Sie ließen die weißen Türme Kryne Lamiyas hinter sich zurück und hielten auf die verglimmenden Feuer von Larteyn zu. Während des Fluges sprachen sie kaum, berührten sich nicht und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Gwen parkte den Gleiter auf seinem Stammplatz, und Dirk folgte hinab bis zu ihrer Tür. Als er von ihr erwartete, sie würde ihm eine gute Nacht wünschen, flüsterte sie ihm schnell ein »Warte!« zu. Dann huschte sie hinein, und er wartete verstört. Aus ihrem Zimmer drangen Geräusche — Stimmen —, dann war Gwen auch schon zurück. Sie drückte ihm ein dickes Manuskript in die Hand, einen eindrucksvollen Stapel Papier, von Hand in schwarzes Leder gebunden. Jaans Thesen. Er hatte sie schon fast vergessen. »Lies es«, flüsterte sie, den Kopf durch den Türspalt steckend. »Komm morgen herauf, dann werden wir uns noch ein wenig unterhalten.« Sie hauchte ihm einen Kuß auf die Wange und drückte die schwere Tür mit einem leisen Klicken ins Schloß. Einen Augenblick lang stand Dirk verdutzt da und wog das gebundene Manuskript in der Hand, dann ging er zu den Aufzügen hinüber.
Er war noch keine drei Schritte gegangen, als er den ersten Schrei hörte. Irgendwie brachte er es nicht fertig weiterzugehen. Die Geräusche zogen ihn wie magisch an.
Lauschend blieb er vor Gwens Tür stehen. Die Wände waren dick, und nur sehr wenig drang durch. Einzelne Wörter oder Sätze konnte er nicht ausmachen, aber der Tonfall der Stimmen sagte ihm genug. Gwens Stimme dominierte: laut, schrill — manchmal schrie sie sogar —, beinahe hysterisch. Vor seinem inneren Auge sah Dirk Gwen vor den Wasserspeiern im Wohnraum auf und ab gehen, so wie sie es immer tat, wenn sie erregt war.
Beide Kavalaren würden anwesend sein — Dirk war sicher, zwei andere Stimmen zu hören — und sie bedrängen. Die eine Stimme war ruhig und sicher, ohne wütende Zwischentöne, aber unnachgiebig fragend. Sie mußte Jaan Vikary gehören. Sein Stimmfall verriet ihn, sein Sprechrhythmus war selbst durch die Wand hindurch zu erkennen. Die dritte Stimme, Garse Janacek, hörte Dirk zunächst nur selten. Dann aber sprach sie häufiger, wurde immer lauter und wütender. Nach einiger Zeit war von der beherrschten Stimme überhaupt nichts mehr zu hören, während Gwen und Garse einander anbrüllten.
Nach einiger Zeit riß Jaan Vikary wieder das Wort an sich, stieß einen scharfen Befehl hervor. Und Dirk hörte ein Geräusch, ein dumpfes Klatschen. Einen Schlag.
Jemand hatte zugeschlagen, es konnte nichts anderes sein. Schließlich gab Vikary einen weiteren Befehl, dann folgte Stille. Drinnen ging das Licht aus. Dirk stand mucksmäuschenstill, hielt Vikarys Manuskript und fragte sich, was er tun konnte. Wie es schien, blieb ihm nichts anderes übrig, als schlafen zu gehen. Er konnte Gwen höchstens am nächsten Morgen fragen, was geschehen war, wer sie geschlagen hatte und warum. Es muß Janacek gewesen sein, dachte er.
Er entschloß sich, die Aufzüge zu ignorieren und zu Fuß in Ruarks Appartement hinunterzugehen.
Im Bett merkte Dirk schlagartig, daß er unsäglich müde und von den Ereignissen des Tages gehörig mitgenommen war. Soviel auf einmal konnte er beim besten Willen nicht verdauen. Die Kavalarjäger und ihre Spottmenschen, das schmachvolle Leben, das Gwen mit Vikary und Janacek führte,die schwindelerregende Möglichkeit ihrer Rückkehr. Trotzdem konnte er nicht schlafen, und so dachte er lange über alles nach. Ruark schlief schon fest, es gab keinen, mit dem er reden konnte. Schließlich nahm Dirk das schwere Manuskript, das Gwen ihm gegeben hatte und blätterte sich durch die ersten Seiten. Das beste Schlafmittel war immer noch ein Stapel wissenschaftlicher Literatur, dachte er bei sich.
Vier Stunden und ein halbes Dutzend Tassen Kaffee später legte er das Manuskript aus der Hand, gähnte und rieb sich die Augen. Dann löschte er das Licht und starrte in die Dunkelheit. Jaan Vikarys Untersuchung - Mythos und Geschichte: Ursprünge der Festhaltgesellschaft, basierend auf einer Interpretation des Dämonenlied-Zyklus von Jamis-Löwe Taal — war eine schlimmere Anklage seines Volkes, als Ruark je eine zustande gebracht hätte, dachte Dirk. Alles war ausgebreitet worden. Dokumentiert wurde die Arbeit mit Quellenangaben und Bildern aus den Computerbänken von Avalon, dazu mit ausführlichen Zitaten aus der Dichtung Jamis-Löwe Taals und noch ausführlicheren Abhandlungen darüber, was Jamis Taal gemeint hatte.
Alles, was Vikary und Gwen ihm heute morgen erzählt hatten, war im Detail vorhanden. Vikary lieferte Theorie auf Theorie, versuchte, alles zu erklären. Mehr oder weniger erläuterte er auch die Herkunft der Spottmenschen. Er argumentierte, daß während der Zeit des Feuers und der Dämonen einige Überlebende aus der Stadt die Bergwerkssiedlungen erreicht hatten und dort Schutz suchten. Jedoch erwiesen sich die Aufgenommenen als Gefahrenherde. Einige waren Opfer der Strahlenkrankheit geworden, sie starben langsam und schrecklich und übertrugen wahrscheinlich das Gift auf diejenigen, die sie pflegten. Andere, offenbar Gesunde, blieben am Leben und wurden in den Proto-Festhalt integriert, bis sie heirateten und Kinder zeugten. Erst dann zeigten sich die Nachwirkungen der Strahlung. Das alles waren Vikarys Mutmaßungen, die von keiner Zeile aus Jamis Taals Werk gestützt wurden. Trotzdem lieferten sie eine saubere und plausible Rationalisierung des Spottmenschenmythos.
Auch ließ sich Vikary ausführlich über jenes Ereignis aus, das bei den Kavalaren die leidbringende Plage hieß — und was er vorsichtig »den Übergang zum zeitgenössischen Sexualverhalten der Kavalaren« nannte.
Nach seiner Hypothese waren die Hranganer ein Jahrhundert nach ihrem ersten Überfall erneut nach Hoch Kavalaan gekommen. Die von ihnen bombardierten Städte lagen immer noch in Schutt und Asche, neue Gebäude der Menschen gab es nicht. Und doch waren die drei Sklavenrassen, die sie zur Besiedlung des Planeten ausgesetzt hatten, nirgendwo aufzufinden. Sie waren erst dezimiert worden, dann ausgestorben. Zweifellos schloß der kommandierende hranganische »Kopf« daraus, daß noch immer ein paar Kavalaren leben mußten. Um diese endgültig zu vernichten, warfen die Hranganer Seuchenbomben ab. Das war Vikarys Theorie.
In Jamis-Löwe Taals Gedichten tauchten die Hranganer nicht auf, wohl aber wurden Krankheiten erwähnt. Alle überlebenden Festhaltkoalitionen der Kavalaren sind sich darin einig, daß es eine leidbringende Plage gab, eine lange Periode, in der eine schreckliche Seuche die nächste ablöste. Jede Jahreszeit brachte eine neue, noch gefährlichere Krankheit mit sich — den ultimativen Dämon, einen, den die Kavalaren nicht töten konnten.
Von hundert Männern starben neunzig. Neunzig Männer — aber neunundneunzig Frauen.
Wie es schien, sprach eine der Seuchen nur auf Frauen an. Die medizinischen Wissenschaftler auf Avalort, die Vikary aufgesucht hatte, eröffneten ihm dies aufgrund der mageren Hinweise, die sie von ihm erhielten — herausgesucht aus ein paar uralten Gedichten und Liedern. Sie nahmen als wahrscheinlich an, daß die weiblichen Sexualhormone der Krankheit als Katalysator dienten. Jamis-Löwe Taal hatte von jungen Mädchen berichtet, die dank ihrer Unschuld dem grausigen Tod entrannen, während die sündigen eyn-kethi, die es mit den Männern trieben, zu Tausenden zusammenbrachen und unter konvulsivischen Zuckungen starben. Vikary interpretierte dies folgendermaßen: Die vorpubertären Mädchen blieben gesund, während sexuell reife Frauen von der Krankheit befallen wurden. Eine ganze Generation wurde ausgelöscht. Schlimmer noch, die Seuche hielt sich hartnäckig. Kaum war ein Mädchen in die Pubertät gekommen, schon begannen sich die ersten Krankheitssymptome an ihm zu zeigen. Jamis-Löwe Taal zog daraus seine Schlüsse. Im Grunde genommen stimmten seine Beobachtungen, nur maß er ihnen religiöse Bedeutung bei.
