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Kyle war allein, lauschte auf das gleichmäßige, schwere Schlagen seines Herzens und versuchte, einen Rhythmus zu erarbeiten, nach dem er das Verstreichen der Zeit messen konnte. Vor Momenten hatte er das Bewußtsein wiedererlangt und die Augen aufgeschlagen.

Langsam, mit der gleichen Bedächtigkeit, die alle seine Bewegungen auszeichnete und die so entsetzlich über die wahre Schnelligkeit hinwegtäuschen konnte, zu der er fähig war, richtete er sich auf seinem Lager auf, blickte einen Moment lang das kalte Videoauge rechts neben der Tür an und nahm dann seine gewohnte Wartestellung ein: aufrecht sitzend, mit leicht nach vorne gebeugten Schultern und untergeschlagenen Beinen; für einen unbeteiligten Zuschauer hätte es ausgesehen, als schliefe er.

Aber das tat er nicht.

Kyle schlief nie. Er wußte nicht, was Schlaf war, und hätte er es gewußt, hätte er es für eine Vergeudung von Zeit und Energie gehalten.

Zeit verging.

Für seinen Auftrag war es irrelevant, wie viel, aber etwas in ihm registrierte trotzdem getreulich ihr Verstreichen: Viertausend Herzschläge - mehr als drei Stunden, bei der verminderten Atem- und Herztätigkeit, zu der er seinen Körper gezwungen hatte.

Dann begann der Boden zu zittern; ganz sacht nur, aber deutlich genug, Kyle seine eigene Einschätzung der Gegebenheiten korrigieren zu lassen. Offensichtlich befand er sich nicht in einem Gebäude, sondern in einem Fahrzeug; ein Schiff, möglicherweise auch ein sehr großes Transportflugzeug, in das man ihn gebracht haben mußte, während er bewußtlos war.

Ein kaum hörbares Summen drang an sein Bewußtsein, und Kyle öffnete im gleichen Moment die Augen, in dem die Metalltür auf glitt. Herzschlag und Atmung beschleunigten sich wieder, und ein kurzer, nur halb bewußter Befehl zwang eine hypersensibilisierte Drüse in seinem Körper, eine adrenalinähnliche Substanz in seine Blutbahn abzugeben.

Als sich die Tür vollends geöffnet hatte und die Gestalt eintrat, war Kyle bereit.

Ein Humanoider und eine Dienerkreatur betraten den Raum. Kyle musterte den Vierarmigen flüchtig - durchschnittliche Erscheinung, durchschnittliche Größe, aber von etwas präziseren und schnelleren Bewegungen als gewöhnlich. Kyle stufte ihn automatisch als Angehörigen der Elite-Kaste ein - und wandte seine Aufmerksamkeit dann dem Humanoiden zu. Der Mann war größer als er, ein wenig schlanker, trotzdem etwas übergewichtig. Seine Haut war ein wenig zu blaß. Der Mann war nicht sehr gut in Form. Offensichtlich ein Ureinwohner der Welt, für die auch er, Kyle, konditioniert worden war. Das rote Flammen-›M‹ Morons, das auf sein rechtes Handgelenk tätowiert war, wies ihn als Weisungsberechtigten aus.

Kyle ignorierte die Dienerkreatur und trat dem Humanoiden einen halben Schritt entgegen. Sein Gesicht blieb starr. Höflichkeitsfloskeln gehörten nicht zu seiner Konditionierung.

»Du bist ...?«

»Kyle«, antwortete Kyle, als der Humanoide nicht weitersprach, sondern ihn nur fragend ansah. »Megakrieger erster Klasse, abkommandiert zu ...«

»Ich weiß«, unterbrach ihn der Humanoide. Seine Stimme verriet Nervosität, und Kyle registrierte darüber hinaus deutliche Anzeichen von Furcht - beschleunigter Atem, starke Schweißbildung, kleine, rasche Bewegungen der Finger und Augen, die nicht seiner bewußten Kontrolle unterlagen. Kyle verstand den Grund dieser Furcht nicht - oder doch: es war eindeutig Furcht vor IHM.

