10

Die Nacht über dem Freigelände konnte nicht dunkler sein. Die Luft war wie schwarzes Kristall, klar und kalt.

Der Wind setzte ihnen schwer zu. Dirk war froh, daß sie einen schwergepanzerten Braith-Gleiter erwischt hatten, dessen Kabinendach luftdicht abschloß und die Wärme im Inneren speicherte.

Er hielt die Maschine etwa hundert Meter über der Ebene mit den sanften Hügeln und holte aus ihr das Letzte heraus. Einmal, kurz bevor Challenge am Horizont verschwand, schaute sich Dirk nach etwaigen Verfolgern um. Er konnte nichts dergleichen erkennen, aber die Emerelistadt zog ihn noch einmal in ihren Bann. Ein langer, schwarzer Speer, der sich schon bald im Dunkel der Nacht verlieren würde. Irgendwie erinnerte ihn die Stadt an eine schlanke Tanne, die von einem Waldbrand erfaßt worden war und ohne Äste oder Nadeln nur noch ein schwarzverkohlter Stecken war, dem man die frühere Pracht nicht mehr ansah. Er erinnerte sich an jenes Challenge, das Gwen ihm gezeigt hatte, als er nach einer Stadt voller Leben verlangte: hellerleuchtet am Abend, unglaublich hoch und silbern schimmernd, gekrönt von einem aufsteigenden Lichtgewitter. Jetzt war es nur noch eine tote Hülse, und mit ihr waren die Träume ihrer Erbauer gestorben. Die Jäger von Braith töteten nicht nur Menschen und Tiere.

»Sie werden uns noch früh genug folgen, t’Larien«, sagte Jaan Vikary. »Sie brauchen sie nicht zu suchen.«

Dirk wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Instrumenten zu. »Wohin sollen wir uns wenden? Wir können doch nicht die ganze Nacht im Blindflug über das Freigelände rasen. Larteyn?« »Larteyn wäre für uns jetzt zu riskant«, erwiderte Vikary. Er hatte seinen Laser in das Halfter gesteckt, aber sein Gesicht wirkte noch immer so grimmig wie in Challenge, als er Myrik niederbrannte. »Sind Sie so einfältig, daß Sie nicht die Bedeutung dessen erkennen, was ich getan habe? Ich habe den Kodex gebrochen, t’Larien. Nun stehe ich außerhalb jedes Bundes, bin ein Krimineller, ein Duellbrecher. Sie werden mir folgen und mich ohne Bedenken umbringen, so wie sie es mit einem Spottmenschen tun.« Gedankenvoll faltete er die Hände unter dem Kinn. »Unsere einzige Hoffnung … ach, ich weiß es nicht. Vielleicht haben wir keine Hoffnung mehr.«

»Das würde ich nicht sagen. Ich für meinen Teil habe jetzt bedeutend mehr Hoffnung als noch vor ein paar Minuten dort unten.« Vikary sah ihn an und mußte trotz seiner eigenen mißlichen Lage lächeln. »Das stimmt.

Obwohl das ein sehr egoistischer Standpunkt ist. Ich habe es nicht für Sie getan.« »Für Gwen?«

Vikary nickte. »Er … er wies sie nicht einmal in allen Ehren ab. Als ob sie ein Tier wäre. Und doch … nach dem Kodex war er in diesem Punkt im Recht. Jenem Kodex, nach dem ich gelebt habe. Andererseits hätte ich ihn dafür fordern und töten können. Garse wollte es ja tun, wie Sie gesehen haben. Er war verärgert, weil Myrik sein … sein Eigentum beschädigte und seine Ehre befleckte. Er hätte diese Schmach gerächt, wenn ich einverstanden gewesen wäre.« Er seufzte. »Verstehen Sie, warum ich das nicht zulassen konnte, t’Larien?

Begreifen Sie es? Ich habe auf Avalon gelebt und Gwen Delvano geliebt. Sie lag am Boden und war nur noch durch einen glücklichen Zufall am Leben. Myrik Braith und den anderen wäre ihr Tod gleichgültig gewesen.


Dennoch wollte Garse diesem Mann einen sauberen, ehrenvollen Tod gewähren. Er wollte den Kuß der geteilten Ehre mit ihm tauschen. Erst dann hätte er sein unwichtiges Leben genommen. Ich … ich achte Garse.

Trotzdem konnte ich es nicht zulassen, t’Larien, nicht als Gwen so still dalag — und keiner sie beachtete. Ich konnte es einfach nicht zulassen.« Vikary verstummte und brütete stumm vor sich hin. Von draußen drang Worlorns Wind mit schrillem Pfeifen in die Stille hinein. »Jaan«, sagte Dirk nach einiger Zeit, »wir müssen uns trotzdem entscheiden, wohin wir fliegen wollen. Wir müssen Gwen in Sicherheit bringen und einen Platz finden, wo wir es ihr bequem machen können. Wo Pflege möglich ist und vielleicht sogar ein Arzt geholt werden kann.«

»Ich kenne keine Ärzte auf Worlorn«, sagte Vikary.

»Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß wir Gwen in eine Stadt bringen müssen.« Er dachte einen Augenblick nach. »Esvoch liegt am nächsten, aber die Stadt ist zu sehr verfallen. Kryne Lamiya dürfte unsere beste Wahl sein, da sie nur wenig weiter entfernt liegt. Also nach Süden.« Dirk ließ den Gleiter einen weiten Bogen beschreiben und hielt, ständig an Höhe gewinnend, auf die ferne Bergkette zu. Vage erinnerte er sich an den Kurs, den Gwen vom blitzenden pi-Emereli-Turm zur Wildnisstadt von Dunkeldämmerung und ihrer öden Musik gesteuert hatte. Als sie sich den Bergen näherten, verfiel Vikary erneut ins Grübeln und starrte blind in Worlorns pechschwarze Nacht hinaus. Dirk, der sich gut vorstellen konnte, welche Gefühle den Kavalaren beherrschten, hütete sich, dessen Melancholie zu stören und zog sich in seine eigene Sphäre des Schweigens und der trüben Gedanken zurück. Er fühlte sich sehr schwach.

Seine Kopfschmerzen waren zurückgekehrt und nagten in seinem Schädel, plötzlich wurde er sich bewußt, daß Mund und Hals rauhem Pergament glichen. Er versuchte sich daran zu erinnern, wann er zuletzt etwas gegessen oder getrunken hatte, aber es wollte ihm nicht einfallen.

Irgendwie hatte er jegliches Zeitgefühl verloren.

Worlorns mächtige kohlenschwarze Gipfel ragten drohend unmittelbar vor ihnen auf, und Dirk zog den Gleiter höher, um sie zu überfliegen. Weder er noch Jaan Vikary sprachen ein Wort dabei. Erst als die Berge hinter ihnen lagen und die Wildnis sich unter ihnen ausbreitete, brach der Kavalare sein Schweigen. Aber er gab lediglich Anweisungen für den richtigen Kurs, den Dirk zu fliegen hatte. Danach schwieg er wieder, und schweigend verbrachten sie auch den restlichen Flug bis zu ihrem Be-stimmungsort.