Wenige Frauen, die von Natur aus immun waren, überlebten. Sie setzten Töchter in die Welt, von denen wiederum viele immun waren, während die Unglücklichen ohne Abwehrstoffe bereits in der Pubertät starben. Letzten Endes waren Kavalarinnen immun, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Die Leidbringende Plage war zu Ende gegangen. Doch der Schaden konnte kaum wiedergutgemacht werden. Ganze Festhalte waren ausradiert worden, diejenigen, in denen sich noch Leben regte, hatten so viele Menschen verloren, daß die vorher funktionierende Gemeinschaft ihrer wichtigsten Grundlagen beraubt war. Die auf Monogamie und Gleichheit fußenden Sozialstrukturen und sexuellen Verhaltensweisen der frühen Siedler von Tara wurden unwiderruflich hinweggewischt. Generationen gelangten zur Reife, in denen es zehnmal so viele Männer gab wie Frauen. Kleine Mädchen durchlebten ihre Kindheit mit dem Wissen, daß die Pubertät den Tod bedeuten konnte.
Es war eine grauenhaft harte Zeit, darin waren sich Jaan Vikary und Jamis-Löwe Taal einig.
Die Sünde hob sich erst von Hoch Kavalaan — schrieb Jamis-Löwe —, als man die eyn-kethi wieder dorthin brachte, wo sie hergekommen waren, in die Höhlen, weit weg vom Tageslicht, damit man ihre Schande nicht sehen konnte. Vikary sah das anders. Seiner Meinung nach hatten die Kavalaren nach Kräften gegen die Krankheit gekämpft. Die technologischen Fähigkeiten, luftdichte, sterilisierte Räume zu bauen, besaßen sie schon lange nicht mehr. Aber sie erinnerten sich daran, daß es etwas Ähnliches geben mußte und daß diese Plätze Schutz vor der Krankheit boten. Aus diesem Grunde kamen alle Frauen in gesicherte, gefängnisgleiche Krankenhäuser tief unter der Erde, in die schützendsten Teile der Festhalte, weit weg vom vergifteten Wind, Regen und Wasser. Männer, die einst Seite an Seite mit ihren Frauen durch die Wälder gestreift waren und gejagt hatten, taten sich im Schmerz über die verlorenen Partner mit anderen Männern zusammen. Um ihren sexuellen Spannungen ein Ventil zu verschaffen — und den Bestand immuner Gene zu halten oder zu vergrößern, falls sie davon überhaupt etwas verstanden —, machten die Männer, die die Leidbringende Plage überlebt hatten, ihre Frauen zu sexuellem Gemeineigentum. Um so viele Kinder wie möglich zu zeugen, wurden die Frauen zu Gebärmechanismen degradiert, die ihr Leben frei von Gefahren in ständiger Schwangerschaft verbrachten.
Festhalte, die solche Maßnahmen nicht ergriffen, überlebten die Plage nicht — diejenigen jedoch, denen es gelang, gaben ein verändertes kulturelles Erbe weiter.
Es fanden noch andere Veränderungen statt. Tara war eine religiöse Welt, Sitz der Irischrömisch-Reformiertkatholischen Kirche, und der Drang nach Monogamie war nur schwer zu überwinden. Man traf sie in zwei Formen wieder: Die stark emotional gefärbte Bindung zwischen zwei männlichen Jagdpartnern wurde Basis der tiefgehenden, allumfassenden Beziehung zwischen teyn- und -teyn, während diejenigen Männer, die den weniger engen Bund mit einer Frau vorzogen, betheyns in die Gemeinschaft führten, indem sie Frauen aus anderen Festhalten in ihre Gewalt brachten. Die Führer ermutigten zu solchen Überfällen, wie Jaan Vikary feststellte. Neue Frauen bedeuteten frisches Blut, mehr Kinder, damit größere Bevölkerungszahl und letztlich eine bessere Überlebenschance. Es war undenkbar, daß ein Mann alleinigen Besitzanspruch auf eine eyn-kethi anmeldete. Aber ein Mann, dem es gelang, der Gemeinschaft von außerhalb eine Frau zuzuführen, wurde mit Ehren überhäuft, mit einem Sitz im Rat und — was vielleicht am wichtigsten war — mit der Frau selbst belohnt.
So mußte es sich abgespielt haben, argumentierte Vikary. Aus diesen, für sich selbst sprechenden Wahrheiten hatte sich die moderne Gesellschaft auf Hoch Kavalaan entwickelt. Jamis-Löwe Taal, der selbst erst viele Generationen später über das Antlitz der Welt wanderte, war viel zu sehr Kind seiner eigenen Kultur gewesen, um eine Welt begreifen zu können, in der Frauen einen anderen Status als den ihm vertrauten besaßen. Als ihn die Folklore, die er sammelte, zum Umdenken zwang, fand er diesen Gedanken unerträglich und verrucht. Während er an seinem Dämonenlied-Zyklus arbeitete, schrieb er daher die mündlich überlieferte Literatur um. Er machte aus Kay Eisen-Schmied einen bärenstarken Mann, die Leidbringende Plage zu einer Ballade weiblicher eyn-kethi-Verdorbenheit und erweckte ganz allgemein den Eindruck, die Welt sei schon immer so gewesen, wie er sie vorgefunden hatte. Spätere Dichter bauten auf diesem einmal errichteten Fundament auf. Die Umstände, von denen die Festhaltgesellschaft auf Hoch Kavalaan geprägt wurde, waren schon vor langer Zeit verschwunden. Heute gab es wieder so viele Frauen wie Männer, die Epidemien waren nur noch schaurige Fabeln, und fast alle Gefahren an der Oberfläche des Planeten hatte man überwunden. Trotzdem bestanden die Festhaltkoalitionen weiter. Die Männer fochten ihre Duelle aus, studierten die neue Technologie, arbeiteten auf Farmen und in Fabriken und steuerten die Raumschiffe der Kavalaren, während die eyn-kethi in ausgedehnten unterirdischen Bauten als Sexualpartnerinnen für alle Männer des Festhalts zur Verfügung standen und sich ansonsten mit Aufgaben beschäftigten, die der Rat der Hochleibeigenen als gefahrlos und angemessen erachtete. Natürlich brachten sie auch noch Kinder zur Welt, aber nicht mehr so viele wie früher. Der Bevölkerungszuwachs bei den Kavalaren unterlag strikten Kontrollen. Unter dem Schutz von Jade-und-Silber führten einige Frauen ein etwas freieres Leben, aber nicht viele. Eine betheyn mußte von außerhalb kommen, was bedeutete, daß ein ehrgeiziger Jüngling einen Hochleibeigenen aus einem anderen Festhalt zum Duell fordern und töten mußte — oder er beanspruchte eine eyn-kethi aus einem feindlichen Festhalt und stand dann einem ausgewählten Verteidiger gegenüber. Die zweite Möglichkeit führte selten zum Erfolg, denn der Rat der Hochleibeigenen bestimmte in der Regel den gefürchtetsten Duellkämpfer des Festhalts zum Beschützer der eyn-kethi. In der Tat gab es dafür Spezialisten. Ein Mann, der eine betheyn für sich gewann, erhielt unverzüglich die Hochnamen und einen Platz unter den Herrschenden. Man sagte, er habe seinen kethi das Geschenk doppelten Blutes übergeben — das Blut des Todes mit dem erschlagenen Feind und das Blut des Lebens mit einer neuen Frau. Die Frau genoß den Status von Jade-und-Silber, bis ihr Hochleibeigener getötet wurde. Erschlug ihn jemand aus seinem eigenen Festhalt, wurde sie zur eyn-kethi, kam der Sieger von außerhalb, ging sie in seinen Besitz über. Einen solchen Status als betheyn besaß Gwen Delvano, nachdem sie Jaans Armreif um ihr Handgelenk gelegt hatte.
Lange Zeit lag Dirk wach, sah zur Decke hinauf und dachte über die Dinge nach, die er gelesen hatte. Dabei wurde er immer wütender. Als das erste Morgenlicht durch das Fenster über ihm sickerte, war sein Entschluß gefaßt. Es war ihm beinahe egal, ob Gwen zu ihm zurückkam oder nicht — wenn sie nur Vikary und Janacek und mit ihnen die ganze kranke Gesellschaft von Hoch Kavalaan verließ. Aber so sehr er sich das auch wünschte, er allein konnte den Bruch nicht herbeiführen.