Aber er verstand nicht, warum der Humanoide Angst vor ihm hatte. Wäre er dazu in der Lage gewesen, hätte er vielleicht Verachtung empfunden.

»Spar dir den ganzen Quatsch«, fuhr der Mann nach einer langen, nervösen Pause fort. »Ich weiß, wer du bist. Ich bin Daniel.«

Kyle nickte. Das war der Name, den man ihm genannt hatte. »Ich unterstehe Ihrem Kommando.«

»Auch das weiß ich«, murrte Daniel. Sein Blick huschte nervös über Kyles Gesicht, blieb einen Moment an seinen Augen hängen und glitt weiter. »Du kennst deinen Auftrag?«

Kyle nickte knapp. »Zum Teil.«

»Zum Teil? Was soll das heißen?« Daniels Herzschlag beschleunigte sich weiter. Er begann unruhig in der kleinen Zelle auf und ab zu gehen.

»Wieso schickt man dich hierher, wenn man -«

Er brach mitten im Wort ab, starrte Kyle wütend an und ballte die Hand zur Faust.

Kyle verstand diesen Wutausbruch nicht. Zorn war ein schädliches Gefühl, und ein Mann in Daniels Position sollte dies eigentlich wissen. Er, Kyle, hatte sich keinen Fehler zuschulden kommen lassen. Es war nicht nötig, Details zu kennen, bevor der Einsatz begann. Kyle fragte sich, wieso man ein so unbeherrschtes Wesen wie den Humanoiden Daniel als Governor eines ganzen Planeten einsetzte. Natürlich sprach er nichts von alledem aus.

»Dein Auftrag ist einfach«, fuhr Daniel nach einer Weile fort. »Du wirst jemanden suchen. Einen Menschen. Eine ... Ureinwohnerin dieses Planeten, wenn du so willst.«

Er hob herrisch die Hand. Die Dienerkreatur reichte Kyle einen durchsichtigen Plastikumschlag, in dem sich ein großformatiges Farbfoto und zwei winzige Datenchips befanden.

Kyle warf einen flüchtigen Blick auf das Bild, reichte es Daniel zurück und schob die Datenchips in eine Tasche seines Gürtels, ohne sie auch nur anzusehen.

Aus irgendeinem Grund schien dies Daniel zornig zu machen. Für eine Sekunde starrte er Kyle wütend an, dann fuhr er mit einem Ruck herum und verließ die Kammer, ohne auch nur noch ein einziges Wort zu sagen.

Kyle folgte ihm. Er versuchte nicht mehr, eine Erklärung für Daniels seltsames Benehmen zu finden. Es gehörte nicht zu seinem Auftrag.

Dicht hinter Daniel und der Dienerkreatur durchquerte er das Schiff. Kyle identifizierte das Fahrzeug jetzt als schweren Transportgleiter, eine primitive, aber äußerst effiziente Konstruktion, wie sie auf vielen Welten der ersten Kolonisationsphase zum Einsatz kamen.

Das Fahrzeug war bereits gelandet. Beide Schleusentore standen offen, und eine breite, sehr sanft geneigte Rampe führte zur Oberfläche des Planeten hinab.

Kyle sah sich rasch und routiniert nach beiden Seiten um, während er Daniel folgte. Eine durchschnittliche gelbe Sonne vom A-Typ. Der Planet selbst - zumindest der Teil, in dem sie sich befanden - wüstenhaft, heiß; ein wenig trockener, als seine Konditionierung vorsah. Im Norden die Ruinen einer niedergebrannten Stadt, im Süden eine gewaltige, ausgedörrte Ebene. Sehr wenig, sehr primitives Leben: ein paar Flechten und Büsche, wenige, größtenteils insektoide Lebewesen. So gut wie keine Luftfeuchtigkeit.

