8

Der Tag war fast vorbei, ehe sie sich wieder dem Versteck der Rebellen näherten. Sie hatten länger für den Rückweg gebraucht, als Charity vorher geglaubt hatte. Einmal waren sie einer Patrouille der gewaltigen Käferkreaturen nur noch mit Mühe und Not entkommen, und dreimal hatten sie sich in den Ruinen verstecken müssen, bis ein Zug der gewaltigen Geschöpfe an ihnen vorüber war. Dafür hatten sie auch auf dem Weg aus der Stadt heraus so gut wie keinen Menschen getroffen. Angellica hatte keineswegs übertrieben - die Stadt hielt im wahrsten Sinne des Wortes den Atem an vor Angst.

Charity hatte kein gutes Gefühl, und das lag nicht nur an der Präsenz der Moroni-Reiter. Aber sie konnte es drehen oder wenden, wie sie wollte - ihre Expedition in die Stadt war ein kompletter Fehlschlag gewesen.

Mit ein paar weit ausgreifenden Schritten holte sie zu Kent und Lydia auf und ergriff den jungen Rebellen am Arm; so rasch und so grob, daß er nicht einmal auf den Gedanken kam, sich loszureißen, sondern sie nur überrascht anstarrte.

»Ich muß mit dir reden«, sagte sie. »Jetzt.«

Kent starrte sie an und schwieg. Gurk und Skudder sahen überrascht auf, enthielten sich aber jeden Kommentars und gingen weiter. »Was ist los mit dir?« fragte Charity geradeheraus. »Wenn du das Gefühl hast, irgend etwas mit mir klären zu müssen, sollten wir das jetzt tun.«

»Auf der Stelle, wie?« Kent riß sich los und funkelte sie an. »Solange wir allein sind.«

»Ganz recht«, antwortete Charity. »Oder brauchst du Verstärkung, um mit einer Frau fertig zu werden?«

Kent wollte auffahren, schüttelte aber dann nur den Kopf und murmelte etwas, das Charity nicht verstand. Dann geschah etwas Seltsames - der Zorn in seinem Blick erlosch, und mit einemmal wirkte er fast verlegen.

»Entschuldige«, sagte er. »Es tut mir leid. Ich habe mich reichlich blöd benommen.«

»Das hast du«, sagte Charity. Aber sie lächelte bei diesen Worten, und sie spürte, daß Kent sie ihr nicht übelnahm.

»Es wäre Selbstmord, das Shaitaan anzugreifen«, sagte sie.

»Ich dachte, deswegen wären wir losgegangen«, antwortete Kent.

»Aber nicht einfach so, ohne Plan, ohne Ausrüstung und allein.« Sie deutete - schon beinahe wieder zornig - auf Skudder und Gurk, die ein Stück weitergegangen und dann stehengeblieben waren. »Wenn jemand in dieses Ding geht, dann Skudder und ich«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Das hier ist unser Spiel, Kent - nicht deines.«

»Ach«, sagte er. »Ich dachte, ihr wärt zu uns gekommen, weil ihr Hilfe braucht.«

Im stillen verfluchte sie sich für ihre eigenen Worte. Verdammt - sie kannte Kent noch nicht sehr lange, aber sie kannte ihn auf der anderen Seite lange genug, um zu wissen, daß sie so nicht mit ihm reden konnte. Ganz egal, ob sie recht hatte oder nicht.

»Das sind wir auch«, antwortete Charity, so ruhig sie konnte. »Ich...« Sie brach wieder ab, seufzte und schwieg ein paar Sekunden. »Tut mir leid«, sagte sie. »Jetzt habe ich mich blöd benommen. Ich würde sagen, wir sind quitt - okay?«

Nein, es war nicht okay, wie Kents Blick bewies. Er sagte nichts.

»Kent«, sagte sie geduldig. »Es tut mir leid. Ich ... ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst - wirklich. Ihr kämpft seit Jahren gegen die Moroni, und jetzt ...«

»...kommt ihr und zeigt uns, daß wir nichts als Idioten waren«, unterbrach Kent sie. Er lachte bitter. »Das wolltest du doch sagen, oder?«

Charity hätte es anders ausgedrückt, aber sie widersprach nicht.