Nun gut, Arkin Ruark hatte recht — er würde ihr helfen.
Er würde bei ihrer Befreiung helfen. Und danach konnte ihr eigenes Verhältnis in Ruhe durchdacht werden.
Mit diesem Vorsatz, den er fest im Gedächtnis verankerte, schlief Dirk schließlich ein.
Es war schon gegen Mittag, als er plötzlich mit einem Schuldgefühl aufwachte. Er setzte sich auf, blinzelte und erinnerte sich, daß Gwen versprochen hatte, am Morgen hochzukommen. Jetzt war es schon Mittag, und er hatte verschlafen. Eilig stand er auf, zog sich an, sah sich kurz nach Ruark um — der Kimdissi war verschwunden und nichts deutete an, wohin und für wie lange — und stieg dann zu Gwens Appartement hinauf. Vikarys Thesen hielt er fest unter den Arm geklemmt. Garse Janacek antwortete auf sein Klopfen.
»Ja?« rief der rotbärtige Kavalare stirnrunzelnd. Er war bis zum Gürtel nackt und trug nur engsitzende, schwarze Hosen und den unverwüstlichen Armreif mit Eisen-und-Glühstein. Mit einem Blick sah Dirk, warum Janacek nicht solche Hemden mit V-Ausschnitt, wie sie Vikary zu bevorzugen schien, trug. Auf seiner linken Brustseite zog sich von der Achselhöhle bis zum Brustbein eine lange, aufgeworfene Narbe hin. Janacek bemerkte seinen Blick.
»Ein Duell, bei dem nicht alles klappte«, bellte er. »Ich war noch zu jung, es wird nicht wieder vorkommen.
Also, was wünschen Sie?«
Dirk errötete. »Ich möchte Gwen sehen«, sagte er. »Sie ist nicht hier«, erwiderte Janacek. Mit unfreundlichem Blick wollte er die Tür wieder schließen.
»Warten Sie.« Dirk fing die Tür mit der Hand auf.
»Was ist denn noch?« »Ich sollte Gwen hier treffen. Wo ist sie?« »In der Wildnis, t’Larien. Ich wäre erfreut, wenn Sie sich daran erinnerten, daß sie Ökologin ist, die von den Hochleibeigenen Eisenjades hierhergeschickt wurde, um wichtige Arbeit zu erledigen. Volle zwei Tage vernachlässigte sie ihre Arbeit und führte Sie landauf und landab. Nun hat sie sich wieder hinter ihre Pflichten geklemmt, wie es sich gehört. Arkin Ruark und sie haben ihre Instrumente genommen und sind in die Wälder gegangen.«
»Davon hat sie in der letzten Nacht nichts erwähnt«, blieb Dirk hart. »Sie muß Sie doch wohl nicht in ihre Pläne einweihen«, sagte Janacek. »Und auch nicht Ihre Erlaubnis einholen. Zwischen Ihnen existiert kein Bund!«
Dirk erinnerte sich an den Streit, den er die Nacht zuvor belauscht hatte und wurde plötzlich argwöhnisch.
»Kann ich hereinkommen?« fragte er. »Ich möchte Jaan das hier zurückgeben und mit ihm darüber diskutieren.« fügte er hinzu und zeigte Garse die in Leder gebundene Abhandlung. In Wirklichkeit wollte er nach Gwen Ausschau halten und herausfinden, ob man sie vor ihm versteckte. Dies zuzugeben, wäre aber nicht sehr höflich gewesen. Janacek triefte förmlich vor Feindseligkeit, und ein Versuch, sich an ihm vorbeizudrängeln, war bestimmt sehr unklug. »Im Augenblick ist Jaan nicht zu Hause.
Außer mir ist niemand hier, und ich gehe auch gleich.«
Er nahm das Manuskript aus Dirks Händen. »Das behalte ich jedoch hier. Gwen hätte es Ihnen nicht geben sollen.«
»Moment!« sagte Dirk, einer Eingebung folgend. »Der Text war sehr interessant. Kann ich hereinkommen und mit Ihnen darüber reden? Nur ein paar Minuten? Ich will Sie nicht aufhalten.« Janaceks Miene wandelte sich. Er lächelte, gab den Weg frei und bat Dirk in das Appartement.
Dirk sah sich unauffällig um. Der Wohnraum wirkte verlassen, im Kamin brannte kein Feuer. Nichts schien zu fehlen oder an anderer Stelle zu sein. Soviel er durch den Türbogen sehen konnte, war das Eßzimmer ebenfalls leer. Im ganzen Appartement war es sehr ruhig. Kein Zeichen einer Anwesenheit von Gwen oder Jaan.
Offensichtlich hatte Janacek die Wahrheit gesagt.
Unsicher ging Dirk durch den Raum und blieb vor dem Kamin und seinen Wasserspeiern stehen. Wortlos sah ihm Janacek zu, dann wandte er sich nach links und kam kurz darauf wieder zurück. Nun trug er seinen Webstahlgürtel mit dem umgeschnallten schweren Halfter und knöpfte ein schwarzes Hemd zu. »Wo gehen Sie hin?« fragte Dirk. »Ich gehe aus«, antwortete Janacek mit trockenem Grinsen. Er öffnete den Schnappverschluß an seinem Halfter, zog die Laserpistole und prüfte die Energieanzeige seitlich am Kolben. Dann steckte er sie weg und zog aufs neue, wobei seine rechte Hand eine fließende, elegante Bewegung vollführte. Er brachte die Waffe auf Dirk in Anschlag. »Beunruhige ich Sie?« wollte er wissen. »Ja«, sagte Dirk und trat vom Kamin zurück.
Janacek grinste wieder. Er ließ den Laser in das Halfter gleiten. »Mit dem Duell-Laser bin ich ganz gut«, sagte er, »obgleich mein teyn noch besser ist. Natürlich kann ich nur den rechten Arm gebrauchen. Der linke schmerzt zu sehr dabei. Das vernarbte Gewebe spannt sich, deshalb sind die Brustmuskeln auf dieser Seite nicht so beweglich wie auf der rechten. Dennoch macht es nicht viel aus. Ich bin in erster Linie Rechtshänder. Der rechte Arm ist immer mehr wert als der linke, wissen Sie.«
Während er sprach, ruhte seine rechte Hand auf der Laserpistole, und die Glühsteine in ihrer Fassung aus schwarzem Eisen leuchteten wie trübrote Augen an seinem Unterarm. »Das mit Ihrer Verletzung ist wirklich Pech.«
»Ich machte einen Fehler, t’Larien. Vielleicht war ich zu jung, aber der Fehler war für mein Alter dennoch gravierend. Solche Fehler können fatale Auswirkungen haben.« Er wandte den Blick nicht von Dirk. »Man sollte immer darauf achtgeben, daß man keinen Fehler macht.«
»Stimmt.« Dirk brachte ein unschuldiges Lächeln zustande. Eine ganze Zeit lang erwiderte Janacek nichts.
Dann sagte er endlich: »Ich denke, Sie wissen, wovon ich spreche.« »So?«
»Ja. Sie sind kein unintelligenter Mann, t’Larien. Ich aber auch nicht. Über Ihre kindischen Listen kann ich nicht lachen. Beispielsweise gibt es zwischen uns beiden überhaupt nichts zu diskutieren. Sie wollten ganz einfach Zugang zu diesem Zimmer haben, aus Gründen, die nur Sie allein kennen.«
Dirks Lächeln verschwand. »Na gut. Da Sie ihn so leicht durchschauten, war es wirklich ein lausiger Trick.
Ich wollte nach Gwen sehen.« »Ich sagte Ihnen, sie sei draußen in der Wildnis bei der Arbeit.« »Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte Dirk. »Davon hätte sie mir gestern etwas gesagt. Sie halten mich von ihr fern. Warum? Was ist los?« »Nichts von Bedeutung für Sie«, sagte Janacek.
