3

Das Dorf lag versteckt in einer Senke. Es bestand nur aus einem knappen Dutzend kleiner, kuppelförmiger Bauten, aber er sah zahlreiche Spuren; sehr viel mehr, als die geringe Anzahl der Hütten glauben machen wollte. Und nicht nur die Spuren von Menschen.

Er hatte die Stadt am nördlichen Rand der Ebene inspiziert und war zu demselben Schluß wie Daniel gekommen - nämlich, daß Captain Laird und eine größere Anzahl Begleiter das Camp der Sharks verlassen haben mußten, bevor die Gleiter dort eintrafen, und die Ebene in südlicher Richtung durchquert hatten; allerdings hatte er sehr viel weniger Zeit als Daniel gebraucht, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Er hatte auch schon im Laufe der Nacht begriffen, daß neunzig Prozent der Spuren, die Daniels Gleiter und die Reiterkommandos verfolgt hatten, falsch waren - entweder Spuren einzelner Flüchtlinge, die sich vom Haupttrupp getrennt hatten, oder absichtlich gelegt, um die Verfolger in die Irre zu führen.

Nicht aber Kyle.

Er blickte schweigend auf das Dorf hinab, verfolgte mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit das Treiben der braun- und graugekleideten Gestalten zwischen den ärmlichen Hütten und konzentrierte einen anderen Teil seines Denkens darauf, das fehlende Stück der Spur zu extrapolieren. Es war keine sehr schwierige Aufgabe. Die Reichweite der Fahrzeuge, die Laird und ihre Begleiter zur Flucht benutzt hatten, war beschränkt, ebenso ihr Vorrat an Wasser und Lebensmitteln. Es war sehr wahrscheinlich, daß sie in dieser Ansiedlung halt gemacht und ihre Vorräte erneuert hatten. Aber Kyle wußte auch, daß er nicht einfach hinuntergehen und nach ihnen fragen konnte; ebenso wenig, wie es Sinn gehabt hätte, Gewalt anzuwenden. Das hatten Daniels Männer bereits versucht - die niedergebrannte Ruine einer Hütte bewies es. Die Lebewesen dort unten gehörten der gleichen Spezies an wie Laird und ihre Begleiter. Und ganz offensichtlich handelte es sich um eine Rasse mit einem stark ausgeprägten Solidaritätsbewußtsein.

Als Kyle an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen war, war sein weiteres Vorgehen klar. Lautlos und ohne daß einer der Menschen dort unten im Tal auch nur etwas von der Anwesenheit des stummen Beobachters ahnte, erhob er sich aus seinem Versteck und ging ohne sichtbare Hast zu der Felsgruppe zurück, hinter der er sein Fahrzeug abgestellt hatte. Es handelte sich um eine der zweirädrigen Maschinen, wie sie auch Laird und die anderen zur Flucht verwendet hatten. Er hatte Daniels Angebot, ihm einen schnellen Jagdgleiter zur Verfügung zu stellen, abgelehnt und statt dessen eines der Motorräder genommen, von denen es im ehemaligen Camp der Sharks genug gab. Eines der Grundprinzipien der Jagd war, dem Opfer auf dem gleichen Weg zu folgen, auf dem es geflohen war. Und das Fahrzeug hatte sich als zwar primitiv, aber in dieser flachen harten Ebene überraschend effektiv erwiesen. Und es hatte ihm eine Menge über Captain Laird und die überlebenden Sharks verraten.

Kyle löste bedächtig den Wasserkanister vom Sattel, schüttete die kostbare Flüssigkeit in den Sand und startete die Harley-Davidson. Er fuhr los und entfernte sich zwei, drei Meilen weit von der verborgenen Siedlung, ehe er in einem weiten Bogen herumschwang und wieder auf südlichen Kurs ging, wobei er streng darauf achtete, das Fahrzeug nur über felsigen Untergrund zu lenken, auf dem die Maschine keine Spuren hinterließ. Seine linke Hand glitt zum Gürtel und berührte eine Taste auf dem kleinen Instrumentenbord, das den Platz einer Schnalle einnahm.