Diesmal wußte Dirk, was ihn erwartete, und er lauschte. Lamiya-Bailis’ Musik drang an seine Ohren, ein schwaches, vom Wind getragenes Heulen, lange bevor die Stadt selbst aus den Wäldern auftauchte und sie in sich aufnahm. Außerhalb ihres gepanzerten Hafens gab es nur Trostlosigkeit — unter ihnen die wirren Nachtwälder, über ihnen der nur spärlich mit Sternen besetzte Himmel. Aber nicht diesen Regionen entsprang das Gefühl totaler Verzweiflung. Es war die Musik, die sich klimpernd und flüsternd heranschlich und jeden berührte, den sie erreichte.

Vikary vernahm sie ebenfalls. Er sah Dirk bedeutungsvoll an. »Diese Stadt paßt jetzt genau zu uns, t’Larien.«

»Nein«, sagte Dirk ein wenig zu laut und verriet damit, daß er das nicht glauben wollte, »Dann eben zu mir. All meine Anstrengungen sind zunichte. Die Leute, die ich zu retten glaubte, sind nicht länger sicher. Die Braiths können nun nach Belieben Jagd auf sie machen, korariel von Eisenjade oder nicht.

Ich kann sie nicht daran hindern. Garse könnte es vielleicht, aber was will ein Mann allein ausrichten?

Vielleicht versucht er es erst gar nicht. Es war meine fixe Idee, niemals die seine. Garse ist selbst verloren. Ich glaube, er wird allein nach Hoch Kavalaan zurückkehren und allein in die Festhalte von Eisenjade hinabsteigen.

Dort wird der Hochleibeigenenrat meine Namen streichen. Er wird ein Messer suchen müssen, um die Glühsteine aus ihrer Fassung zu brechen und danach leeres Eisen um seinen Arm tragen. Sein teyn ist tot.«

»Auf Hoch Kavalaan vielleicht«, sagte Dirk. »Aber Sie haben auch auf Avalon gelebt, erinnern Sie sich?« »Ja«, sagte Vikary. »Leider.«

Die Musik schwoll an und dröhnte in den Ohren. Unter ihnen nahm die Sirenenstadt Form an: der äußere Turmring wie fleischlose Hände in erstarrtem Schmerz, bleiche Brücken über dunklen Kanälen, Teppiche schwachleuchtenden Mooses, hoch in den Wind ragende, pfeifende Spiralen. Eine weiße Stadt, eine tote Stadt, ein Wald scharfkantiger Knochen.

Dirk ließ den Gleiter kreisen, bis er jenes Gebäude fand, in das ihn Gwen geführt hatte. Dann setzte er zur Landung an. In der Landeschleuse standen die beiden Gleiterwracks noch immer ungestört unter ihrer dicken Staubschicht. Dirk erschienen sie wie Bruchstücke eines längst vergessenen Traumes. Einst erschienen sie ihm aus irgendeinem unerfindlichen Grunde wichtig. Aber zu jener Zeit waren er, Gwen und die Welt anders beschaffen, und jetzt fiel es schwer, sich daran zu erinnern, welche mögliche Bedeutung diese metallenen Geister wohl gehabt hatten.


»Sie sind schon einmal hier gewesen«, sagte Vikary.

Dirk sah ihn an und nickte. »Dann gehen Sie voran«, befahl der Kavalare. »Ich …«

Aber Vikary war schon aufgestanden. Er hatte Gwen vorsichtig vom Rücksitz gehoben und stand wartend da.

»Gehen Sie voran«, wiederholte er.

Dirk führte ihn aus der Landeschleuse in jene Gänge hinein, wo die grauweißen Wandbilder zur Symphonie von Dunkeldämmerung tanzten. Sie öffneten Tür um Tür, bis sie schließlich ein Zimmer fanden, das noch eine Einrichtung aufwies. Es war in Wirklichkeit eine Suite von vier miteinander verbundenen Räumen, alle sehr hoch, langweilig und weit davon entfernt, sauber zu sein.

Die Betten — zwei der Räume waren Schlafzimmer — bestanden aus kreisförmigen, tief in den Fußboden eingelassenen Löchern, ausgepolstert mit je einer einteiligen Matratze und mit saumlosem, öligem Leder überzogen, das leicht unangenehm nach saurer Milch roch. Aber es waren Betten, weich genug und ideal zum Ausruhen.

Vikary setzte Gwens schlaffen Körper vorsichtig ab. Als sie bequem lag — sie sah fast heiter aus —, ließ Jaan Dirk am Bettrand auf dem Fußboden neben ihr sitzen und ging hinaus, um den von ihnen gestohlenen Gleiter zu durchsuchen. Kurz darauf kam er mit einer Decke für Gwen und einer Feldflasche zurück.

»Trinken Sie nur einen kleinen Schluck«/ sagte er zu Dirk und reichte ihm die Flasche.

Dirk nahm den stoffüberzogenen Metallbehälter entgegen, schraubte den Verschluß ab und tat einen einzigen kurzen Schluck. Dann gab er den Behälter zurück. Die Flüssigkeit war lauwarm und schmeckte entfernt bitter, aber es fühlte sich sehr gut an, wie sie seinen trockenen Hals benetzte.


Vikary goß Wasser auf einen grauen Tuchstreifen und begann damit, Gwens Hinterkopf vom getrockneten Blut zu säubern. Er benetzte den Fetzen immer wieder und tupfte überaus sanft gegen die rotbraune Kruste, bis diese sich schließlich löste, und ihr feines schwarzes Haar wieder sauber als glänzender Fächer auf der Matratze im unregelmäßigen Licht der Wandspiele schimmerte. Als er damit fertig war, legte er einen Verband an und wandte sich Dirk zu. »Ich werde Wache halten«, sagte er.

»Gehen Sie in das andere Zimmer und legen Sie sich schlafen.«

»Wir sollten miteinander reden«, meinte Dirk zögernd.

»Später. Nicht jetzt. Gehen Sie und schlafen Sie sich aus.« Dagegen konnte Dirk kaum etwas einwenden, sein Körper gehorchte ihm fast nicht mehr, und die Kopfschmerzen hatten auch nicht nachgelassen. Er ging in das andere Zimmer und ließ sich ungraziös auf die säuerlich riechende Matratze fallen.

Aber trotz seiner Müdigkeit kam der Schlaf nicht sofort. Vielleicht waren es die Kopfschmerzen, vielleicht war es die unregelmäßige Lichtbewegung innerhalb der Wände, die ihn durch seine geschlossenen Lider hindurch verfolgte. In erster Linie war es jedoch die Musik. Sie blieb ständig bei ihm und schien eher noch lauter zu werden, wenn er die Augen schloß, so, als würde diese Handlung sie in seinem Schädel einschließen: ein dünnes Pfeifen, Flöten und Heulen und noch immer - ohne je enden zu wollen - der dumpfe Ton der einsamen Pauke.