»Verstehen Sie mich richtig, t’Larien. Vielleicht bin ich für Sie, wie auch für Ruark, ein schlechter Mensch. Das können Sie ruhig denken. Es stört mich kaum. Ich bin kein schlechter Mensch, deshalb warne ich Sie auch davor, Fehler zu begehen. Deshalb habe ich Sie auch hereingelassen, obwohl ich ganz genau weiß, daß Sie mir nichts zu sagen haben. Aber ich habe Ihnen ein paar Dinge zu sagen.«
Dirk lehnte sich in die Couch zurück und nickte. »In Ordnung, Janacek. Schießen Sie los.«
Janacek zog die Augenbrauen hoch. »Ihr Problem, t’Larien, ist, daß Sie sehr wenig von Jaan und mir und unserer Zeit wissen und noch weniger verstehen.«
»Ich weiß mehr, als Sie denken.« »Wirklich? Sie haben Jaans Schriften über die Dämonenlieder gelesen, und zweifellos haben verschiedene Leute Ihnen einiges erzählt. Na und? Was ist das schon? Sie sind kein Kavalare, und Sie verstehen die Kavalaren nicht, um es mal so auszudrücken. Und doch stehen Sie hier, und ich lese ein Urteil in Ihren Augen. Mit welchem Recht? Wer sind Sie, daß Sie sich ein Urteil anmaßen? Sie kennen uns kaum. Dafür will ich ein Beispiel anführen. Vor ein paar Augenblicken noch nannten Sie mich Janacek.«
»Das ist doch Ihr Name, oder?« »Das ist ein Teil meines Namens, der letzte Teil, der geringste und kleinste Teil von dem, was ich bin. Es ist mein Wahlname, der Name eines alten Helden der Eisenjadeversammlung, der ein langes, verdienstvolles Leben lebte und im Hochkrieg viele Male ehrenhaft seinen Festhalt und seine kethi verteidigte. Ich weiß natürlich, warum Sie ihn benutzten. Auf Ihrer Welt, in Ihrem Namenssystem, ist es üblich, Personen, zu denen man Abstand hat oder denen man nicht sonderlich zugetan ist, mit ihrem letzten Namen anzusprechen — einen Freund würden Sie doch mit seinem vorderen Namen anreden, oder nicht?« Dirk nickte. »Mehr oder weniger. Ganz so einfach ist es nicht, aber es kommt in etwa hin.«
Janacek lächelte dünn. Die blauen Augen schienen zu funkeln. »Sehen Sie, ich verstehe Ihr Volk nur zu gut. Ich gebe Ihnen den Vorzug Ihres eigenen Systems — ich nenne Sie t’Larien, weil ich Ihnen nicht freundlich gesinnt bin, und das ist korrekt. Sie übertragen diese Regel jedoch nicht auf mich. Ohne einen Augenblick nachzudenken, nennen Sie mich Janacek und drücken mir damit Ihr Namenssystem vorsätzlich auf!« »Wie soll ich Sie sonst nennen? Garse?«
Janacek vollführte eine ungeduldige Handbewegung.
»Garse ist mein echter Name, aber für Sie kommt er nicht in Frage. Nach kavalarischem Brauch zeigt dieser Name eine Verbindung an, die zwischen uns beiden nicht existiert. Garse ist ein Name für meinen teyn, meine cro-betheyn und meine kethi, aber kein Name für Fremde.
Die richtige Anrede für Sie wäre Garse Eisenjade, und mein teyn heißt für Sie Jaantony Hoch-Eisenjade. Das sind die traditionellen und korrekten Anredeformen für einen Gleichgestellten, einen Kavalaren aus anderem Hause, mit dem ich mich unterhalten will. Ihnen halte ich zugute, daß Sie das nicht wissen können.« Er lächelte.
»Mißverstehen Sie mich nicht, t’Larien, ich erzähle Ihnen das nur, um die Sachlage anschaulicher zu machen. Mich kümmert es herzlich wenig, ob Sie mich Garse, Garse Eisenjade oder Herr Janacek nennen — sprechen Sie mich an, wie es Ihnen Spaß macht, ich sehe darin keine Beleidigung. Der Kimdissi Arkin Ruark ist bekannt dafür, daß er mich Garsey nennt — dennoch widerstehe ich dem Drang, ihn aufzuspießen, um zu sehen, ob er dann platzt. Dies ist eine Sache der Form und der Höflichkeit — aber auch ohne Jaan weiß ich, daß dies alles alte Hüte sind, das Erbe einer Zeit, die zugleich feinfühliger und primitiver als unsere heutige war. Heute bewegen sich die Schiffe der Kavalaren von Stern zu Stern, wir reden und handeln mit Wesen, die wir früher als Dämonen angesehen und ausgerottet hätten. Wir formen sogar ganze Planeten so, wie wir Worlorn formten. Altkavaler, über Tausende von Standardjahren hinweg die Sprache der Festhalte, wird heute kaum noch gesprochen, aber es gibt einige Begriffe, die sich gehalten haben und die sich halten werden, weil sie Realitäten bezeichnen, die in der Sprache der Sternenfahrer nur ungenügend oder überhaupt nicht wiedergegeben werden können. Realitäten, die schon bald verschwunden wären, wenn wir ihre Namen, die altkavalarischen Begriffe, aufgäben. Alles hat sich verändert, auch wir von Hoch Kavalaan haben uns verändert, und Jaan sagt, daß wir uns weiter verändern müssen, um unseren Beitrag für den Fortschritt der Menschheit zu liefern. Daher zerbrechen die alten Namensregeln, und selbst die Hochleibeigenen befleißigen sich einer laxen Sprache. Jaantony Hoch-Eisenjade nennt sich sogar nur noch Jaan Vikary.«
»Und wie ist Ihr eigener Standpunkt, wenn ich fragen darf«, erkundigte sich Dirk.
»Es ging nur um die Veranschaulichung, t’Larien, um eine einfache und saubere Erklärung, wieviel Ihrer eigenen Kultur Sie fälschlicherweise als Teil auch der unsrigen annehmen, und wie Sie Ihre Urteile und Wert-vorstellungen mit jedem Wort und jeder Handlung auf uns anzuwenden versuchen. Allein darum ging es. Es stehen noch weitere wichtige Fragen an, das Muster bleibt jedoch dasselbe, Sie machen stets den gleichen Fehler, einen Fehler, den Sie nicht machen sollten. Der Preis kann höher sein, als Sie es sich leisten können.
Denken Sie vielleicht, ich weiß nicht, worauf Sie aus sind?« »Worauf ich aus bin?«
Janacek lächelte wieder. Seine Augen waren klein, und winzige Fältchen zerfurchten die Haut in ihren Winkeln.
»Sie versuchen Gwen Delvano meinem teyn wegzunehmen. Stimmt’s?« Dirk schwieg. »Es ist die Wahrheit«, antwortete Janacek schließlich für ihn. »Und es ist nicht richtig. Es wird niemals geschehen, merken Sie sich das. Ich werde es nicht erlauben. Ich bin durch Eisen-und-Feuer an Jaantony Hoch-Eisenjade gebunden, und ich vergesse das nicht. Wir beide sind teyn-und-teyn.
Keine Verbindung, die Sie kennen, ist stärker.« Dirk ertappte sich bei einem Gedanken an Gwen und eine dunkelrote Träne voller Erinnerungen und Versprechen.
Er fand es bedauerlich, daß er das Rüsterjuwel Janacek nicht einen Augenblick geben konnte, damit der arrogante Kavalare fühlte, wie stark die Verbindung zwischen Dirk und Jenny gewesen war. Aber eine solche Geste hätte nichts genützt. Janaceks Gehirn war kein Resonanzkörper für die in den Stein hineingeätzten Gefühle, er würde in ihm lediglich ein Schmuckstück sehen. »Ich liebte Gwen«, sagte er schneidend. »Und ich bezweifle, daß eine Ihrer Verbindungen mehr als das bedeutet.«
»So, tun Sie das? Nun, Sie sind kein Kavalare, genausowenig wie Gwen. Sie verstehen das Eisen-und-Feuer nicht. Ich traf Jaantony zum ersten Mal, als wir beide noch sehr jung waren. In Wahrheit war ich noch erheblich jünger als er. Er spielte lieber mit jüngeren Kindern als mit gleichaltrigen und kam häufig in unseren Hort. Von Anfang an hielt ich so große Stücke auf ihn, wie es nur ein Junge kann. Weil er älter war als ich und daher den Hochleibeigenen näherstand, weil er mich auf Abenteuer in fremde Gänge und Höhlen führte und weil er spannende Geschichten erzählte. Als ich älter war, erfuhr ich, warum er so oft zu den jüngeren Kindern kam.
Ich war schockiert und schämte mich. Er fürchtete sich vor den Gleichaltrigen, weil diese ihn aufzogen und oft verprügelten. Als ich das alles erfuhr, gab es jedoch schon einen Bund zwischen uns. Sie würden es Freundschaft nennen, aber damit hätten Sie unrecht, denn Sie würden wieder Ihre eigenen Konzepte auf unser Leben übertragen. Es war mehr als eure Außenweltlerfreundschaft, und obgleich wir noch nicht teyn-und- teyn waren, gab es schon Eisen zwischen uns.