Der Chamäleonanzug färbte sich dunkel. Das hauteng anliegende Material, das vor Augenblicken noch die Farbe des Wüstensandes gehabt hatte, wurde rauh und schien zu pulsieren wie die Haut eines lebenden fiebernden Wesens. Zehn Sekunden, nachdem Kyle die Taste berührt hatte, hatte sich sein Anzug in eine Kombination aus schwarzem, zerschrammtem Leder verwandelt.

Kyle drosselte seine Geschwindigkeit ein wenig, warf einen Blick in den Spiegel des Motorrades und veränderte die Pigmentierung seiner Haut. Aus dem dunklen glatten Teint seines Gesichtes wurde ein kränkliches Braun; Sonnenbräune, unter der sich Erschöpfung und Schwäche breitgemacht hatten. Dunkle, schwere Ringe erschienen unter seinen Augen. Seine Lippen trockneten aus, wurden rissig und vernarbten. Gleichzeitig färbte sich sein Haar heller: aus Schwarz wurde Blond, in das ein schmaler, hellgrüner Streifen eingefärbt war. Kyle musterte diese letzte Änderung einen Moment lang kritisch und nahm sie dann zurück.

Er näherte sich der Ortschaft jetzt schnell. Die vermeintliche Mauer aus trockenem Dornengebüsch wuchs rasch heran, und fast gegen seinen Willen mußte Kyle die Perfektion der Tarnung bewundern. Selbst er hätte Mühe gehabt, die Täuschung als das zu durchschauen, was sie war.

Kyle fuhr langsamer, entdeckte nach kurzem Suchen die Stelle, die er von den Felsen aus als besten Durchlaß ausgemacht hatte, und gab entschlossen Gas.

Der Motor des Fahrzeuges brüllte auf und katapultierte ihn regelrecht nach vorne. Dornen und dürre, trockene Zweige schlugen nach ihm, zerkratzten seine Kleider und hinterließen tiefe, blutige Striemen in seinen Händen und seinem Gesicht. Die Maschine schlingerte, legte sich für einen Moment lang gefährlich schräg und kam taumelnd wieder hoch. Unten im Dorf wurden erschrockene Rufe laut. Gesichter wandten sich ihm zu; ein paar Gestalten begannen zu rennen. Kyle fuhr weiter, jetzt nicht mehr schnell, sondern taumelnd, mühsam, halb im Sattel zusammengesunken und so, als hielte er die Maschine nur noch mit letzter Kraft aufrecht.

Kurz bevor er die erste Hütte erreichte, fügte er seiner Tarnung den letzten, entscheidenden Teil hinzu. Sein Körper kapselte schlagartig sämtliche Wasservorräte ein, die er in den letzten anderthalb Tagen gesammelt hatte. Gleichzeitig erhöhte er seine Hauttemperatur auf annähernd vierzig Grad. Kyle konnte spüren, wie sich sein Gaumen schmerzhaft zusammenzog und der Durst ihn ansprang wie ein Raubtier. Gleichzeitig begann seine Haut zu reißen. Große, häßlich-braune Flecken entstanden auf seinem Gesicht und seinen Händen, und seine Finger waren plötzlich von einer Anzahl kleiner, halbverschorfter Wunden übersät.

Als er vor der ersten Hütte zum Stehen kam, konzentrierte er sich ein letztes Mal, und diesmal brauchte er seine ganze Kraft.

Kyle schrie gellend auf, als sich seine linke Schulter von einer Sekunde auf die andere in eine einzige, entzündete Wunde verwandelte. Den Schwächeanfall, der ihn aus dem Sattel der stürzenden Harley schleuderte und bewußtlos liegen bleiben ließ, mußte er nicht einmal mehr schauspielern.


Charity fror. Das tat sie, seit sie aufgewacht war, aber seit gut zwei Stunden wurde es immer schlimmer. Die Flasche des kleinen Propangasofens war leer, und sie begann eigentlich erst jetzt zu spüren, wie kalt es hier unten wirklich war: kalt genug, ihren Atem in Dampf und ihre Finger und Zehen in schmerzende Eisklumpen zu verwandeln. Dabei war sie ziemlich sicher, daß man sie nicht absichtlich erfrieren lassen wollte. Immerhin wußte Kent, wie kalt es hier, zehn oder zwanzig Meter unter der Wüste, während der Nacht werden konnte, denn ihre kleine Zelle wies sogar den Luxus eines Gasofens auf - aber ihre Bewacher hatten schlichtweg vergessen, nach der Flasche darin zu sehen.