Fieberträume beherrschten diese endlose Nacht — surreale Visionen, die ihm unter die Haut gingen und ihn in Angstschweiß badeten. Dreimal wurde Dirk aus seinem leichten Schlaf gerissen. Zitternd, mit feuchtkalter Haut, erhob er sich und stellte sich dem Lied von Lamiya-Bailis, ohne daß er wußte, was an der Musik ihn wachgerüttelt hatte. War er dann wach, glaubte er aus dem anderen Raum Stimmen zu hören. Einmal glaubte er sich sogar ziemlich sicher zu sein, Jaan Vikary an der gegenüberliegenden Wand sitzen und ihn beobachten zu sehen. Keiner von beiden sprach, und Dirk brauchte fast eine Stunde, um wieder einschlafen zu können. Nur, um wenig später erneut von einem leeren, widerhallenden Zimmer und den Lichtspielen geweckt zu werden. Einen Moment lang fragte er sich, ob sie ihn wohl hier auf Gedeih und Verderb zurückgelassen hatten, und je mehr er daran dachte, desto größer wurde seine Angst und desto schlimmer sein Zittern. Aber irgendwie war es ihm unmöglich, aufzustehen und in das angrenzende Schlafzimmer zu gehen, um selbst nachzusehen. Statt dessen schloß er die Augen und versuchte alle Erinnerungen zu verdrängen.

Und dann brach die Morgendämmerung an. Fetter Satan ragte halb über den Horizont, und fiebriges Licht, so rot und kalt wie Dirks Alpträume, flutete durch das hohe Mosaikfenster (in der Mitte wirkte es fast durchsichtig klar, aber ein breiter Rand war in verschlungenen Mustern aus schattigem Rotbraun und rauchigem Grau gehalten), um über sein Gesicht zu fallen. Er rollte sich aus der Helligkeit heraus und mühte sich ab, bis er eine Sitzhaltung erreicht hatte. Jaan Vikary erschien und bot ihm die Feldflasche an.

Dirk nahm mehrere tiefe Züge, verschluckte sich beinahe an dem kalten Wasser und ließ es über seine trockenen, gesprungenen Lippen laufen und über sein Kinn rieseln. Als Jaan sie ihm gegeben hatte, war die Feldflasche voll gewesen, halb geleert gab er sie zurück.

»Sie haben Wasser gefunden«, sagte er zu Jaan.


Der nickte beim Verschließen der Flasche. »Die Pumpstationen sind schon seit Jahren außer Betrieb, deshalb gibt es in den Türmen von Kryne Lamiya kein Wasser mehr. Aber durch die Kanäle fließt noch welches.

Gestern nacht, während Gwen und Sie schliefen, bin ich hinuntergegangen. «

Unsicher kam Dirk auf die Füße, und Jaan streckte die Hand aus, um ihm aus dem schwankenden Bett zu helfen.

»Ist Gwen … ?« »Sie hat früh in der Nacht das Bewußtsein wiedererlangt, t’Larien. Wir sprachen miteinander, und ich erzählte ihr, was ich getan habe. Ich glaube, ihr Gesundheitszustand wird sich rasch bessern.«

»Kann ich mit ihr sprechen?«

»Sie ruht sich jetzt aus, das heißt, sie schläft. Ich bin sicher, daß sie später mit Ihnen sprechen möchte, aber im Augenblick sollten wir sie nicht wecken. Letzte Nacht versuchte sie aufzustehen, hatte aber große Mühe dabei und fühlte sich anschließend sehr schlecht.« Dirk nickte.

»Ich verstehe. Und was ist mit Ihnen? Ein bißchen Schlaf gefunden?« Beim Sprechen sah er sich in ihrem Quartier um. Irgendwie schien die Musik von Dunkeldämmerung in den Hintergrund getreten zu sein. Sie war noch immer heulend und klagend zu hören und durchdrang jedes Luftmolekül in Kryne Lamiya, aber in seinen Ohren klang sie schwächer, entfernter. Offenbar gewöhnte er sich langsam daran und sonderte sie aus seinem bewußten Hören aus. Die Lichtspiele in den Wänden hatten sich unter dem Einfluß des normalen Tageslichts diesem angeglichen und waren praktisch nicht mehr zu sehen. Darin glichen sie den Glühsteinen von Larteyn.

Die Wände wirkten grau und leer. Was an Einrichtungsgegenständen vorhanden war — ein paar unbequem aussehende Stühle —, schien Fußboden und Wänden entwachsen zu sein: kunstvoll gewundene Triebe, die Farbe und Stil des Zimmers so genau trafen, daß man sie allein kaum wahrnehmen konnte. »Ich habe genug geschlafen«, sagte Vikary. »Das ist nicht so wichtig. Ich habe mir unsere Lage durch den Kopf gehen lassen.« Er winkte Dirk heran. »Kommen Sie mit.« Sie gingen durch einen weiteren Raum, ein leeres Speisezimmer, und dann hinaus auf einen der vielen Balkone, von denen aus man eine gute Sicht auf die ganze Stadt hatte. Am Tage sah Kryne Lamiya anders aus, weniger hoffnungslos. Selbst Worlorns verwaschenes Sonnenlicht reichte aus, um dem schnellfließenden Wasser in den Kanälen ein Funkeln zu verleihen. Im Zwielicht des Tages erinnerten die bleichen Türme auch nicht so sehr an Totenmale wie in der Nacht.

Dirk fühlte sich schwach und war sehr hungrig, aber von seinen Kopf- schmerzen spürte er nichts mehr. Der frische Wind tat ihm sehr gut. Mit den Fingern strich er sein Haar aus der Stirn — es war sehr knotig und hoffnungslos verfilzt — und wartete auf Jaans Bericht.

»Während der Nacht habe ich von hier Ausschau gehalten«, sagte Vikary, die Ellbogen auf das Eisengeländer gestützt und, wie zur Unterstreichung des Gesagten, den Horizont mit den Augen absuchend. »Sie sind hinter uns her, t’Larien. Zweimal habe ich über der Stadt Gleiter ausmachen können. Beim ersten Mal war es nur ein Licht, ganz weit oben, und vielleicht habe ich mich auch geirrt. Beim zweiten Mal kann es jedoch keine Täuschung gewesen sein. Chells Wolfskopfwagen flog mit auf geblendeten Scheinwerfern tief über die Kanäle.

Er kam ganz dicht an uns vorbei. Ein Hund war auch an Bord. Ich hörte ihn heulen. Die Musik der Dunklinge muß ihn rasend gemacht haben.« »Sie haben uns nicht gefunden«, sagte Dirk.

»Stimmt«, erwiderte Vikary. »Ich glaube, daß wir hier noch eine ganze Weile sicher sind. Es sei denn … Ich weiß nicht, wie man Gwen und Sie in Challenge gefunden hat — und das gefällt mir gar nicht. Wenn sie herausfinden, daß wir in Kryne Lamiya sind und die Stadt mit Braithhunden durchkämmen, sind wir ernsthaft in Gefahr. Wir haben keinen Antigeruchsspray mehr.« Er sah Dirk an. »Wie konnten sie den Zufluchtsort kennen?

Haben Sie irgendeine Ahnung?« »Nein«, sagte Dirk.

»Wir konnten es uns beide nicht erklären. Vielleicht haben sie nur geraten. Schließlich lag unsere Wahl in gewisser Weise auf der Hand. Das Leben in Challenge ist bedeutend komfortabler als in allen anderen Städten.