Als Jaan und ich das nächste Mal auf Erkundung gingen — wir befanden uns weit von unserem Festhalt entfernt, in einer Höhle, die er gut kannte —, griff ich ihn überraschend an und schlug ihn, bis er am ganzen Körper Abschürfungen und blaue Flecken hatte. Den ganzen Winter über besuchte er mich nicht in der Jugendbaracke, dann kam er endlich zurück. Es stand nichts zwischen uns. Wieder begannen wir, zusammen herumzustreifen und zu jagen, und er erzählte mir weitere Geschichten, Erzählungen aus Mythos und Geschichte. Ich für meinen Teil überfiel ihn von Zeit zu Zeit, traf ihn immer unvorbereitet und überwältigte ihn. Mit der Zeit begann er zurückzuschlagen. Er wurde immer besser. Dann kam der Tag, an dem ich ihn mit meinen Fäusten nicht mehr überwinden könnte. Einige Zeit später versteckte ich unter meinem Hemd ein Messer aus Eisenjade, zog vor Jaan blank und verletzte ihn. Von nun an trugen wir beide Messer, Als Jaan seine Adoleszenz erreichte, jenes Alter, in welchem er sich seine Wahlnamen aussuchen durfte und unter den Duellkodex fiel, war er den Spötteleien nicht mehr hilflos ausgesetzt.
Er war immer unbeliebt. Er war immer einer von der kritischen Sorte, müssen Sie wissen, einer, der unangenehme Fragen stellte und unorthodoxe Meinungen vertrat, ein Liebhaber der Geschichte, aber ein offener Religionsverächter, der viel zuviel ungesundes Interesse an jenen Außenweltlern zeigte, die sich bei uns aufhielten. Als solcher wurde er im ersten Jahr seines Duellalters immer wieder gefordert. Und immer gewann er. Als ich einige Jahre später meine Adoleszenz erreichte und wir zu teyn- und -teyn wurden, gab es kaum einen Gegner, der gegen mich kämpfen wollte. Jaantony hatte sie alle eingeschüchtert, und keiner wagte es, uns herauszufordern. Ich war fürchterlich enttäuscht. Seit damals standen wir oft im Duell zusammen. Wir sind bei unserem Leben aneinandergebunden und haben viel durchgemacht. Es kümmert mich nicht, wenn Sie das mit jener bedeutungslosen ›Liebe‹ vergleichen, von der ihr Außenweltler so verzaubert seid, mit diesem Spottmen-schenbund, der mit dem Wind kommt und mit dem Wind geht. Selbst Jaantony wurde während seiner Jahre auf Avalon von dieser Vorstellung schwer korrumpiert. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch meine Schuld, weil ich ihn allein gehen ließ. Obwohl ich dort völlig fehl am Platze gewesen wäre, hätte ich ihn begleiten sollen. In dieser Zeit habe ich Jaan im Stich gelassen. Aber das wird mir nicht noch einmal passieren. Ich bin sein teyn und werde sein teyn bleiben. Ich werde niemandem erlauben, ihn zu töten, ihn zu verwunden, ihn geistig zu verwirren oder seinen Namen in den Schmutz zu ziehen.
Das gehört zu meinem Bund, das ist meine Pflicht.
Neuerdings läßt Jaan nicht selten seinen Namen von Leuten wie Ihnen oder Ruark bedrohen. Er ist auf manche Art ein querköpfiger, gefährlicher Mann, und seine Anwandlungen haben uns schon oft in Gefahr gebracht. Selbst seine Idole sind … Eines Tages erinnerte ich mich an eine Geschichte, die er in unserer Kindheit erzählte, und schlagartig erkannte ich, daß Jaans Lieblingshelden allesamt Einzelgänger waren, deren Leben durch Niederlagen gekennzeichnet wurde. Aryn Hoch-Glühstein zum Beispiel, der eine ganze Geschichtsepoche hindurch eine dominierende Gestalt war. Durch die Stärke seiner Persönlichkeit herrschte er über den mächtigsten Festhalt, den es je auf Hoch Kavalaan gab, den Glühsteinberg. Als sich seine Feinde im Hochkrieg gegen ihn verbündeten und sich alle Hände gegen die Seinen erhoben, bewaffnete er seine eyn-kethi mit Schwertern und Schilden und führte sie in die Schlacht, um seine Armee zu verstärken. Seine Gegner wurden geschlagen und erniedrigt — so jedenfalls hörte ich die Geschichte von Jaan. Später erfuhr ich jedoch, daß Aryn Hoch-Glühstein keineswegs gesiegt hatte. Von den eyn-kethi seines Festhalts wurden so viele erschlagen, daß später nur noch wenige Krieger geboren werden konnten. Glühsteinberg verlor ständig an Macht und Einwohnern, und vierzig Jahre nach Aryns kühnem Schlag fielen die Glühsteiner. Die Hochleibeigenen aus Taal, Eisenjade und Bronzefaust bemächtigten sich ihrer Frauen und Kinder und ließen nur leere Hallen und Gänge zurück. In Wirklichkeit war Aryn Hoch-Glühstein ein Versager und Narr, eines der schwarzen Schafe der Geschichte — und aus diesem Holz sind Jaans verrückte Helden allesamt geschnitzt.«
»Für mich hören sich Aryns Taten heroisch genug an«, sagte Dirk hart. »Auf Avalon hält man ihm wahrscheinlich die Befreiung der Sklavinnen zugute, selbst wenn er nicht gewann.«
Janacek warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Die Augen waren wie zwei blaue Funken in seinem schmalen Schädel. Ärgerlich zupfte er an seinem roten Bart.
»Genau vor Aussagen wie dieser habe ich Sie gewarnt, t’Larien. Eyn-kethi sind keine Sklavinnen, es sind eben eyn-kethi. Sie urteilen falsch, und Ihre Übersetzungen stimmen auch nicht.« »Das sagen Sie«, konterte Dirk.
»Ruark meint …« »Ruark!« Janacek sprach diesen Namen verächtlich aus. »Ist der Kimdissi etwa der Quell Ihrer Informationen über Hoch Kavalaan? Ich beginne zu begreifen, daß ich im Gespräch mit Ihnen Zeit und Worte verschwendet habe. Sie sind schon vergiftet und wollen überhaupt nichts verstehen. Sie sind Werkzeug der Manipulatoren von Kimdiss. Ich werde Ihnen nichts mehr erzählen.«
»Schön«, sagte Dirk. »Verraten Sie mir nur noch, wo Gwen ist.« »Das habe ich Ihnen bereits gesagt.« »Wann wird sie zurück sein?«
»Spät, und dann ist sie müde. Ich bin sicher, sie wünscht Sie nicht zu sehen.«
»Sie halten sie mir wirklich fern!«
Janacek schwieg einen Augenblick. »Ja«, sagte er schließlich mit spöttisch verzogenem Mund. »So ist es am besten, t’Larien, für euch beide, obwohl ich nicht erwarte, daß Sie das einsehen werden.« »Dazu haben Sie kein Recht.«
»In Ihrer Kultur vielleicht nicht. In meiner habe ich jedes Recht. Sie werden nicht wieder allein mit ihr sein.«
»Gwen ist kein Teil Ihrer verdammten kranken Kavalarkultur «, sagte Dirk. »Sie wurde nicht in sie hineingeboren, dennoch nahm sie Jade-und-Silber und den Namen betheyn an. Jetzt ist sie eine Kavalarin.«
Dirk zitterte, seine Selbstbeherrschung war dahin.
»Und was sagt Gwen dazu?« wollte er wissen und trat näher an Janacek heran. »Was sagte sie letzte Nacht?
Drohte sie zu gehen?« Er tippte den Kavalaren mit dem Finger an. »Sagte sie, sie würde mit mir gehen — war es das? Und Sie schlugen sie und trugen sie fort?«
Janaceks Miene verfinsterte sich. Er wischte Dirks Hand energisch beiseite. »Dann spionieren Sie uns auch noch nach. Sie machen es schlecht, t’Larien, aber es kommt trotzdem einer Beleidigung gleich. Ein zweiter Fehler. Der erste ging auf Jaans Konto. Als er Ihnen alles sagte, Ihnen vertraute und Ihnen seinen Schutz anbot.«
»Ich brauche keinen Schutz!«
»Das sagen Sie. Der falsche Stolz eines Schwachsinnigen. Nur die Starken sollten das Schutzangebot zurückweisen, die Schwachen aber brauchen es.« Er wandte sich ab. »Mit Ihnen vergeude ich meine Zeit nicht länger«, sagte er und ging ins Eßzimmer hinüber. Dort lag ein schwarzer Aktenkoffer auf dem Tisch. Janacek öffnete beide Schlosser gleichzeitig und hob den Deckel. Im Inneren sah Dirk fünf Reihen schwarzer Bansheenadeln auf rotem Filz. Janacek hielt eine davon hoch. »Sind Sie ganz sicher, daß Sie keine davon wollen? Korariel?« Er grinste. Dirk verschränkte die Arme und ließ sich nicht dazu herab, diese Frage zu beantworten.
