihm. Irgendwie fand er den Abzug. Ein kurzer Lichtblitz, nasses, brennendes Haar und ein jämmerliches Gewimmer. Der Hund biß wieder zu, diesmal schwach, sein eigenes Blut hervorwürgend.
Dirk rollte sich unter dem Kadaver hinweg und kam auf die Beine. Der Braith hatte Pyrs Körper erreicht und hob die lange, silbern schimmernde Klinge. Der andere Hund war mit seiner Kette an einer Metallzacke des Gleiters hängengeblieben. Als Dirk sich erhob, kläffte er und zerrte wie verrückt an der Kette. Das Gleiterwrack zitterte zwar ein wenig, aber das Tier blieb gefangen.
Der schwarzhaarige Jäger holte mit der Silberklinge aus. Dirk zielte und feuerte. Der Strahl brannte ein Loch in die Luft, aber eine Sekunde war lang, und Dirk schwenkte das Gewehr scharf nach rechts, von rechts nach links, von links nach rechts.
Der Mann fiel, als er seine Waffe losließ. Die Klinge segelte einige Meter weit, prallte von dem verbogenen Flügel ab und blieb im Boden stecken, wo sie noch eine Weile hin und her schwang. Dirk schwenkte noch immer seinen Laser, links, rechts, links, rechts, links, rechts, lange nachdem der Jäger gefallen und der Strahl erloschen war. Schließlich hatte sich der Laser aufgeladen und spie eine weitere Feuerbahn aus, die eine Reihe von Würgern in Brand setzte. Verblüfft und erschrocken ließ Dirk den Abzug los und warf die Waffe zu Boden. Der Hund knurrte und ruckte wie wild an seiner Kette. Dirk starrte ihn mit offenem Mund an, als könnte er nichts begreifen. Dann kicherte er. Er ließ sich auf die Knie sinken, griff nach seinem Laser und kroch auf die Kavalaren zu. Er brauchte schrecklich lange.
Seine Füße schmerzten. Sein Arm tat ebenfalls weh. Die Bißwunde brannte wie Feuer. Endlich war der Hund still.
Das hieß aber noch lange nicht, daß Ruhe herrschte. Dirk hörte ein konstantes tiefes Wimmern.
Durch Schmutz und Asche, über die verbrannten Würgerstämme hinweg, wälzte er sich auf die Stelle zu, wo die Kavalaren gefallen waren. Sie lagen Seite an Seite. Der Hagere — dessen Namen er nie erfahren hatte —, der ihn mit seinem Messer, den Hunden und der Wurfklinge hatte töten wollen, lag ganz ruhig, und sein Mund war voller Blut. Pyr, der auf dem Bauch lag, war die Quelle des Wimmerns. Dirk kniete sich neben ihn hin und drehte den Körper des Mannes mit großer Anstrengung auf den Rücken. Das Gesicht war mit Asche und Blut beschmiert, beim Sturz hatte er sich das Nasenbein gebrochen. Ein dünner Blutfaden rann aus einem Nasenloch und zog eine leuchtendrote Spur über die rußverschmierte Wange. Sein Gesicht wirkte sehr alt. Er wimmerte unaufhörlich und schien Dirk überhaupt nicht zu bemerken. Seine Hände krampften sich über dem Magen zusammen. Dirk starrte ihn lange Zeit an. Er berührte eine seiner Hände — sie war seltsam weich und klein und, abgesehen von einer schwarzen Schnittwunde, die quer über die Handfläche verlief, ganz sauber, beinahe wie die Hand eines Kindes. Sie wollte ganz und gar nicht zu einem so alten, kahlen Kopf passen. Er hob sie weg, wiederholte das gleiche mit der anderen Hand und sah auf das Loch, das er in Pyrs Leib gebrannt hatte.
Es war ganz klein — und der Körper so groß. Wie konnte es ihm nur solche Schmerzen bereiten? Es war auch kein Blut zu sehen, nur das aus der Nase. Das war ziemlich lustig, fand Dirk und wollte wieder kichern, aber es gelang ihm nicht. Dann öffnete Pyr den Mund, und Dirk fragte sich, ob der Mann ihm etwas sagen wollte, einige letzte Worte, die Bitte um Vergebung. Aber der Braith gab nur einen dumpfen, würgenden Laut von sich und fuhr dann fort zu wimmern.
Sein Stock lag neben ihm. Dirk hob ihn auf, schloß die Hände um den Hartholzknauf am einen Ende, setzte Pyr die kleine Klinge auf die Brust, genau dort, wo das Herz sein mußte, und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Stock, um den anderen zu erlösen. Einen Augenblick lang geriet der schwere Körper des Jägers außer Kontrolle. Wild schlugen Arme und Beine um sich.