Einfacher, wissen Sie …« »Ja, ich weiß. Ich kann jedoch Ihre Theorie trotzdem nicht akzeptieren. Sie dürfen eines nicht vergessen, t’Larien — auch Garse und ich haben darüber nachgedacht, als Sie uns am Todesquadrat so schändlich im Stich ließen. Challenge war als Versteck so naheliegend, daß wir den Gedanken verwarfen. Es schien uns wahrscheinlicher, daß ihr euch nach Musquel absetzen würdet, um von erbeutetem Fisch oder von dem zu leben, was Gwen in der Wildnis, die sie so gut kannte, auftreiben konnte. Garse kam sogar auf den Gedanken, daß ihr den Gleiter einfach versteckt und euch in einem anderen Teil Larteyns verborgen hättet, um über uns zu lachen, wenn wir den ganzen Planeten nach euch absuchten.« Dirk druckste herum. »Hmm, ich nehme an, daß unsere Wahl ziemlich dumm war.«

»Nein, t’Larien. Das habe ich nicht gesagt. Ich glaube, die einzige dumme Wahl wäre es gewesen, in die Stadt im Sternenlosen Teich zu fliehen, weil die Braiths dort in Scharen herumliefen. Challenge war eine hintergründige Wahl, ob ihr das nun beabsichtigt habt oder nicht. Diese Stadt schien als Zuflucht so falsch gewählt zu sein, daß sie wieder genau richtig war. Verstehen Sie? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie euch die Braiths durch logische Schlußfolgerungen entdeckt haben könnten.«

»Mag sein«, sagte Dirk. Er dachte eine Weile nach.

»Wir wußten erst davon, als Bretan zu uns sprach. Er …

Nun, er testete keineswegs eine Möglichkeit durch. Er wußte, daß wir uns irgendwo in der Stadt versteckt hielten.«

»Und Sie haben keine Ahnung, woher?« »Nein, nicht die geringste.«

»Dann müssen wir mit der Furcht leben, daß sie uns auch hier aufspüren werden. Andererseits sind wir ziemlich sicher, falls die Braiths ihr Wunder nicht wiederholen können.

Trotzdem müssen Sie zugeben, daß unsere Situation Schwierigkeiten nicht ausschließt. Wir sind relativ gut geschützt und haben beliebig viel Wasser zur Verfügung, aber unsere Nahrungsmittelvorräte sind nicht der Rede wert. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß wir Worlorn so schnell wie möglich verlassen müssen. Aber unser Abgang dürfte sich sehr schwierig gestalten. Die Braiths werden uns am Raumhafen erwarten. Wir besitzen meine Laserpistole und zwei Jagdlaser, die ich in dem Gleiter gefunden habe. Dann das Fahrzeug selbst, bewaffnet und ausgezeichnet gepanzert. Wahrscheinlich gehört es Roseph Hoch-Braith Kelcek …«

»Einer der Schrotthaufen in der Landeschleuse ist noch ganz gut in Schuß«, unterbrach Dirk.

»Dann haben wir zwei Gleiter, falls wir sie benötigen«, fuhr Vikary fort. »Gegen uns stehen noch mindestens acht Braiths, wenn nicht neun. Ich bin mir nicht sicher, wie schwer Lorimaar Arkellor verwundet wurde.

Möglicherweise habe ich ihn sogar getötet, obwohl ich das bezweifeln möchte. Wahrscheinlich können die Braiths bis zu acht Gleiter gleichzeitig in die Luft bringen, wenn sie wollen — allerdings entspricht es eher der Tradition, als teyn- und -teyn in Zweierformation zu fliegen. Jeder Gleiter ist gepanzert. Sie haben eine gute Ausrüstung, Energie und Nahrung. Sie sind uns zahlenmäßig überlegen. Möglicherweise werden sie auf Kirak Rotstahl Cavis und die beiden Jäger des Shanagate-Trutzes zurückgreifen und sie bei der Jagd auf mich einsetzen. Schließlich bin ich ein Duellbrecher, der außerhalb aller Bünde steht. Und dann ist da noch Garse Janacek.« »Garse?«

»Ich hoffe — ich bete —, daß er die Glühsteine aus seinem Armreif bricht und nach Hoch Kavalaan zurückkehrt. Er wird allein und voller Scham sein, wird totes Eisen tragen. Kein leichtes Schicksal, t’Larien. Ich habe ihn und Eisenjade entehrt. Sein Schmerz stimmt mich traurig, aber dennoch hoffe ich, daß es so kommt.

Denn es gibt noch eine andere Möglichkeit, müssen Sie wissen.« »Eine andere …«

»Er könnte uns jagen. Er kann Worlorn nicht verlassen, bevor ein Schiff ankommt. Das wird noch einige Zeit dauern. Ich weiß nicht, was er tun wird.«

»Gewiß wird er sich den Braiths nicht anschließen. Sie sind seine Feinde, während Sie und Gwen für ihn teyn und cro-betheyn sind. Sicher wird er den Wunsch verspüren, mich zu töten — ich zweifle kaum daran —, aber …«

»Garse ist mehr Kavalare als ich, t’Larien. Das war schon immer so. Und jetzt tritt es noch deutlicher zutage, weil ich überhaupt kein Kavalare mehr bin — nach dem, was ich getan habe. Die alten Bräuche verlangen von jedem Mann, daß er einen Duellbrecher tötet, selbst wenn es sich dabei um seinen eigenen teyn handelt. Diesem Brauch können nur die Stärksten Folge leisten. Bei den meisten ist der Bund von Eisen-und-Feuer so eng, daß sie es nicht über sich bringen, ihren früheren teyn zu jagen.

Aber Garse ist ein sehr starker Mann, auf so viele Arten stärker als ich. Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«

»Und wenn er uns tatsächlich verfolgt?«

Vikary sprach leise. »Ich werde die Waffe nicht gegen Garse erheben. Er ist mein teyn — ob ich das nun auch noch für ihn bin oder nicht. Ich habe ihn schon schwer genug verletzt, ihn verraten, Schande über ihn gebracht.

Ich war Schuld daran, daß er den größten Teil seines Lebens als Erwachsener eine schmerzhafte Narbe ertragen mußte. Damals, als wir beide noch jünger waren, nahm ein älterer Mann Anstoß an Garses Spaßen und forderte Genugtuung. Wir einigten uns auf einen einzigen Schuß pro Mann und kämpften geteynt. In meiner unerschöpflichen Weisheit überredete ich Garse, daß unserer Ehre Genüge getan sei, wenn wir in die Luft feuerten. Zu unserem Leidwesen taten wir das auch. Die anderen jedoch hatten beschlossen, Garse in Sachen Humor eine Lektion zu erteilen. Zu meiner Schande blieb ich unversehrt, während er aufgrund meiner Torheit entstellt wurde. Dennoch hielt er mir das niemals vor. Als ich ihn nach dem Duell zum ersten Male wieder aufsuchte, während er noch seine Wunden auskurierte, sagte er zu mir: ›Du hattest recht, Jaantony, sie haben tatsächlich in die Luft geschossen. Schade, daß sie nicht getroffen haben.‹« Vikary lachte, aber als Dirk zu ihm hinüberblickte, sah er, daß die Augen naß vor Tränen und die Mundwinkel verzerrt waren. Aber er weinte nicht, mit ungeheurer Willensanstrengung schaffte er es, die Tränen zurückzuhalten.