Kyle korrigierte den Flüssigkeitshaushalt seines Körpers um eine Winzigkeit, änderte die Struktur seiner Haut und dämpfte seinen Atemrhythmus; gleichzeitig verengte er seine Pupillen, um seine Sehschärfe dem grellen Licht anzupassen. Als er hinter Daniel von der Rampe heruntertrat, war er innerlich zu einem perfekten Wüstenbewohner geworden; einem Wesen, das tage-, wenn nicht wochenlang von seinem eigenen Wasservorrat zehren konnte und so gut wie keine Erschöpfung oder Schwäche kannte.

Daniel blieb stehen, drehte sich ungeduldig um und schien etwas sagen zu wollen, schwieg aber dann einen Moment und sah Kyle mit offenkundiger Verwirrung an. Seine Haut war dunkler geworden, und die Augen lagen jetzt tiefer in den Höhlen, um sie vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen. Kyle schloß aus Daniels offenkundiger Verwirrung, daß der Planetengeborene keine nennenswerte Erfahrung im Umgang mit Megakriegern hatte. Diese Welt war jung. Möglicherweise war er der erste Jäger, der hier zum Einsatz kam.

Kyle registrierte diese Vermutung sorgfältig und beschloß, sie möglichst bald zu überprüfen. Wenn es so war, hatte er einen gewissen Vorteil den Planetengeborenen gegenüber.

Daniel überwand endlich seine Verwirrung und deutete mit der Hand; zuerst auf Kyle, dann auf die zerstörte Stadt im Norden. »Unsere Gleiter haben Captain Lairds Spur knapp hundert Meilen weiter südlich verloren«, sagte er. »Ich könnte dich dort absetzen, aber man hat mir gesagt, ich soll dich hierher bringen. Anscheinend halten dich die Herren für eine Art Spürhund.«

»Korrekt«, antwortete Kyle knapp. »Es ist möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, daß das Objekt absichtlich eine falsche Fährte gelegt hat.«

»Das Objekt?« Daniels linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben. Kyle verstand nicht warum, aber er schien wenig Gefallen an diesem Wort zu finden. Captain Laird gehörte der gleichen Spezies an wie er. Möglicherweise empfand er eine unbewußte, angeborene Solidarität. Kyle registrierte auch diesen Verdacht sorgfältig und fügte ihn den knappen Informationen zu, die man ihm über die Bewohner dieser Welt gegeben hatte.

»Wie du willst«, sagte Daniel. »Mir ist es egal, wie du sie nennst. Du wirst Captain Laird finden, wie und auf welche Weise, spielt keine Rolle. Bring sie zu mir - lebend. Das ist wichtig, verstehst du?«

Kyle schwieg. Daniel starrte ihn ein paar Sekunden lang an, als warte er auf eine Antwort, schüttelte dann zornig den Kopf und deutete auf den Transportgleiter. »Deine Ausrüstung ...«

»Ich brauche keine weitere Ausrüstung«, unterbrach ihn Kyle ruhig.

»Keine Ausrüstung?«

»Ich habe alles bei mir, was nötig ist.« Kyle schlug bekräftigend mit der Hand auf seinen Instrumentengürtel; eine völlig überflüssige Geste. Aber er hatte gelernt, sich seinem Gegenüber anzupassen. Mimikry bedeutete weit mehr als nur äußerliche Tarnung. »Haben Sie sonst noch Befehle?« Auch diese Frage war überflüssig, aber je eher er damit begann, sich den nicht unbedingt logischen Verhaltensmustern der Planetenbewohner anzupassen, desto besser.

Daniel preßte für eine Sekunde die Lippen aufeinander. Dann schüttelte er abrupt den Kopf. »Nein. Du kannst anfangen.«

Kyle wollte sich umwenden, aber Daniel hielt ihn noch einmal zurück. »Du meldest dich im Zwölf-Stunden-Rhythmus bei mir«, sagte er.

Kyle nickte.

»Und ... du kennst das Zeitlimit?«

»Zweihundertvierzig Stunden«, bestätigte er.

Diesmal wartete er, ob Daniel ihn noch einmal zurückrief, aber er tat es nicht. Und nach ein paar Augenblicken drehte er sich endgültig um und begann auf die Ruinen der niedergebrannten Stadt im Norden zuzugehen.

Die Jagd hatte begonnen.

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