»Verdammt«, sagte Kent plötzlich. »Natürlich hast du recht - ich weiß so gut wie du, daß wir nicht einfach in dieses ... Ding hineinstürmen und es erobern können. Aber du ...«

»Ihr wußtet es nicht besser«, sagte Charity sanft, als Kent abermals stockte. Sie verstand nur zu gut, was in dem jungen Mann vorging - und sie machte sich selbst Vorwürfe, es nicht gleich besser gewußt zu haben. Im Grunde waren Kent und seine Freunde keine Rebellen - sie waren es nie gewesen, und spätestens seit dem Gespräch mit Angellica mußte auch ihm das klargeworden sein. Sie hatten ein bißchen Guerilla gespielt, das war alles - und selbst das nur, weil Moron es ihnen erlaubte.

»Ihr hattet nie die Chance, euch wirklich zu wehren«, fuhr sie fort.

»Was hätten wir denn tun sollen?« fragte Kent bitter. »Ab und zu einen Reiter erschießen und zusehen, wie sie dafür hundert von uns umbringen? Oder das Shaitaan angreifen und darauf warten, daß sie diese ganze verdammte Stadt in die Luft jagen?«

»Natürlich nicht«, antwortete Charity sanft. »Ihr hättet ...«

»Wenn ihr zwei damit fertig seid, euch zu streiten, sollte einer von euch mal hierher kommen«, mischte sich ein schrilles Stimmchen in ihr Gespräch. »Da kommt irgendwer auf uns zu.«

Charity sah fast erschrocken auf. Gurk, Lydia und Skudder waren auf den Kamm der nächsten Sanddüne geklettert. Lydia starrte weiter ins Nichts, aber Skudder hatte einen Feldstecher angesetzt und blickte konzentriert nach Süden.

»Wir reden später weiter, okay?« Charity wartete Kents Antwort nicht ab, sondern beeilte sich, zu Skudder und den beiden anderen auf den Hügel zu gelangen. Skudder schien ihre Schritte zu hören, denn er machte ein Handzeichen, vorsichtiger zu sein, und Charity legte die letzten Schritte gebückt gehend zurück.

Sie blinzelte, als sie neben Skudder anlangte und genau in die tiefstehende Sonne blickte. Und trotzdem sah sie den kleinen, schwarzen Punkt sofort, der sich am unteren Ende einer gewaltigen Staubfahne auf sie zubewegte. Nicht sehr schnell und in verrückten Schlangenlinien, aber doch zweifelsfrei in ihre Richtung.

»Was ist das?« fragte sie.

Skudder setzte den Feldstecher ab und zuckte mit den Schultern. »Ein Motorrad«, sagte er. »Ich glaube, es ist eine von unseren Maschinen - aber ich kann nicht erkennen, wer sie fährt.«

»Und vor allem warum«, fügte Gurk hinzu. Charity sah den Gnom fragend an, und Gurk fuhr fort: »Die Staubfahne muß meilenweit zu sehen sein. Der Blödmann da unten legt es ja direkt darauf an, entdeckt zu werden.«

»Entweder das - oder er hat einen verdammt triftigen Grund, so unvorsichtig zu sein«, sagte Skudder. Ein paar Sekunden lang blickte er Charity und den Gnom abwechselnd und sehr nachdenklich an, dann fuhr er mit einer abrupten Bewegung herum, hängte sich den Feldstecher wieder um den Hals und zog statt dessen seine Waffe.

»Verteilt euch«, sagte er. »Das kann eine Falle sein. Und keinen Laut.«

Kent und Gurk huschten ohne ein überflüssiges Wort davon, während Lydia einfach stehenblieb und weiter ins Leere starrte, als hätte sie Skudders Worte gar nicht gehört. Wahrscheinlich hatte sie es auch nicht, dachte Charity.

»Kümmere dich um sie«, sagte Skudder halblaut, ehe auch er sich umwandte und mit ein paar schnellen Schritten in der Deckung einer weiteren Sanddüne verschwand.

Charity ergriff Lydia am Arm und zog sie einfach mit sich. Die junge Frau folgte ihr gehorsam, aber sie bewegte sich willenlos wie eine Puppe. Als Charity sie losließ, wäre sie einfach weitergelaufen, hätte sie nicht rasch wieder zugegriffen und sie in den Schutz eines gewaltigen Felsbrockens gezerrt, der halb im Sand vergraben lag. Erst, als sie sich dahinter niedergelassen hatten, sah Charity, daß es gar kein Felsen war - sondern Beton. Wahrscheinlich erstreckte sich unter ihren Füßen eine ganze Stadt, deren Ruinen unter dem Sand vergraben waren.