Abrupt wandte sich Jaan ab, ging in das Gebäude hinein und ließ Dirk allein mit dem Wind und der weißen, von Lamiya-Bailis’ Musik erfüllten Zwielichtstadt auf dem Balkon stehen.

In weiter Ferne ragten Gebilde wie verkrampfte Hände hoch und hielten die anstürmende Wildnis auf. Dirk studierte sie und überdachte dabei Vikary s Worte.

Minuten später kam der Kavalare mit trockenen Augen und ernstem Gesichtsausdruck zurück. »Es tut mir leid«, begann er. »Kein Grund, um …«

»Wir müssen zum Kern der Sache kommen, t’Larien.

Ob Garse uns jagt oder nicht — das Kräfteverhältnis könnte kaum schlechter sein. Für den Fall, daß wir kämpfen müssen, haben wir zwar Waffen, aber niemand, der sie bedient. Gwen ist ein guter Schütze, und furchtlos ist sie auch. Aber im Moment hat sie das Manko der Verletzung und steht ein bißchen wacklig auf den Beinen. Und Sie — kann ich Ihnen trauen? Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Ich habe Ihnen einmal vertraut, und Sie haben mich verraten.«

»Wie kann ich diese Frage beantworten?« sagte Dirk.

»Sie brauchen den Versprechungen, die ich Ihnen gebe, keinen Glauben zu schenken. Aber die Braiths wollen auch mich töten, erinnern Sie sich bitte daran. Und Gwen ebenfalls. Oder denken Sie, ich könnte Gwen so leicht verraten, wie ich …« Über die eigenen Worte erschrocken, brach er ab. »… so leicht, wie Sie mich verraten haben«, beendete Vikary den Satz mit hartem Lächeln. »Sie sind ganz schön offen. Nein, t’Larien, ich glaube nicht, daß Sie Gwen verraten würden. Aber ich habe auch nicht damit gerechnet, daß Sie uns im Stich lassen würden, als wir Sie zum keth machten und Sie diesen Namen akzeptierten. Wir wollten uns nur Ihretwegen duellieren.«

Dirk nickte. »Das weiß ich. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Ich kann es nicht sagen. Wenn ich Ihnen die Treue gehalten hätte, wäre ich jetzt tot.«

»Ehrenvoll als keth von Eisenjade gestorben.«

Dirk lächelte. »Gwen bedeutet mir mehr als der Tod.

Ich erwarte, daß Sie wenigstens das verstehen.«

»Das tue ich. Aber sie steht immer noch zwischen uns.

Damit müssen Sie sich abfinden und es als Wahrheit anerkennen. Früher oder später wird sie eine Wahl treffen.«

»Sie hat eine Wahl getroffen, Jaan, als sie mit mir flüchtete. Damit sollten Sie sich abfinden«, sagte Dirk schnell und eigensinnig. Er fragte sich, wieviel davon er selbst glaubte.

»Sie hat das Jade-und-Silber nicht abgelegt«, antwortete Vikary. Er gestikulierte ungeduldig. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Solange wir aufeinander angewiesen sind, werde ich Ihnen vertrauen.« »Gut. Was verlangen Sie von mir?« »Jemand muß nach Larteyn fliegen.«

Dirks Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Warum versuchen Sie mir immer den Selbstmord schmackhaft zu machen, Jaan?« »Ich habe nicht gesagt, daß Sie fliegen müssen, t’Larien«, gab Vikary zurück. »Ich werde den Flug selbst wagen. Natürlich wird er sehr gefährlich werden, aber einer muß unbedingt nach Larteyn.«

»Warum?« »Der Kimdissi.«

»Ruark?« Dirk hatte seinen ehemaligen Gastgeber und Mitverschwörer schon beinahe vergessen.


Vikary nickte. »Seit den Tagen auf Avalon war er mit Gwen befreundet. Obwohl wir uns gegenseitig nie mochten, kann ich ihn nicht im Stich lassen. Die Braiths …«

»Ich verstehe. Wie aber wollen Sie ihn erreichen?«

»Sollte ich heil in Larteyn ankommen, werde ich ihn über Sichtschirm anrufen. Das ist das einzige, worauf ich hoffen kann.« Er zuckte mit einer fatalistischen Geste die Schultern. »Und ich?«

»Sie bleiben hier. Pflegen und bewachen Sie Gwen. Ich überlasse Ihnen eines von Rosephs Lasergewehren.

Wenn sie sich gut erholt hat, geben Sie es ihr. Sie kann damit wahrscheinlich besser umgehen als Sie. Einverstanden?«

»Einverstanden. Es hört sich nicht sehr kompliziert an.« »Ist es auch nicht«, sagte Vikary. »Ich erwarte, daß ihr im sicheren Versteck bleibt und ich euch so vorfinde, wie ich euch verlassen habe, wenn ich mit dem Kimdissi zurückkomme. Solltet ihr fliehen müssen, dann könnt ihr ja auf den anderen Gleiter zurückgreifen. Gwen kennt hier in der Nähe eine Höhle. Sie kann Ihnen den Weg zeigen. Geht in diese Höhle, wenn ihr Kryne Lamiya verlassen müßt.« »Was ist, wenn Sie nicht zurückkommen? Diese Möglichkeit muß man leider ebenfalls ins Auge fassen.«

»In diesem Fall seid ihr wieder auf euch allein gestellt, wie ihr es wart, als ihr aus Larteyn geflohen seid. Ihr hattet bestimmt Pläne. Folgt ihnen, wenn das möglich ist.« Er lächelte gezwungen. »Ich habe mir jedoch fest vorgenommen zurückzukommen. Vergessen Sie das nicht, t’Larien. Denken Sie immer daran.«

In Vikarys Stimme schwang ein Unterton mit, der an scharfkantiges Eisen denken ließ und Dirk an ein anderes Zwiegespräch unter ähnlich frostigen Vorzeichen erinnerte. Mit verblüffender Deutlichkeit nahmen Jaans damalige Worte wieder Gestalt an: Aber ich existiere.

Denken Sie immer daran … Wir sind hier nicht auf Avalon, t’Larien, und heute ist nicht gestern. Wir befinden uns auf einer sterbenden Festivalwelt, einer Welt ohne eigene Normen. Deshalb muß jeder streng die Normen befolgen, die ihm mitgegeben wurden. Jaan Vikary, dachte Dirk mit trotziger Entschlossenheit, hatte zwei Normen nach Worlorn mitgebracht. Er selbst hingegen hatte überhaupt keine — er hatte außer seiner Liebe zu Gwen Delvano nichts mitgebracht.

Gwen schlief noch, als die beiden Männer vom Balkon hereintraten. Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, durchquerten sie das Zimmer und gingen zur Landeschleuse. Vikary hatte den Braithgleiter gründlich durchsucht. Bevor das ganze Unheil losgebrochen war, hatten Roseph und sein teyn offenbar einen kurzen Jagdausflug in die Wildnis geplant. Welch ein Pech, dachte Dirk, daß sie keinen längeren Flug im Auge hatten.