Janacek wartete einen Moment lang auf die Erwiderung. Als keine kam, legte er die Bansheenadel an ihren Platz zurück und schloß den Koffer. »Die Puddingkinder sind nicht so wählerisch wie Sie«, sagte er. »Jetzt muß ich das hier zu Jaan bringen. Verschwinden Sie.«
Es war früher Nachmittag. Mitten am Himmel brannte die Nabe trüb, die verstreuten kleinen Lichter der vier sichtbaren trojanischen Sonnen unregelmäßig um sie angeordnet. Vom Osten her blies ein starker Wind, der immer mehr auffrischte. Staub wirbelte durch die grauroten Gassen. Dirk saß auf dem Rand des Daches und spielte seine Möglichkeiten durch. Seine Beine baumelten über der Straße. Er war Garse Janacek zum Dach hinauf gefolgt und hatte ihn samt Bansheekoffer in sein wuchtiges, olivgrün gepanzertes Militärrelikt steigen und wegfliegen sehen. Die anderen beiden Gleiter, die graue Mantaschwinge und die hellgelbe Träne, waren ebenfalls fort. Er lag hier in Larteyn auf Eis und hatte keine Ahnung, wo Gwen war, oder was sie mit ihr anstellten. Er wünschte sich kurz, daß Ruark in der Nähe wäre. Jetzt hätte er einen eigenen Gleiter nötig gehabt.
Zweifellos konnte man in Challenge welche mieten — wenn er doch nur früher daran gedacht hätte. Oder auf dem Raumhafen, direkt nach seiner Ankunft. So war er allein und hilflos, selbst die Himmelsflitzer waren nicht aufzufinden. Die Welt war rot und grau und sinnlos. Er wußte nicht, was er tun sollte. Während er dasaß und über Gleiter nachdachte, ging ihm plötzlich ein Licht auf.
Die Festivalstädte, die er gesehen hatte, unterschieden sich alle sehr stark, aber eines hatten sie gemeinsam: Keine bot genügend Landemöglichkeiten für so viele Gleiter, wie sie Einwohner beherbergen konnte. Das hieß, die Städte mußten durch ein anderes Transportsystem miteinander verbunden sein. Das wiederum verlieh ihm einen gewissen Aktionsradius. Er stand auf, ging zu den Aufzügen und fuhr zu Ruarks Quartier im Fuß des Turmes hinunter. Zwischen zwei schwarzrindigen, deckenhohen Pflanzen in Ton topfen wartete ein dunkler, ausgeschalteter Wandschirm, genau wie ihn Dirk in Erinnerung hatte. Er hatte ihn noch nicht in Betrieb gesehen, denn es gab nur noch wenige Menschen auf Worlorn, die man anrufen konnte. Aber ohne Zweifel mußte es so etwas wie ein Informationszentrum geben. Er untersuchte die Doppelreihe von Knöpfen unter dem Schirm, wählte einen aus und drückte ihn. Die Schwärze machte pastellblauem Licht Platz, und Dirk atmete auf. Wenigstens war die Anlage noch intakt.
Einer der Knöpfe trug ein Fragezeichen. Er betätigte ihn und wurde belohnt. Das blaue Licht hellte sich auf, und plötzlich erschienen viele kleine Schriftzeichen auf dem Schirm, hundert Nummern für hundert grundverschiedene Dienste. An alles war gedacht, von ärztlicher Hilfe und religiösem Beistand bis hin zu außerplanetarischen Nachrichten fehlte nichts.
Er drückte die Zeichenfolge für »Besuchertransport« ein. Daten und Schaubilder flossen über den Schirm, und Dirks Hoffnung schwand langsam dahin. Auf dem Raumhafen und in zehn der vierzehn Städte gab es Gleitervermietungen. Es hatte sie gegeben. Die noch funktionierenden Gleiter waren mit den letzten Besucherströmen von Worlorn verschwunden. Andere Städte hatten Hovercrafts und Tragflügelboote zur Verfügung gestellt — das war nun auch vorbei. In Musquel-am-Meer konnten Besucher in einem echten windgetriebenen Schiff von der Vergessenen Kolonie die Küste entlangsegeln: Dienst eingestellt. Die Intercity-Luftbuslinie hatte ihren Fahrplan gestrichen, die atomgetriebenen Stratoliner von Tober und die Heliumluftschiffe von Eshellin waren längst zerlegt und abtransportiert worden. Der Bildschirm zeigte ihm einen Plan der Hochgeschwindigkeitsbahnen, die vom Raumfeld aus unterirdisch in jede Stadt fuhren. Aber die Karte erschien in roter Farbe, und im Text darunter stand, was rote Farbe zu bedeuten hatte: »Außer Betrieb — nicht benutzbar«. Wie es schien, blieb ihm auf Worlorn kein Transportsystem außer seinen Beinen. Dazu kam nur das, was spätere Besucher mitgebracht hatten.
Dirk runzelte die Stirn und löschte die Schrift. Gerade wollte er den Schirm abschalten, da kam ihm noch ein Gedanke. Er drückte den Code für »Bibliothek«. Ein seltsames Zeichen erschien, Instruktionen folgten. Dann gab er die Begriffe »Puddingkinder« und »definieren« ein. Er wartete.
Die Wartezeit war nur kurz. Die Bibliothek überschüttete ihn geradezu mit Informationen über Geschichte, Geographie und Philosophie. Die gewünschten Informationen las er schnell, den Rest beachtete er nicht. »Puddingkinder« war, wie es schien, der gebräuchliche Spitzname für die Anhänger eines pseudoreligiösen Drogenkultes auf der Welt des Schwarzweinozeans. Man nannte sie so, weil sie jahrelang im höhlenreichen, feuchten Inneren von kilometerlangen Gelatineschnecken verbrachten, die mit unendlicher Langsamkeit über den Meeresgrund krochen.
Die Kultisten nannten diese Kreaturen Mütter. Die »Mütter« fütterten ihre »Kinder« mit süßen, halluzinogenen Sekreten und wurden als halbintelligent angesehen. Der Glaube, so mußte Dirk feststellen, hielt die Puddingkinder aber nicht davon ab, ihren Wirt zu töten, wenn die Qualität seiner Traumsekrete nachzulassen begann — was unweigerlich geschah, wenn die Schnecken ein gewisses Alter erreichten. Danach suchten sich die Puddingkinder eine neue Mutter. Rasch ließ Dirk die Informationen vom Schirm verschwinden und nahm wieder die Bibliothek in Anspruch. Auch die Welt des Schwarzweinozeans hatte eine Stadt auf Worlorn gebaut. Sie lag unter einem künstlichen See, dessen Ufer fünfzig Kilometer lang waren, und der das gleiche dunkle Wasser enthielt, das in so reicher Fülle die Oberfläche der Heimatwelt bedeckte. Ihr Name war Stadt im Sternenlosen Teich, und der See war voller Lebensformen, die man anläßlich des Randfestivals hierhergebracht hatte. Zweifellos zählten auch Mütter dazu.
Reine Neugier ließ Dirk die Stadt auf einer Karte Worlorns suchen. Er hatte natürlich keine Möglichkeit, dorthin zu kommen. Er löschte den Wandschirm und ging in die Küche, um sich ein Getränk zu mixen. Als er das Glas absetzte — es enthielt die dicke weiße Milch eines Kimdissitieres, sehr kalt, bitter, aber erfrischend —, trommelte er nervös mit den Fingern auf den Tisch. Seine Rastlosigkeit, der Drang, etwas zu tun, wuchs. Er war hier gefangen und mußte darauf warten, bis einer der anderen zurückkam. Wer das sein würde oder was dann geschah, wußte er nicht. Es war, als hätten ihn die anderen aus Lust und Laune hin und her geschoben seit dem Tag, an welchem er auf der Schaudern der Vergessenen Feinde angekommen war. Er war nicht einmal aus eigenem Willen gekommen, Gwen hatte ihn mit ihrem Flüsterjuwel gerufen, obgleich sie nicht begeistert schien, als er eintraf. Wenigstens das begann er langsam zu verstehen. Sie war in einem äußerst komplizierten Netz gefangen, einem politischen und gleichzeitig emotionalen Netz und anscheinend hatte er sich ebenfalls darin verstrickt und war hilflos jenen Stürmen psychosexueller und kultureller Spannungen ausgesetzt, die sie beide umtobten. Langsam hatte er davon die Nase voll. Plötzlich mußte er an Kryne Lamiya denken. Auf einem sturmgepeitschten Landedeck standen zwei verlassene Gleiter. Bedächtig stellte Dirk sein Glas ab, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und lief zum Wandschirm zurück.