Sie verscheuchte den Gedanken, sah einen Moment gebannt nach Norden - die Staubfahne war näher gekommen - und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder Lydia zu.

»Alles in Ordnung mit dir?« fragte sie.

Zu ihrer eigenen Überraschung reagierte Lydia auf die Frage, wenn auch erst nach einigen Sekunden. Langsam, wie ein Mensch, der aus tiefem Schlaf erwachte, drehte sie den Kopf und sah Charity an, und nach einigen weiteren Augenblicken kehrte auch das Leben in ihre Augen zurück.

»Warum fragst du das?« fragte sie. »Du brauchst mich nicht zu trösten - wenn du das wolltest.«

»Ich wollte nur freundlich sein«, antwortete Charity verärgert.

»Ich habe sie erschossen, nicht?« fragte Lydia, als hätte sie ihre Antwort gar nicht registriert. »Ich meine - sie ist tot, oder?« Sie lächelte.

Charity sah alarmiert auf. Lydias Zustand schien schlimmer zu sein, als sie bisher geglaubt hatte. Es war im Grund völliger Wahnsinn, sich der Führung einer Frau anzuvertrauen, die sie kaum kannte und die halb verrückt zu sein schien.

Sie maß Lydia mit einem letzten, traurigen Blick, drehte sich herum und spähte wieder nach Süden.

Die Staubfahne war näher gekommen, und jetzt hörte sie auch ein leises Summen. Skudder hatte recht gehabt - es war ein Motorrad. Der Gedanke beruhigte sie ein wenig. Die Moroni arbeiten mit allen denkbaren Tricks - aber sie konnte sich schwerlich einen der vierarmigen Insektenkrieger auf einer Harley-Davidson vorstellen.

Skudder schien es ähnlich zu ergehen, denn er war wieder aus seinem Versteck hervorgekommen und auf den Kamm der Sanddüne hinaufgestiegen. Eine ganze Weile lag er flach im Sand und blickte angestrengt durch den Feldstecher nach Süden, dann drehte er sich herum und winkte mit der Hand.

Charity zögerte. Ihr war nicht wohl dabei, Lydia allein zu lassen. Aber der Shark winkte noch einmal, und sie hatte das Gefühl, daß es dringend war, und so erhob sie sich und huschte geduckt zu ihm hinauf. Die letzten zehn Meter legte sie auf Händen und Knien kriechend zurück.

»Hier.« Skudder reichte ihr das Fernglas. »Wofür würdest du das halten?«

Charity setzte den Feldstecher an. Im ersten Moment hatte sie Mühe, den winzigen Punkt in der monotonen Sandwüste wiederzufinden - und dann fuhr sie überrascht zusammen.

»Das ist Net!« Verblüfft setzte sie das Glas ab und tauschte einen Blick mit Skudder. »Ich wußte gar nicht, daß sie Motorrad fahren kann.«

»Das kann sie auch nicht«, sagte Skudder grimmig. »Sie wird sich den Hals brechen. Da muß etwas passiert sein! Komm!« Er sprang auf und half Charity ungeduldig, sich ebenfalls in die Höhe zu stemmen. Nebeneinander rannten sie los.

Das Motorrad kam jetzt schnell näher. Offenbar hatte Net sie gesehen, denn sie beschleunigte nochmals. Der Motor der Harley brüllte auf. Sand wirbelte in einer Fontäne unter dem Hinterrad hervor, als Net dann versuchte zu bremsen. Sie schrie auf, als die Harley zu schlingern begann, und warf sich in den Sand. Die Maschine raste noch ein Stück weiter, dann stürzte auch sie in eine gewaltige Düne.

»Net!« Skudder war mit zwei, drei gewaltigen Sätzen bei der Wastelanderin und kniete neben ihr nieder. Net rührte sich nicht, aber Charity sah, wie Skudder erschrocken zusammenfuhr, als er sich über sie beugte.

»Was ist passiert?« rief sie. »Ist sie verletzt?«

Skudder antwortete nicht. Aber als Charity neben ihm ankam, hob er den Blick, und Charity sah, daß sein Gesicht bleich vor Schrecken war.

Und seine Hände, die er unter Nets Hinterkopf und Schultern geschoben hatte, voller Blut.