Aber so, wie die Dinge nun einmal standen, hatte Vikary an Nahrungsmitteln nur vier harte Proteinriegel gefunden. Hinzu kamen zwei Jagdlaser und ein paar Kleidungsstücke, die auf den Sitzen lagen. Einen der Riegel aß Dirk sofort — er war richtig ausgehungert —, die anderen drei steckte er in die Tasche der schweren Jacke, die er sich ausgesucht hatte. Sie war ihm etwas zu weit, aber nicht so weit, daß sie schlotterte.

Rosephs teyn hatte ungefähr seine Größe. Und sie hielt warm — dickes, purpurrot gefärbtes Leder mit Kragen, Aufschlägen und Futter aus schwarzweißem Pelz. Beide Ärmel trugen verwirrende, aufgemalte Muster, rote und schwarze Farben dominierten auf dem rechten, silberne und grüne auf dem linken. Eine kleinere Jacke, die wohl Roseph gehört hatte, nahm Dirk für Gwen mit.

Vikary holte die beiden Lasergewehre hervor, lange Röhren aus schwarzem, glattem Plastik, auf denen kunstvoll getriebene Wolfsköpfe aus weißem Metall befestigt waren. Das erste hing er sich selbst über die Schulter, das zweite gab er mit knappen Bedienungsinstruktionen an Dirk weiter. Die Waffe war sehr leicht und fühlte sich etwas ölig an. Dirk hielt sie unbeholfen in der Hand.

Der Abschied war kurz und überaus formell. Dann stieg Vikary in den großen Braithgleiter, hob vom Boden ab und schoß mit hoher Beschleunigung davon. Das verursachte eine mächtige Staubfahne, aus der Dirk hustend, eine Hand vor dem Mund, in der anderen das Gewehr, hervortrat.

Als er in die Suite zurückkehrte, wachte Gwen gerade auf. »Jaan?« fragte sie schlaftrunken und hob den Kopf von der Ledermatratze, um zu sehen, wer eingetreten war. Sie stöhnte, ließ sich schnell wieder zurücksinken und begann ihre Schläfen mit beiden Händen zu massieren. »Mein Kopf«, jammerte sie leise.

Dirk stellte den Laser neben der Tür aufrecht an die Wand und setzte sich an den Rand des im Fußboden eingelassenen Bettes. »Jaan ist gerade gegangen«, sagte er. »Er will nach Larteyn fliegen und Ruark holen.«

Gwens einzige Antwort war ein neuerlicher Seufzer.

»Kann ich dir irgendwie behilflich sein?« fragte Dirk.

»Wasser? Etwas zu essen?« Er nahm die Proteinriegel aus der Jackentasche und reichte sie Gwen.

Sie warf einen kurzen Blick darauf und verzog angewidert das Gesicht. »Nein«, sagte sie. »Weg damit.


So hungrig bin ich nun auch wieder nicht.«

»Du mußt etwas essen.«

»Hab schon«, erwiderte sie. »Gestern nacht. Jaan hat ein paar dieser Riegel in Wasser aufgeweicht und eine Art Paste daraus gemacht.« Sie nahm die Hände von den Schläfen und drehte sich auf die Seite, um ihn anzusehen.

»Ich habe sie nicht bei mir behalten«, sagte sie. »Ich fühle mich miserabel.«

»Kein Wunder«, sagte Dirk. »Nach allem, was vorgefallen ist, kannst du nicht erwarten, daß du dich putzmunter fühlst. Wahrscheinlich hast du eine Gehirnerschütterung davongetragen und kannst von Glück sagen, daß du nicht tot bist.«

»Das hat mir Jaan auch schon erzählt«, meinte sie etwas spitz, »und ich weiß auch, was danach passiert ist — ich meine, was er mit Myrik gemacht hat.« Sie runzelte die Stirn. »Ich dachte, ich hätte ihn im Fallen gut getroffen. Du hast es doch gesehen, oder? Es fühlte sich so an, als hätte ich ihm den Kiefer oder mir die Finger gebrochen. Aber es schien ihm überhaupt nichts auszumachen.« »Ich weiß«, sagte Dirk.

»Erzähl mir genauer von — du weißt schon. Jaan hat nur um den heißen Brei herum geredet. Ich will alles wissen.« Ihre Stimme klang müde und voller Schmerz, schien aber keinen Widerspruch zu dulden. Und so erzählte ihr Dirk alles.

»Er richtete seine Waffe auf Garse?« fragte sie einmal mittendrin. Dirk nickte, und sie beruhigte sich wieder.

Als er geendet hatte, war Gwen sehr schweigsam. Ihre geschlossenen Augen öffneten sich kurz, dann schlossen sie sich erneut. Sie lag bewegungslos auf der Seite, zusammengekrümmt wie ein Fötus, die Hände unter ihrem Kinn zu kleinen Fäusten geballt. Während er sie beobachtete, fühlte Dirk, wie seine Augen unwiderstehlich von ihrem linken Unterarm angezogen wurden, von jener unerbittlichen Gedächtnisstütze für den Bund mit Jaan, von dem Jade-und-Silber, das sie noch immer trug.

»Gwen«, sagte er leise. Ihre Augen öffneten sich wieder — ganz kurz nur —, und sie schüttelte heftig den Kopf. Dann stieß sie ein fast unhörbares »Nein!« aus.

»He«, sagte er, aber ihre Lider waren längst wieder geschlossen. Sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen.

Dirk war mit ihrem Schmuckstück und seinen Ängsten allein. Die Sonnen befanden sich wieder auf ihrem Abstieg und ließen ihr Licht schräg durch das Fenster fallen. Staubteilchen schwebten gemächlich durch den breiten Strahl. Das Licht fiel so, daß nur eine Seite der Matratze beleuchtet wurde, Gwen lag genau auf der Trennlinie zwischen Licht und Schatten.

Dirk versuchte nicht, wieder mit Gwen zu sprechen. Er starrte sie auch nicht mehr an. Statt dessen ertappte er sich dabei, wie er die Lichtmuster auf dem Fußboden beobachtete.

In der Mitte des Zimmers war alles warm und rot. Dort tanzte der Staub, trieb aus der Dunkelheit herein, nahm eine karmesinrote, dann eine goldene Färbung an und warf winzige Schatten, bevor er wieder aus dem Lichtkreis verschwand. Er hob die Hand und streckte sie aus. Minutenlang? Stundenlang? Er wußte es nicht. Sie wurde immer wärmer. Staub wirbelte um sie herum.

Schatten kräuselten sich wie fließendes Wasser unter ihr, wenn er die Finger bewegte. Die Sonne war freundlich und vertraut. Aber plötzlich erkannte er, daß die Bewegungen seiner Hand — wie das endlose Wirbeln des Staubes — ohne Zweck, ohne Ordnung und ohne Sinn waren. Die Musik flüsterte ihm das ein, die Musik von Lamiya-Bailis.

Er zog die Hand zurück und wunderte sich. Rings um das große Licht- und Lebenszentrum gab es eine schmale, wabernde Grenzregion, wo die Sonne durch den Rand des schwarzen und blutroten Mosaikglases schien.