Dirk zog die Klinge heraus und stach immer wieder zu, aber Pyr gab keine Ruhe. Nach einiger Zeit kam Dirk zu dem Entschluß, daß die kleine Klinge zu kurz war. Er mußte sie anders anwenden. Am fleischigen Hals des Jägers fand er eine hervorstehende Arterie. Er hielt den Stock ganz kurz hinter der Klinge und setzte diese dort an. Dann drückte er fest zu und zog die Klinge durch die fettige, blasse Haut. Plötzlich gab es entsetzlich viel Blut.
Eine pulsierende Fontäne traf Dirk mitten ins Gesicht, so daß er den Stock losließ und schnell zurückwich. Pyr schlug wieder um sich, und aus seinem Hals, dort, wo Dirk den Schnitt geführt hatte, sprudelte das Blut. Dirk sah zu, aber jeder Spritzer war ein wenig schwächer als der vorherige, und nach einer Weile war von der Fontäne nur noch ein kleines Rinnsal übriggeblieben, das bald darauf ganz zu versiegen schien. Die Asche und der Schmutz tranken viel von dem Blut, aber nicht alles. Was nicht sofort versickerte, bildete eine Pfütze zwischen den beiden Körpern. Dirk war nie bewußt geworden, daß ein Mensch derart viel Blut in sich hatte, daß daraus eine große Pfütze entstehen konnte. Er fühlte sich sehr elend.
Aber wenigstens war Pyr jetzt still, das Gewimmer hatte ein Ende gefunden.
Allein saß er im verwaschenen roten Licht und ruhte sich aus. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt, und er wußte, daß er sich einige Kleidungsstücke von den Leichen nehmen mußte, um sich zu wärmen, brachte aber nicht die Kraft dazu auf. Seine Füße taten wahnsinnig weh, und der Arm war zur doppelten Dicke angeschwollen. Er schlief nicht, konnte sich aber dennoch kaum bei Bewußtsein halten. Er beobachtete den Fetten Satan, wie er am Himmel höher und höher stieg und sich mit seinen schmerzhaft hellen gelben Sonnen dem Zenit näherte. Mehrere Male hörte er den Braithhund heulen, und einmal vernahm er auch den unheimlichen Jagdschrei des Banshee. Er fragte sich, ob dieses Wesen zurückkommen würde, um ihn und die von ihm getöteten Männer zu fressen. Aber der Schrei schien von weither zu kommen, und vielleicht war es auch nur sein Fieber, vielleicht nur der Wind. Als der klebrignasse Film auf seinem Gesicht zu braunem Schorf getrocknet und der kleine Teich aus Blut endlich im Staub verschwunden war, wurde sich Dirk bewußt, daß er sich entweder bewegen oder hier sterben mußte. Lange Zeit überlegte er sich, ob letzteres nicht besser war — irgendwie schien ihm dies kein schlechter Gedanke zu sein —, aber er konnte sich dann doch nicht dazu durchringen. Er dachte an Gwen. So gut es ging, verbiß er den Schmerz, kroch zu Pyrs teyn hinüber und durchsuchte die Taschen des Mannes. In einer fand er das Flüsterjuwel.
Eis in der Faust, Eis im Gedächtnis, Erinnerungen an Versprechen, Lügen, Liebe, Jenny. Meine Guinevere, und er war Lancelot. Er konnte sie nicht enttäuschen. Er durfte nicht. Er drückte die kalte Träne in seiner Faust und nahm das Eis in seine Seele auf. Er zwang sich zum Aufstehen.
Danach ging es leichter. Langsam beraubte er den toten Mann seiner Kleidung und zog sich an, obwohl für ihn alles zu lang war, das Hemd und die Chamäleonstoffjacke große Brandstellen aufwiesen und der Mann seine Hose beschmutzt hatte. Dirk zog der Leiche auch die Stiefel ab, aber sie waren für seine geschwollenen, blutüberkrusteten Füße viel zu eng. Er war gezwungen, Pyrs Stiefel zu benutzen. Pyr hatte riesige Füße.
Sein Lasergewehr und Pyrs Stock als Krücken benutzend, quälte er sich auf den Wald zu. Am Waldrand hielt er inne und drehte sich um. Der Hund, der sich mit seiner Kette verfangen hatte, versuchte wieder, sich loszureißen. Jedesmal, wenn er ruckte, gab der Gleiter ein metallisches Geräusch von sich. Davor lag ein nackter Körper im Schmutz, und nahe am Gleiter schwankte ein silberglänzendes Gebilde im Wind. Pyr konnte er kaum ausmachen. Die Blutflecken hatten dem Anzug des Jägers ein scheckiges Schwarz und Braun und hier und da ein dumpfes Rot verliehen und ihn damit dem Untergrund angepaßt, auf dem er gestorben war. Dirk kümmerte sich nicht um den bellenden Hund und humpelte durch das Würgerdickicht davon.