Zum ersten Mal überhaupt in seinem Leben empfand Kyle Ungeduld. Es war drei Minuten her, daß er das Motorrad angehalten hatte, um sich zu identifizieren; anderthalb, seit er der Dienerkreatur seine ID-Karte ausgehändigt hatte und die damit verschwunden war, um sie zu überprüfen - und das allein war schon etwas, was Kyle verwirrte. ID-Karten der ersten Klasse konnten nicht gefälscht werden - es gab keinen Grund, sie zu nehmen, um sich von ihrer Echtheit zu überzeugen. Aber der wußte auch, daß der Vierarmige dies nicht aus eigenem Antrieb tat - ganz einfach, weil eine Dienerkreatur nichts tat, was ihr nicht ausdrücklich befohlen werden konnte, und weil sie über die Gefühle, die für eine solche Handlungsweise Voraussetzung gewesen wären, gar nicht verfügte. Der Vierarmige war wenig mehr als ein Roboter, der eigentlich nur durch Zufall aus Fleisch und Blut bestand statt aus Metall.

Ungeduldig sah sich Kyle um, während er auf die Rückkehr des Vierarmigen wartete. Er befand sich in den Außenbezirken der Stadt Denver, wenige Straßenzüge von seinem Ziel entfernt, und somit wenige Augenblicke von dem Moment, in dem er Captain Laird stellen und seinen Auftrag erfüllen würde; fast sechs Tage vor Ablauf der Frist, die ihm Daniel gesetzt hatte. Umso mehr ärgerte er sich über diese weitere Verzögerung.

Aber er wußte auch, daß er es nur seinen phantastischen Reaktionen und - (auch, wenn er das nicht gerne zugab) einer gehörigen Portion Glück zu verdanken hatte, daß er überhaupt noch lebte. Kaum einen halben Meter von der Stelle entfernt, an der seine Maschine zu Boden gestürzt war, war der Asphalt geschmolzen, und auch auf der Wand hinter ihm prangten zwei unregelmäßig geformte, glasierte Flecken - Spuren der Schüsse, die der Vierarmige auf ihn abgegeben hatte. Wahrscheinlich, überlegte Kyle zornig, lebte er nur noch, weil der Vierarmige ein so miserabler Schütze war.

Dabei hatte er eigentlich gar keinen Grund, zornig auf die Dienerkreatur zu sein - sein Ärger sollte viel mehr ihm selbst und seinem bodenlosen Leichtsinn gelten, in der Verkleidung eines Rebellen in eine Stadt hineinzufahren, in der die Regel der Hundert galt. Hätte er auch nur eine Minute über das nachgedacht, was er auf dem Weg zum und später im Versteck der Rebellen erfahren hatte, hätte er gewußt, daß diese Tarnung geradezu eine Herausforderung an die Vierarmigen darstellen mußte, ihn über den Haufen zu schießen. Der zweite, schwerwiegende Fehler, der ihm innerhalb kurzer Zeit unterlief. Alles, was Kyle sich selbst zugute halten konnte, war die Tatsache, daß er verwundet gewesen war, und zwar so schwer, daß der Regenerationsprozeß sein logisches Denkvermögen beeinträchtigte. Gleichzeitig spürte er, daß das nicht der einzige Grund war.

Vielleicht war es überhaupt nicht der Grund ...

Er verscheuchte den Gedanken und ließ seinen Blick über die ausdruckslosen Insektengesichter der drei anderen Dienerkreaturen schweifen, die ihn von den Rücken ihrer Kampfkäfer herab beobachteten. Nicht einmal ihm gelang es, irgend etwas von diesen Gesichtern abzulesen, die im Grunde nicht mehr als Masken aus Horn und starrenden Facettenaugen waren. Aber er spürte die Feindseligkeit der Kreaturen. Hätte er nicht genau gewußt, daß es unmöglich war, dann hätte er geschworen, daß die Geschöpfe es bedauerten, ihn nicht töten zu dürfen.

Die Rückkehr der vierten Dienerkreatur hinderte Kyles Gedanken daran, noch weiter auf solch sonderbaren (und verbotenen) Wegen zu wandeln. Der Vierarmige kam mit raschen, staksenden Schritten heran, blieb dicht vor ihm stehen und deutete eine Verbeugung an. Eine seiner vier Hände reichte Kyle die ID-Karte, und als Kyle den schmalen Plastikstreifen wieder an sich nahm, fühlte er, daß seine Oberfläche warm war. Offensichtlich hatte der Vierarmige ihn mit Hilfe eines elektronischen Geräts abgetastet, um sich von seiner Echtheit zu überzeugen.