Oder sich hindurchkämpfte. Es war nur eine dünne Grenze, aber sie schloß das Land des irisierenden Staubes nach allen Seiten hermetisch ab. Jenseits davon waren die schwarzen Winkel, die Gegenden des Zimmers, die von der Nabe und den Trojanischen Sonnen niemals beschienen wurden, wo fette Dämonen und die Gestalten aus Dirks Angstträumen drohend kauerten, neugierigen Blicken auf ewig verborgen. Belustigt unterzog Dirk diese Winkel einer eingehenderen Untersuchung. Dabei rieb er sein Kinn — Bartstoppeln bedeckten Wangen und Unterkiefer und fingen langsam zu jucken an — und ließ die Musik von Dunkeldämmerung tief auf sich einwirken. Wie er sie jemals hatte verdrängen können, war ihm ein Rätsel, denn jetzt war sie wieder dominierend wie bei seinem ersten Besuch. Der Turm, in dem sie sich befanden, trompetete seinen tiefen Ton. Jahre, entfernt — oder Jahrhunderte — antwortete ein Chor in der schrillen, Monotonie von Klagefrauen. Er hörte unkontrollierte Schluchzer, das Weinen ausgesetzter Säuglinge und das schlüpfrige Gleitgeräusch von Messern, die in warmes Fleisch schneiden. Und die Pauke. Wie konnte der Wind auf eine Pauke schlagen? dachte er. Er wußte keine Antwort darauf. Vielleicht war es etwas anderes. Aber es hörte sich wie eine Pauke an.

So schrecklich weit entfernt, und so allein. So unendlich, schauderhaft allein. Die Nebel und Schatten sammelten sich in der entferntesten, düstersten Ecke des Zimmers und begannen sich dann aufzulösen. Dirk sah einen Tisch und einen Stuhl, die wie seltsames Plastikgemüse aus den Wänden und dem Fußboden wuchsen. Einen Augenblick lang fragte er sich, wie er sie überhaupt sehen konnte, die Sonnen waren ein wenig weitergewandert, und jetzt sickerte nur noch spärliches Licht durch das Fenster, bis dieses schließlich ebenfalls absorbiert wurde und die Welt in Grau versank.

Wenn die Welt grau war, tanzte der Staub nicht mehr.

Das konnte er eindeutig feststellen. Nein, überhaupt nicht mehr. Um ganz sicher zu gehen, fühlte er in der Luft nach. Er spürte keinen Staub, keine Wärme, kein Sonnenlicht. Er nickte weise. Ihm schien, als hätte er eine grundlegende Wahrheit herausgefunden. Trübe Lichter begannen sich in den Wänden zu regen, Geister, die zu einer neuen Nacht erwachten. Phantome und Gespenster vergangener Träume. Alle sahen weiß und grau aus, Farbe war dem Lebendigen vorbehalten und hatte hier keinen Platz.

Die Geister begannen sich zu bewegen. Einer wie der andere waren sie in die Wände eingeschlossen, und von Zeit zu Zeit glaubte Dirk zu sehen, wie einer seinen wilden Tanz unterbrach und hilflos, aber vergebens gegen die gläsernen Wände trommelte, die ihm den Weg in das Zimmer versperrten. Schemenhafte Hände pochten und klopften, aber im Zimmer war nichts zu hören. Stille war ein Bestandteil dieser Dinge. Mochten die Phantome klopfen, soviel sie wollten — letzten Endes waren sie substanzlos und mußten wieder zu ihrem Tanz zurückkehren. Der Tanz … der makabre Tanz … formlose Schatten … oh, wie war er schön! Anmutiges Schlängeln, graziöse Bewegungen, platzende Muster.

Grauflammende Wände. So endlos erhabener als die Staubpartikel. Diese Tänzer folgten einem Schema, und ihre Musik war das Lied der Sirenenstadt.

Trostlosigkeit. Leere. Verfall. Eine einzelne Pauke, in langsamem Rhythmus geschlagen. Allein. Allein. Allein.

Alles war sinnlos. »Dirk!«

Es war Gwens Stimme. Er schüttelte den Kopf, drehte sich um, blickte auf die Stelle hinab, wo sie in der Dunkelheit liegen mußte. Es war Nacht. Nacht.

Irgendwie hatte sich der Tag davongestohlen. Gwen sah zu ihm auf — sie hatte nicht geschlafen. »Es tut mir leid«, sagte sie. Sie sagte ihm etwas. Aber er wußte es schon.

Wußte es von der Stille, wußte es von der Pauke. Von Kryne Lamiya. Er lächelte. »Du hast es nicht vergessen, nicht wahr? Es war keine Frage des Vergessens. Du hattest deine Gründe, warum du dieses Ding niemals ablegtest.« Er deutete auf ihren Arm.

»Ja«, sagte sie. Sie setzte sich im Bett auf, und die Decke rutschte bis zu den Hüften hinab. Jaan hatte ihren Anzug vorn geöffnet, so daß er jetzt lose herabhing und die sanften Kurven ihrer Brüste entblößte. Im flak-kernden Licht wirkte ihr Fleisch blaß und grau. Dirk fühlte keine Erregung bei diesem Anblick. Ihre Hand bewegte sich auf das Jade-und-Silber zu. Sie berührte es, streichelte es, seufzte. »Ich hätte nie gedacht … ich weiß nicht… ich sagte, was ich sagen mußte, Dirk. Bretan Braith hätte dich getötet.«

»Vielleicht wäre das besser gewesen«, antwortete er.

Nicht verbittert, sondern in belustigtem, leicht zerstreut wirkendem Tonfall. »Du hast ihn also niemals verlassen wollen?«

»Ich weiß nicht. Woher soll ich wissen, was ich wollte?

Ich habe es wirklich versucht, Dirk, ehrlich. Allerdings konnte ich selbst nie ganz daran glauben. Das habe ich dir auch gesagt. Ich war aufrichtig. Wir sind nicht mehr auf Avalen, und wir haben uns verändert. Ich bin nicht deine Jenny. Das war ich nie, und jetzt bin ich es weniger denn je.« »Ja«, sagte er und nickte. »Ich erinnere mich, wie du den Steuerknüppel beim Fliegen umkrallt hattest!

Dein Gesicht. Deine Augen. Du hast Jadeaugen, Gwen.

Jadeaugen und ein Silberlächeln. Du machst mir Angst.«

Er wandte den Blick von ihr ab und starrte auf die Wände. Im Einklang mit der schrillen, dissonanten Musik erzeugten die Lichtspiele chaotische Strukturen.

Seltsamerweise waren die Geister verschwunden. Er hatte sie nur einen Moment aus den Augen gelassen, und schon waren sie alle dahingeschmolzen. Genau wie die alten Träume, dachte er.

»Jadeaugen?« wiederholte Gwen.

»So wie Garse.«

»Garse hat blaue Augen«, sagte sie.

»Trotzdem wie Garse.«

Sie kicherte ein bißchen und stöhnte dann. »Wenn ich lache, tut es weh«, sagte sie. »Aber es ist so lustig. Du vergleichst mich mit Garse. Kein Wunder, daß Jaan …«

»Kehrst du zu ihm zurück?«

»Möglich. Ich weiß es noch nicht. Es würde mir sehr schwerfallen, ihn gerade jetzt zu verlassen. Kannst du dich in meine Lage versetzen? Er hat sich endgültig entschieden. Und zwar in dem Moment, als er den Laser auf Garse richtete. Mit dieser Geste hat er sich gegen seinen teyn, seinen Festhalt, seine ganze Welt gestellt… du weißt das. Wenn ich zu ihm zurückkehre, werde ich nicht wieder seine betheyn sein. Es wird mehr sein als nur Jade-und-Silber.«

Dirk fühlte sich ausgebrannt. Er zuckte die Achseln.