Es war keine schwierige Aufgabe, die Positionen aller Gleiterlandeplätze in Larteyn abzurufen. Auf allen größeren Wohn türmen befanden sich solche Plätze, und tief im Berg unter der Stadt gab es eine öffentliche Garage. Die Stadtdirektion informierte ihn, daß diese Garage durch zwölf unterirdische Aufzüge erreicht werden konnte, die gleichmäßig über das Stadtgebiet verteilt waren. Der verborgene Garagenausgang befand sich inmitten der Felswand, die aus dem Freigelände hochragte. Falls die Kavalaren überhaupt Gleiter in ihrer Stadt zurückgelassen hatten, würde er sie dort finden.
Vom Aufzug ließ er sich ins Erdgeschoß und damit zur Straße bringen. Der Fette Satan hatte den Zenit überschritten und sank dem Horizont entgegen. Wohin der rote Schein fiel, wirkten die Glühsteinstraßen verwaschen schwarz, aber als sich Dirk durch die Schatten zwischen den ebenholzfarbenen Quadertürmen bewegte, konnte er noch das kalte Feuer der Stadt bemerken, jenes sanftrote Glühen des Gesteins, das noch immer nicht ganz erloschen war. Im Sonnenlicht warf er selbst Schatten, zarte, dunkle Geister, die sich linkisch übereinanderlegten — wobei sie sich fast, aber nicht vollständig deckten — und ihm zu schnell auf den Fersen folgten, als daß sie den schlafenden Glühstein zum Leben erweckt hätten. Die ganze Zeit über sah er keinen Menschen, obwohl er dauernd an die Braiths denken mußte und einmal an einem offenbar bewohnten Gebäude vorbeikam. Es handelte sich um ein würfelförmiges Gebäude mit gewölbtem Dach und zwei Eisenpfeilern neben dem Toreingang. An einem der Eisenpfeiler war ein Hund angebunden, der aufgerichtet Dirk glatt überragt hätte. Er hatte leuchtendrote Augen und eine lange, haarlose Schnauze, die Dirk irgendwie an die einer Ratte erinnerte. Das Tier kaute auf einem Knochen herum, aber als Dirk an ihm vorüberging, erhob es sich und knurrte tief und kehlig. Wer auch in dem Gebäude wohnen mochte, der Gedanke an Besucher schien ihm nicht zu behagen.
Die Fahrstühle nach unten funktionierten noch. Es ging abwärts, und das Tageslicht verschwand. In den unteren Gewölbegängen stieg er aus. Hier besaß Larteyn die größte Ähnlichkeit mit den Festhalten auf Hoch Kavalaan. Widerhallende Steingänge mit Wandverkleidungen aus gehämmertem Eisen, Metalltüren, wohin man sah, Zimmer innerhalb von Zimmern. Ein Bollwerk im Fels, hatte Ruark einst gesagt.
Eine Festung, von der kein Teil leicht genommen werden konnte. Aber jetzt war sie verlassen. Die Garage mit ihren zehn Ebenen glich einem matt beleuchteten Parkhaus. Jede Ebene bot tausend Gleitern Platz. Dirk mußte jedoch eine halbe Stunde durch den Staub gehen, bevor er das erste Fahrzeug fand. Er war für ihn nutzlos.
Auch dies war ein Tier-Wagen, und seine groteske Ähnlichkeit mit einer blauschwarzen Riesenfledermaus ließ ihn noch realistischer und furchteinflößender als Jaan Vikarys doch recht stilisierten Manta-Banshee erscheinen. Eine der modischen Fledermausschwingen war verbogen und halb abgeschmolzen, vom Gleiter selbst war nur mehr der Rumpf intakt. Die Armaturen, das Triebwerk und die Bordwaffen waren verschwunden.
Dirk nahm an, daß auch der Antischwerkraftgenerator nicht mehr vorhanden war, obwohl er das Wrack nicht von unten inspizieren konnte. Er ging einmal prüfend herum, das reichte.
Der zweite Gleiter war in noch schlimmerem Zustand.
Ihn konnte man kaum noch als Luftwagen erkennen.
Außer einem blanken Metallrahmen und vier verrotteten Sitzen inmitten von wirrem Röhrengestänge war nichts geblieben — ein Metallskelett, selbst seiner Haut beraubt.
Auch an ihm ging Dirk vorbei. Die beiden nächsten Wracks waren intakt, aber leider ebenfalls nicht zu gebrauchen. Er konnte nur vermuten, daß ihre Besitzer hier auf Worlorn gestorben waren, während die Gleiter mit eingeschalteten Maschinen, in der Tiefe der Stadt völlig vergessen, summten, bis ihre Energiereserven aufgebraucht waren. Beide versuchte er zu starten, aber keiner sprach auf seine Bemühungen an.
Der fünfte Wagen hingegen — nun war eine volle Stunde vergangen - sprang schnell an.
Der bullige Zweisitzer war durch und durch kavalarisch. Seine kurzen Deltaflügel sahen sogar noch nutzloser aus als die Flügel anderer Luftwagen aus Hoch Kavalaans Industriewerken. Er war in Weiß und Silber gehalten, und das Metallverdeck besaß die Form eines Wolfskopfes. An beiden Seiten des Rumpfes waren Laserkanonen angebracht. Der Gleiter war nicht abgeschlossen. Dirk drückte gegen das Verdeck und schwenkte es nach hinten auf. Er stieg hinein, ließ es wieder einrasten und blickte mit gequältem Lächeln aus den großen Wolfsaugen. Dann bediente er die Armaturen. Der Gleiter sprang sofort an.
Stirnrunzelnd schaltete er den Antrieb wieder ab und lehnte sich zurück, um nachzudenken. Er hatte das Transportmittel gefunden, das er suchte — falls er wagte, es zu nehmen. Aber er durfte sich nichts vormachen.
Dieser Wagen war kein verlassener Schrotthaufen wie die anderen. Dafür war sein Zustand viel zu gut.
Zweifellos gehörte er einem der anderen Kavalaren, die sich noch immer in Larteyn befanden. Falls die Farben eine Bedeutung hatten — er war sich darüber nicht ganz im klaren —, gehörte er wahrscheinlich Lorimaar oder einem anderen Braith. Ihn an sich zu nehmen, war auf längere Zeit sicher nicht das gesündeste. Dirk erkannte die Gefahr und wog die Vor- und Nachteile ab. Die Aussicht, noch länger warten zu müssen, stimmte ihn mißmutig, aber die drohende Gefahr behagte ihm noch weniger. Jaan Vikary hin, Jaan Vikary her, den Diebstahl ihres Gleiters würden die Braiths nicht tatenlos hinnehmen.
Widerwillig schob er das Verdeck zurück und stieg aus.
Einen Augenblick später hörte er die Stimmen. Als er das Verdeck wieder schloß, rastete es mit leisem, aber deutlich vernehmbarem Klicken ein. Dirk bückte sich und huschte um den Wolfsgleiter herum auf eine Sicherheit versprechende düstere Ecke zu.
Lange bevor er sie sah, konnte er die Kavalaren reden und ihre Fußtritte hallen hören. Es waren nur zwei, aber sie machten einen Lärm wie zehn. Als sie die beleuchtete Stelle erreichten, wo der Gleiter stand, hatte sich Dirk längst in eine Mauernische gedrückt, eine schmale Aussparung in der Garagenwand, die voller Haken war, an denen einst Werkzeuge gehangen haben mußten. Er wußte nicht recht, warum er sich versteckte, aber er war sehr froh darüber. Was ihm Gwen und Jaan von den anderen Bewohnern Larteyns erzählt hatten, konnte ihn nicht gerade dazu bringen, sich sicher zu fühlen.
»Weißt du das genau, Bretan?« sagte der Größere gerade, als die beiden Männer in Sicht kamen. Es war nicht Lorimaar, aber die Ähnlichkeit war frappierend.
Auch dieser Mann war von imposanter Statur und besaß dasselbe sonnengebräunte, runzlige Gesicht. Er neigte jedoch mehr zur Leibesfülle, und wenn Lorimaar Hoch-Braith graue Haare hatte, so konnten seine nur als schlohweiß bezeichnet werden. Außerdem trug er einen Schnurrbart, den man für die Borsten einer Zahnbürste hätte halten können. Er und sein Gefährte trugen weiße Jacken über Hosen und Hemden aus Chamäleonstoff, die im Dämmerlicht der Garage einen tief schwarzen Farbton angenommen hatten. Beide waren mit Lasern bewaffnet.