»Du kannst passieren«, sagte der Vierarmige mit einem klickenden, zischelnden Akzent. Er sprach sehr langsam, und Kyle spürte, wie schwer es ihm fiel, die ungewohnten Laute zu formen. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, sich der Sprache der Dienerkreaturen zu bedienen, um zu antworten, aber plötzlich empfand er eine sinnlose Freude daran, dem Geschöpf diese Mühe zumuten zu können. Der Gedanke verwirrte ihn, Trotzdem bediente er sich der Sprache dieser Welt, als er antwortete: »Wieso hast du den Ausweis überprüft? Du weißt, daß es unmöglich ist, ihn zu fälschen. Ich verliere wertvolle Zeit!«

Die Dienerkreatur zögerte einen Moment. Dann machte sie eine komplizierte, deutende Geste mit drei ihrer vier Arme. »Ein Befehl des Governors«, antwortete sie. »Alle Ausweise sind zweimal auf zwei verschiedene Arten zu überprüfen.«

»Auch der eines Megakriegers?«

»Der Befehl lautete ausdrücklich: alle Arten von Ausweisen.«

Kyle setzte zu einer zornigen Antwort an, zuckte aber dann nur mit den Schultern und verstaute den Ausweis wieder in dem Geheimfach seiner Jacke. Die Molekularstruktur des Streifens änderte sich, kaum daß er es getan hatte. Er wurde weicher, veränderte seine Farbe und Form. Selbst unter einem Röntgengerät hätte er jetzt ausgesehen wie ein Stück einfaches, bedeutungsloses Leder.

Nach einem letzten, fast zornigen Blick auf die vier Dienerkreaturen drehte sich Kyle herum, ging zu seinem Motorrad zurück und richtete es auf.

Er startete den Motor und fuhr los. Sein rechter Arm schmerzte. Er hatte ihn sich gebrochen, als er von der Maschine gestürzt war, und der Knochen war noch nicht wieder ganz zusammengewachsen. Unter normalen Umständen hätte es nur einer einzigen, bewußten Anstrengung Kyles bedurft, diesen Defekt zu reparieren, aber die Regenerationsfähigkeit seines Körpers war in den letzten Stunden fast über die Maßen strapaziert worden. Kyle war sich der Tatsache, daß er um Haaresbreite dem Tod entgangen war, durchaus bewußt. Der Wirkungsgrad der Waffe, mit der Bart auf ihn gefeuert hatte, war weitaus höher gewesen, als er erwartet hatte; obwohl ihn der Energiestrahl nur gestreift hatte, wäre er fast gestorben. Wenn diese Waffe ein Produkt dieses Planeten war, dann mußte seine technische Entwicklung vor der Kolonisation bereits ein weitaus höheres Niveau erreicht haben, als der Anblick dieser verwüsteten Stadt und der primitiven Maschine, auf der er saß, vermuten ließen.

Kyle fuhr schneller, als er die Straße hinter sich gebracht hatte, in der die Vierarmigen warteten. Das dumpfe Röhren der Maschine war in den verlassenen Straßenschluchten überlaut zu hören, und Kyle war sich auch völlig darüber im klaren, daß er Aufsehen erregen mußte: in einer Stadt, in der die Regel der Hundert zur Anwendung kam, mußte ein Mann auffallen, der ganz offen die Straße überquerte.

Aber er versuchte jetzt auch gar nicht mehr, sich irgendwie zu tarnen. Ganz im Gegenteil - während er sich dem Häuserblock näherte, den der sterbende Rebell ihm beschrieben hatte, verwandelte sich sein Körper wieder in sein ursprüngliches Aussehen: das eines schlanken, dennoch sehr muskulösen Mannes schwer bestimmbaren Alters mit einem harten, aber nicht unsympathischen Gesicht, dunklen Augen und kurzgeschnittenem, schwarzem Haar. Aus der zerfetzten Shark-Kleidung wurde ein mattschwarzer, fast hauteng anliegender Anzug mit zahlreichen Taschen und Schlaufen, auf dessen Brust- und Rückenteil Kyle nach kurzem Zögern auch noch das grellrote Flammen-›M‹ Morons erscheinen ließ; womit seine Tarnung endgültig dahin war. Aber so lief er wenigstens nicht mehr Gefahr, von irgendeinem hirnlosen Insektenbastard aus dem Hinterhalt erschossen zu werden.