»Und ich?« »Es hätte nicht funktioniert, das weißt du genau. Du mußt es doch gefühlt haben! Du hast mich auch weiterhin Jenny genannt.« Er zog eine Grimasse.

»Stimmt nicht. Vielleicht hatte ich es mir anders überlegt.«

»Ach du.« Sie rieb sich den Kopf. »Nun fühle ich mich ein wenig besser«, sagte sie. »Hast du noch einen Proteinriegel?« Dirk holte einen Riegel aus der Tasche und warf ihn ihr zu. Sie fing ihn mit der Linken aus der Luft, lachte ihn an, riß das Papier ab und biß hinein.

Abrupt stand er auf, rammte die Hände tief in die Jackentaschen und ging zu dem hohen Fenster hinüber.

Auf den Spitzen der knochenweißen Türme lag noch immer ein matter Rotschimmer — vielleicht waren das Höllenauge und seine Begleiter noch nicht gänzlich unter den westlichen Horizont gesunken. Unter ihm aber, in den Straßen der Stadt, machte sich die Nacht breit. Die Kanäle waren nur noch schwarze Bänder, und die Landschaft wurde von der trübpurpurnen Ausstrahlung phosphoreszierenden Mooses betupft. Durch diese flackernde Düsternis hindurch bemerkte Dirk seinen einsamen Kahnfahrer, denselben, den er schon einmal auf diesen schwarzen Wasserwegen erspäht hatte. Er stemmte sich wie immer gegen die Stange und ließ den Strom das weitere tun. Langsam, aber unerbittlich kam er näher. Dirk lächelte. »Sei mir willkommen«, murmelte er. »Sei mir willkommen.« »Dirk?« Gwen war mit dem Essen fertig. Im Halbdunkel schloß sie ihren Anzug. Auf der Wand hinter ihr zuckten die Silhouetten grauweißer Tänzer. Dirk vernahm Trommeln, Geflüster und Versprechungen. Letztere waren Lügen, das wußte er.

»Eine Frage, Gwen«, sagte er schwermütig. Sie starrte ihn an.

»Warum hast du mich zurückgerufen?« fragte er.


»Warum nur? Wenn du so genau wußtest, daß es zwischen uns aus war — warum konntest du mich dann nicht in Ruhe lassen?«

Ihr Gesicht war bleich und ausdruckslos. »Dich zurückgerufen?« »Du weißt doch — das Flüsterjuwel.«

»Ach so. Das ist in Larteyn.«

»Natürlich ist es dort«, sagte er. »In meinem Gepäck.

Du hast es mir geschickt.«

»Nein«, sagte sie erstaunt. »Wie kommst du darauf?«

»Du wolltest mich sehen!«

»Du hast uns vom Schiff aus deine Ankunft gemeldet.

Ich habe nie … Du mußt mir glauben, das war das erste Mal, daß ich von deinem Kommen hörte. Ich wüßte nicht, was ich davon halten sollte. Ich hoffte, du würdest mir einige Erklärungen geben, obwohl ich dich nie dazu drängte.«

Dirk sagte etwas, aber der Turm klagte seinen abgrundtiefen Ton und riß ihm das Wort von den Lippen.

Er schüttelte den Kopf. »Du hast mich nicht gerufen?«

»Nein.«

»Aber ich habe das Flüsterjuwel bekommen. Auf Braque. Denselben Stein, den der Esper damals bearbeitete. So etwas kann man nicht fälschen. « In diesem Moment fiel ihm noch etwas ein. »Und selbst Arkin sagte …«

»Aha.« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ich verstehe zwar nicht, warum — aber er muß es dir geschickt haben.

Seltsam, er war doch mein Freund. Ich brauchte jemand zum Reden … Ich verstehe das nicht.« Sie wimmerte leise.

»Ist etwas mit deinem Kopf?« fragte Dirk schnell.

»Nein«, antwortete sie. »Der ist schon in Ordnung.«

Er sah ihr ins Gesicht. »Arkin hat also das Juwel geschickt?« »Ja, nur er kann es gewesen sein. Er war der einzige, der davon wußte. Wir trafen uns auf Avalen, kurz nachdem du und ich … na, du weißt schon. Es war eine schlimme Zeit. Arkin Ruark half mir. Er war dabei als dein Flüsterjuwel ankam — das Flüsterjuwel für Jenny.

Ich weinte und erzählte ihm alles. Wir redeten lange darüber. Sogar später noch blieben wir Freunde, als ich Jaan schon lange kannte. Er war wie ein Bruder!« »Ein Bruder«, wiederholte Dirk. »Warum hat er dann …« »Ich weiß es wirklich nicht.«

Dirk dachte lange nach. »Als wir uns auf dem Raumhafen trafen, Arkin auch dabei. Hast du ihn gebeten mitzukommen? Ich rechnete eigentlich damit, dich allein anzutreffen.«

»Es war seine Idee«, sagte sie. »Na ja, ich sagte ihm, ich sei nervös, weil ich dich nach so langer Zeit wiedersehen würde. Er … er machte den Vorschlag mitzukommen und mir moralische Unterstützung zu bieten, weißt du. Nach allem, was ich ihm auf Avalon erzählt hatte.« »Und an dem Tag, als ihr beide in die Wildnis aufgebrochen seid — du weißt schon, als ich zuerst mit Garse und dann mit Bretan Schwierigkeiten bekam —, was lief da ab?«

»Arkin sagte etwas von einer Wanderung der Panzerkäfer. Es war nichts ungeheuer Wichtiges, aber wir wollten nachsehen. Also flogen wir ab.« »Warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich glaubte, Jaan und Garse hätten dich geschlagen und hielten dich unter Verschluß. In der Nacht zuvor sagtest du …«

»Ich weiß, aber Ruark versicherte mir, er würde dich informieren.« »Statt dessen überzeugte er mich davon, daß es besser wäre, mich aus dem Staub zu machen«, sagte Dirk. »Und dir, nehme ich an, erzählte er, du müßtest, um mich zu überzeugen …« Sie nickte.

Er wandte sich dem Fenster zu. Der letzte Lichtschein war von den Turmspitzen verschwunden. Über ihm funkelte eine Handvoll Sterne. Dirk zählte sie. Zwölf. Ein glattes Dutzend. Er fragte sich, ob einige davon in Wirklichkeit nicht Galaxien am anderen Ufer des Großen Schwarzen Meeres waren. »Gwen«, begann er. »Jaan ist heute morgen aufgebrochen. Mit dem Gleiter von hier bis Larteyn und zurück — wie lange dauert das?«

Als sie nicht antwortete, wandte er sich ihr zu.

Die Wände waren über und über mit Phantomen bedeckt, und Gwen zitterte in ihrem Licht.

»Langsam müßte er doch wohl zurück sein, oder nicht?« Sie nickte und legte sich wieder auf die pastellfarbene Matratze zurück.

Die Sirenenstadt sang ihr Wiegenlied, ihre Hymne auf den letzten, ewigen Schlaf.

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