»Roseph würde sich keinen Spaß mit mir erlauben«, sagte der zweite Kavalare, und seine Stimme klang wie ein Reibeisen. Er war viel kleiner als der andere Mann, etwa so groß wie Dirk, sah auch jünger aus und wirkte sehr schlank. An seiner Jacke fehlten die Ärmel, die er wohl entfernt hatte, um seine muskulösen braunen Arme und den Armreif aus Eisen-und-Glühstein zu entblößen.
Als er auf den Gleiter zuging, trat er für einen Moment ganz ins Licht und schien dabei auf jene Stelle in der Dunkelheit zu starren, wo sich Dirk versteckt hielt. Er besaß nur ein halbes Gesicht, der Rest bestand aus zuckendem Narbengewebe. Während er den Kopf wandte, bewegte sich sein »Auge« unablässig, und Dirk erkannte das verräterische Feuer. In der leeren Augenhöhle saß ein Glühstein.
»Woher willst du das wissen?« sagte der ältere Mann, als die beiden kurz neben dem Wolfsgleiter anhielten.
»Roseph liebt manchmal Scherze.«
»Ich aber nicht«, sagte der andere, den der Ältere Bretan nannte. »Roseph mag mit dir, Lorimaar und selbst mit Pyr seine Späßchen treiben, aber bei mir würde er es nicht wagen.« Seine Stimme klang erschreckend unangenehm, ihr Raspeln war eine Beleidigung für das Ohr. Aber bei den breiten Narben, die bis zum Hals hinabreichten, erschien es Dirk als ein Wunder, daß der Mann überhaupt reden konnte. Der hochgewachsene Kavalare rüttelte an der Seite des Wolfskopfes, aber das Verdeck hob sich nicht. »Nun, wenn das stimmt, müssen wir uns beeilen«, sagte er mürrisch. »Was ist mit dem Schloß los, Bretan?«
Der einäugige Bretan gab ein halb stöhnendes, halb knurrendes Geräusch von sich. Er versuchte sich selbst an dem Verdeck. »Mein teyn«, krächzte er. »Ich habe das Dach leicht offengelassen … ich … es dauerte nur einen Augenblick, dich herunterzuholen.«
In der Finsternis preßte sich Dirk noch enger gegen die Wand. Schmerzhaft drückten sich ihm die Eisenhaken zwischen die Schulterblätter. Bretan kniete sich wütend nieder, während sein älterer Kollege verwirrt stehenblieb.
Dann stand der Braith plötzlich wieder. Die Laserpistole in seiner Hand zeigte genau auf Dirk. Sein Glühsteinauge glomm schwach. »Komm raus und laß uns sehen, wer du bist«, rief er. »Die Spur, die du im Staub zurückgelassen hast, kann man genau verfolgen.«
Schweigend hob Dirk die Hände über den Kopf und trat vor. »Ein Spottmensch!« sagte der größere Kavalare.
»Hier entlang!« »Nein«, bemerkte Dirk vorsichtig. »Dirk t’Larien.« Der Großgewachsene ignorierte ihn. »Wir haben wirklich großes Glück«, sagte er zu seinem Begleiter mit dem Laser. »Diese Puddingmenschen, die Roseph aufgespürt hat, hätten eine armselige Beute abgegeben. Der hier sieht besser aus.«
Sein junger teyn gab wieder diesen seltsamen Laut von sich, und seine linke Gesichtshälfte zuckte nervös. Aber seine Laserhand blieb ganz ruhig. »Nein«, sagte er, an den anderen Braith gewandt. »Leider glaube ich nicht, daß wir ihn jagen dürfen. Es kann nur der sein, von dem Lorimaar sprach.« Er ließ die Laserwaffe wieder in das Halfter gleiten und nickte Dirk zu, eine unscheinbare, bedächtige Bewegung, mehr mit den Schultern als mit dem Kopf. »Du bist sehr unachtsam. Wenn das Verdeck ganz geschlossen wird, verriegelt es sich automatisch.
Von innen kann man es öffnen, aber …« »Das sehe ich jetzt auch«, sagte Dirk. Er senkte die Hände. »Ich suchte nur nach einem verlassenen Wagen. Ich brauchte ein Transportmittel.«
»Also wolltest du unseren Wagen stehlen.« »Nein.«
»Doch.« Die Stimme des Kavalaren machte jedes Wort zur schmerzhaften Anstrengung. »Bist du korariel von Eisenjade?« Dirk zögerte, seine Verneinung blieb ihm im Halse stecken. Beide möglichen Antworten würden ihn in Schwierigkeiten bringen. »Weißt du darauf keine Antwort?« sagte das Narbengesicht. »Bretan«, drängte ihn der andere zur Mäßigung. »Was der Spottmensch sagt, spielt für uns keine Rolle. Falls Jaantony Hoch-Eisenjade ihn korariel nennt, dann ist das die Wahrheit.
Diese Tiere dürfen nicht selbst über ihren Status bestimmen, sie haben nicht einmal ein Mitspracherecht.
Deshalb ist es einerlei, was er sagt. Erschlagen wir ihn, dann haben wir uns an Eigentum von Eisenjade vergriffen — und das wird unweigerlich eine Herausforderung nach sich ziehen.« »Denke die Möglichkeiten durch, Chell«, sagte Bretan. »Dieser hier, dieser Dirk t’Larien, kann Mensch oder Spottmensch sein, korariel von Eisenjade oder auch nicht. Richtig?«
»Richtig. Aber er ist kein wahrer Mensch. Höre auf mich, mein teyn. Du bist jung, aber ich weiß diese Dinge von kethi, die schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilen.«
»Überlege trotzdem. Wenn er ein Spottmensch ist und die Eisenjades ihn korariel nennen, dann ist er korariel, ob er das zugibt oder nicht. Falls das aber die Wahrheit ist, müssen wir die Eisenjades zum Duell fordern, Chell.
Er versuchte uns zu bestehlen, das darfst du nicht vergessen. Wenn er Eigentum von Eisenjade ist, dann geht der Diebstahl auf deren Konto.«
Der große weißhaarige Mann nickte langsam, fast widerwillig. »Ist er ein Spottmensch, aber kein korariel, dann ergibt sich kein Problem«, fuhr Bretan fort, »denn dann darf er gejagt werden. Aber was ist, wenn er ein echter Mensch ist, menschlich wie ein Hochleibeigener und damit überhaupt kein Spottmensch?«
Chell war viel langsamer als sein teyn. Der ältere Kavalare runzelte gedankenvoll die Stirn und sagte:
»Nun, er ist nicht weiblich, deshalb kann man ihn nicht besitzen. Aber wenn er menschlich ist, muß er eines Mannes Rechte und eines Mannes Namen haben.«
»Richtig«, pflichtete Breton bei. »Aber er kann dann kein korariel sein. Demnach wäre es sein eigenes Verbrechen. Ich würde mich mit ihm duellieren, nicht mit Jaantony Hoch-Eisenjade.« Der Braith gab wieder das seltsame knurrende Stöhnen von sich.
Chell nickte, und Dirks Glieder fühlten sich plötzlich taub an. Der jüngere der beiden Jäger hatte die Sachlage augenscheinlich mit scheußlicher Präzision dargelegt.
Dirk hatte Vikary und Janacek ganz klar zu verstehen gegeben, daß er auf ihren anrüchigen Schutz keinen Wert legte. Auf geistig intakten Welten wie Avalon wäre diese Entscheidung auch fraglos richtig gewesen. Auf Worlorn lagen die Dinge anders. »Wo sollen wir ihn hinbringen?« fragte Chell. Die beiden taten so, als habe Dirk nicht mehr eigenen Willen als ihr Gleiter. »Wir müssen ihn zu Jaantony Hoch-Eisenjade und seinem teyn bringen«, sagte Bretan in seinem Sandpapiergebrumm. »Ich kenne ihren Turm vom Sehen.«
Dirk überlegte kurz, ob er nicht lieber flüchten sollte.
Es schien nicht angebracht. Sie waren zu zweit, außerdem hatten sie Feuerwaffen und sogar einen Gleiter. Weit würde er nicht kommen. »Ich komme schon«, sagte er, als sie auf ihn zugingen. »Ich kann Ihnen den Weg zeigen.« Wie es auch lief, in jedem Fall würde er einige Zeit zum Nachdenken haben. Die Braiths schienen nicht zu wissen, daß Vikary und Janacek schon draußen in der Stadt im Sternenlosen Teich waren und dort zweifellos die hilflosen Puddingkinder vor ihren Jägern zu schützen suchten.
»Dann zeige ihn uns«, sagte Chell. Und Dirk, der nicht wußte, was er sonst tun sollte, führte sie zu den unterirdischen Aufzügen. Auf dem Weg nach oben dachte er verdrossen darüber nach, daß er nur in diesen Schlamassel geraten war, weil er nicht hatte warten können. Nun hatte es den Anschein, als würde er erst recht warten müssen.