Nach wenigen Minuten erreichte er die Straße, in der das Haus der Shai-Priesterin lag. Kyle stellte das Motorrad ab und legte die letzten hundert Meter zu Fuß zurück, wobei er geschickt jeden Schatten als Deckung ausnutzte. In der Eingangshalle des Hauses blieb er stehen und lauschte sekundenlang.

Nichts.

Das Haus war still. Ganz schwach hörte er die verschiedenen Geräusche der Bewohner, aber keiner dieser Laute war irgendwie besorgniserregend.

Kyle zog seine Waffe, sah sich sichernd nach allen Seiten um und veränderte die Struktur seiner Retina. Für normales, sichtbares Licht war er jetzt blind, dafür arbeiteten seine Augen jetzt besser als jede Infrarotkamera. Aus dem zersprungenen, staubbedeckten Mosaikboden der Halle wurde ein wirres Durcheinander verschieden hell leuchtender Wärmespuren, die vom Eingang zum Treppenhaus und zurück führten.

Kyle betrachtete diese Spuren eine ganze Weile, ehe er sein Sehvermögen wieder normalisierte. Er war ein wenig enttäuscht. Die Spuren waren gut sichtbar, und einige davon waren sehr frisch, noch keine Stunde alt - aber es waren einfach zu viele. Während der letzten Stunden mußten Dutzende von Leuten dieses Hauses betreten und wieder verlassen haben. Unmöglich festzustellen, ob Laird und die Rebellen noch hier waren.

Einen Moment lang sah er nachdenklich zum Treppenhaus hinüber, wandte sich dann um und ging statt dessen zu einem der Aufzüge. Seinem Zustand nach zu urteilen, funktionierte der Lift schon seit gut fünfzig Jahren nicht mehr. Die Kabine war abgerissen und lag als Trümmerhaufen anderthalb Stockwerke unter Kyle im Keller des Hauses, aber die Drahtseile, an denen der Korb einmal gehangen hatte, waren noch vorhanden. Kyle wechselte die Waffe von der rechten Hand in die linke, griff nach einem der rostigen Kabel und zog prüfend daran. Als er sicher war, daß es sein Gewicht tragen würde, schwang er sich mit einer entschlossenen Bewegung in den Liftschacht und kletterte zur ersten Etage hinauf.

Seine Vorsicht erwies sich als überflüssig. Niemand hielt sich in diesem Stockwerk auf, das spürte er, kaum daß er den Liftschacht verlassen und sich wieder aufgerichtet hatte. Trotzdem bewegte er sich lautlos weiter und blieb vor der Wohnung der Priesterin noch einmal stehen und lauschte. Die Wahrscheinlichkeit, daß Laird eine Falle zurückgelassen hatte, war verschwindend gering, aber er durfte sie nicht außer acht lassen.

Behutsam öffnete er die Tür und lauschte abermals. Nichts. Die Wohnung war verlassen.

Aber Kyle spürte, daß darin etwas geschehen war, noch bevor er sie betrat. Seine hypersensiblen Sinne nahmen Schweißgeruch wahr, und die typische Ausstrahlung von Menschen, die Angst hatten oder extremem Streß ausgesetzt waren. Und noch etwas: In diesem Zimmer war eine Explosivwaffe abgefeuert worden.

Kyle schloß die Tür hinter sich, schob die Waffe wieder unter seinen Gürtel und sah sich rasch und sehr aufmerksam um.

Seine Vermutung bestätigte sich. In der Wand neben der Tür waren die Einschlaglöcher mindestens eines Dutzends kleiner Geschosse. Um den dunklen Fleck neben der Tür zu identifizieren, hätte er kein Megamann sein müssen. Rasch ließ er sich in die Hocke, streckte die Hand nach dem Blutfleck aus und tastete mit den Fingerspitzen darüber.

Das Blut war bereits trocken, aber noch nicht sehr alt. Eine Stunde, schätzte Kyle; allerhöchstens. Er hatte Laird verfehlt, aber das machte nicht. Er wußte, daß Laird und die anderen zu Fuß unterwegs waren.

Aber wer hatte hier geschossen und warum? Es konnte wichtig sein, dies herauszufinden, ehe er Laird weiter verfolgte.

Kyle brauchte fünf Minuten, um die aus nur zwei Zimmern und einer primitiven Hygienezelle bestehende Wohnung zu durchsuchen. Er fand nichts Auffälliges, aber dafür fand er eine ganze Menge von Dingen nicht, die eigentlich hätten dasein müssen: der Kleiderschrank im angrenzenden Schlafraum war offensichtlich durchwühlt worden, mehrere Bügel waren leer. Kyle wußte nicht, was Laird und die Rebellen mitgenommen hatten, aber er hatte das sichere Gefühl, daß es sich lohnte, noch ein paar Minuten zu opfern, um es herauszufinden.

Als er ins Wohnzimmer zurückkam, fiel sein Blick auf den kleinen Transmitter neben der Tür. Es war ein primitives Gerät mit nur geringer Reichweite, aber es erfüllte seinen Zweck, und es war noch in Betrieb. Kyle schraubte die Kunststoffverkleidung ab, warf sie achtlos beiseite und fuhr mit den Fingerspitzen über das Gewirr von einfachen Chips. Auf der Vorderseite des Apparates begann ein winziges grünes Lämpchen in einem ganz bestimmten Rhythmus zu blinken. Jemand hatte den Alarmknopf gedrückt, den Notruf aber vor Ablauf der Sperrfrist wieder zurückgenommen. Doch Kyle brauchte noch mehr Informationen über die Besitzerin dieser Wohnung.

Abermals huschten seine Finger über das Innenleben des Transmitters. Diesmal dauerte es länger, bis er mit seiner Arbeit fertig war, aber danach erfüllte das kleine Gerät eine Aufgabe, die seine frühere Besitzerin vor Staunen hätte erstarren lassen.

Kyle setzte das Chassis sorgsam wieder ein und drückte einen Knopf. Ein Teil der mattschwarzen Kunststoffoberfläche färbte sich silbern und füllte sich Sekunden darauf mit weißem Rauschen. Kyles Finger tippten einen bestimmten Code in die Zwölfer-Tastatur des Transmitters. Das statische Rauschen verschwand und machte dem Flammen-›M‹ Morons Platz.

Selbst Kyle war überrascht, wie schnell die Verbindung zustande kam. Der Code, den er eingegeben hatte, hatte die höchste Priorität, aber Daniel war immerhin Governor eines ganzen Planeten und somit ein Mann, der ziemlich beschäftigt sein mußte. Um so mehr verwunderte es Kyle, wie schnell er auf den Anruf reagierte. Auf dem winzigen Bildschirm erschien das Gesicht Daniels, des Mannes, den Charity Laird als Lieutenant Stone kannte.

»Kyle!« Daniel sah mehr erfreut als überrascht aus. »Ich hätte nicht gedacht, daß du dich so früh meldest! Ich nehme an, du hast Captain Laird gefaßt?«

»Noch nicht«, antwortete Kyle. »Aber ihr Vorsprung beträgt nur noch eine Stunde.«

»Worauf wartest du dann?« fragte Daniel ärgerlich. »Verfolge sie und bring sie zu mir. Du kennst deinen Auftrag!«

»Ich brauche ein paar Informationen«, antwortete Kyle.

Daniels Gesicht verdunkelte sich vor Zorn, was zu Kyles Einschätzung seines Charakters paßte - er war kein besonders geduldiger Mann. »Was für Informationen?«

»Ich befinde mich in der Wohnung einer Shai-Priesterin«, antwortete Kyle. »Die Nummer ihres Transmitters ist Denver-siebenfünfsieben-Alpha-neunzehn.«

Daniel machte eine Handbewegung zu jemandem, der sich außerhalb des Kamerabereichs aufhielt, ehe er sich wieder an Kyle wandte. Seine Ungeduld war jetzt nicht mehr zu übersehen. »Du bekommst ein komplettes Dossier«, sagte er, »in drei Minuten. Aber warum?«

»Captain Laird war hier«, sagte Kyle. »Es gibt Kampfspuren. Einige Kleider und andere Dinge sind verschwunden. Ich muß wissen, wer diese Frau ist, die hier lebt.«

»Eine Shai-Priesterin?« Daniels Augen verengten sich. »Es gibt ein Shaitaan in der Nähe von Denver, nicht wahr?« fragte er.

Kyle nickte.

»Ich verstehe«, sagte Daniel. »Du vermutest, Laird könnte einen Angriff auf das Shaitaan planen. Aber so verrückt ist nicht einmal sie. Es wäre Selbstmord.«

»Ich fürchte, Sie unterschätzen Captain Laird und ihre Verbündeten«, sagte Kyle. »Einem ihrer Männer wäre es fast gelungen, mich zu töten. Sie hätten mich informieren müssen, daß die Rebellen über Hochleistungswaffen verfügen.«

Daniel sah für einen Moment betroffen aus, dann rettete er sich in ein nervöses, wenig überzeugendes Lachen. »Ich dachte, ihr Megamänner seid unverwundbar«, sagte er.

Kyle antwortete überhaupt nicht darauf. Daniels Spott ärgerte ihn, und das wiederum irritierte ihn. Er fügte dieses Gefühl der immer länger werdenden Liste von Fragen hinzu, die er nach Beendigung seines Auftrags klären würde. Irgend etwas war nicht mit ihm in Ordnung, seit er diesen Planeten betreten hatte.

»Die Informationen, um die du mich gebeten hast«, sagte Daniel.

Sein Gesicht verschwand vom Bildschirm. An seiner Stelle erschien das Dossier der Shai-Priesterin, der diese Wohnung gehörte.

Kyle brauchte knapp zwei Minuten, um das über vierzig Seiten lange Dossier zu lesen. Als er fertig war, war das ungute Gefühl in ihm echter Besorgnis gewichen.

»Bist du jetzt schlauer?« fragte Daniel spöttisch.

Kyle nickte knapp. »Die Priesterin ist die Schwester einer Eingeborenen, die sich in Lairds Begleitung befindet«, sagte er.

»Und?« Auch Daniel wirkte mit einemmal sehr aufmerksam.

»Ihr Kind wurde erwählt«, fuhr Kyle fort. »Sie floh. Offensichtlich halfen ihr Laird und einige Sharks bei der Flucht. Dabei wurden drei Dienerkreaturen getötet, aber auch das Kind.«

»Und jetzt tauchen sie in der Wohnung einer Shai-Priesterin wieder auf«, sagte Daniel nachdenklich. »Verdammt, was bedeutet das?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Kyle. »Wenn die Kampfspuren bedeuten, daß die Priesterin tot ist, handelt es sich um einen puren Racheakt ...«

»Unsinn!« schnappte Daniel. »Nicht bei Charity Laird!«

»... sollte die Priesterin allerdings noch leben und sich in Lairds Begleitung befinden«, fuhr Kyle unbeirrt fort, »dann müssen wir ernsthaft mit einem Angriff auf das Shaitaan rechnen.«

»Das ist absoluter Unsinn«, entgegnete Daniel zornig. »Warum sollte Laird wohl ...« Er brach ab, und Kyle konnte selbst auf dem winzigen Bildschirm erkennen, wie sein Gesicht alle Farbe verlor.

»Der Transmitter!«

Kyle sah ihn fragend an.

»Sie muß erfahren haben, daß es eine Transmitterverbindung nach New York gibt!« sagte Daniel aufgeregt. »Natürlich - das ist die einzige Erklärung! Sie ... sie will hierher!«

»Nach New York?« fragte Kyle zweifelnd. »Aber warum?«

»Weil ich hier bin, du Idiot!« schrie Daniel. »Begreifst du denn nicht? Sie will mich!«

»Sie? Aber ...«

Kyle verstummte mitten im Wort, als er begriff, was Daniel ihm soeben unbeabsichtigt verraten hatte.

»Sie?« sagte er noch einmal. »Jetzt verstehe ich. Es handelt sich um eine persönliche Angelegenheit zwischen Laird und Ihnen!«

Daniel antwortete nicht.

»Sie haben einen Megakrieger angefordert, um persönliche Rache zu üben?« fuhr Kyle fassungslos fort.

»Keine Rache«, antwortete Daniel. »Sie wird mich töten, wenn sie die Gelegenheit dazu findet, Kyle.«

»Das berechtigt Sie nicht ...«

»Wozu ich berechtigt bin und wozu nicht«, unterbrach ihn Daniel kalt, »das entscheidest nicht du.«

»Das ist richtig«, antwortete Kyle. »Aber ich werde diese Information weiterleiten. Sie werden sich an anderer Stelle für Ihr Verhalten zu verantworten haben.«

»Sicher«, sagte Daniel wütend. »Tu das ruhig. Aber zuerst erfüllst du deinen Auftrag.«

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