Allerdings machte das wohl keinen so großen Unterschied, dachte Charity zornig. Allerhöchstens eine etwas andere Inschrift auf ihrem Grabstein: Hier ruht Charity Laird, Retterin der Welt und Zeitreisende wider Willen, aus Versehen das zweite Mal leider etwas zu gründlich eingefroren.

Sie versuchte, sich fester in die dünne Decke einzuwickeln, die Kent ihr gegeben hatte, aber ihre Finger waren bereits zu steif geworden. Schade, dachte sie sarkastisch, daß Kent nicht noch einmal hereinkam, um nach ihr zu sehen. Vielleicht könnte sie ihn noch umbringen - einfach schockgefrieren, indem sie ihn nur einmal anhauchte. Oder ...

Charity war in Gedanken bei der siebten oder achten originellen Todesart, die sie Kent und seinen idiotischen Spießgesellen angedeihen lassen wollte, ehe sie überhaupt bemerkte, daß sie nicht mehr allein in der winzigen Zelle war. Jemand stand neben ihrer Liege, rüttelte beharrlich an ihrer Schulter und redete dabei unentwegt auf sie ein, ohne daß sie auch nur ein Wort verstand. Mühsam hob sie den Blick, sah in ein bärtiges Gesicht, auf dem sich ein sehr erschrockener Ausdruck breitgemacht hatte.

Der Mann sah ehrlich besorgt aus. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« fragte er.

Charity rappelte sich mühsam auf und wankte neben ihm zur Tür.

Es dauerte zehn Minuten, bis das Leben allmählich in ihre Glieder zurückzukriechen begann. Der Schmerz trieb Charity die Tränen in die Augen. Tapfer trank sie den kochendheißen Tee, den ihr Retter ihr einzuflößen versuchte.

»Alles wieder okay?« fragte der Bärtige, den sie zuerst erblickt hatte. Charity funkelte ihn wütend an, aber sie sah trotzdem, daß der Ausdruck von Schrecken in seinen Augen echt war.

»Es ... geht«, sagte sie mühsame. Das Sprechen fiel ihr noch immer schwer. Ihre Lippen waren taub. »Wolltet ihr mich umbringen?«

»Ich ... ich verstehe das nicht«, sagte der Bärtige kleinlaut. »Die Flasche war voll. Jedenfalls dachte ich das.« Er schüttelte den Kopf. »Sie hätte für drei Tage reichen müssen!«

Charity starrte ihn an. Drei Tage? Wenn sie die Flamme ganz heruntergedreht und es sich bei sieben oder acht Grad Celsius bequem gemacht hätte, vielleicht, aber nicht, wenn ...

Sie holte Luft zu einer wütenden Antwort - und schloß den Mund wieder, ohne auch nur ein Wort zu sagen, als ihr Blick auf die winzige blaue Flamme des Gasöfchens fiel, der unmittelbar neben ihr brannte. Er war ganz heruntergedreht, und in diesem Raum herrschten wirklich nur sieben oder acht Grad. Die Füllung ihrer Propangasflasche war ausreichend gewesen; sie war nur nicht für einen Menschen gedacht, der in einem Zeitalter der Verschwendung geboren war und noch immer nicht ganz begriffen hatte, daß Überleben und Bequemlichkeit ä nicht unbedingt dasselbe bedeuten mußten.

»Es ist schon gut«, sagte sie lächelnd. »Fehler kommen vor, oder? War nicht Ihre Schuld.«

In den Augen ihres Gegenübers glomm Erleichterung auf. Er wirkte noch immer sehr erschrocken. Und sie glaube auch plötzlich zu wissen, warum.

»Wirklich, es ist alles wieder in Ordnung«, sagte sie, so überzeugend, wie sie konnte. »Und ich verspreche Ihnen auch, Kent nichts davon zu sagen - falls Sie mir noch eine Tasse von ihrem scheußlichen Tee geben.«

Der Mann nickte erleichtert, sprang auf und kam so hastig mit dem heißen Getränk zurück, daß er die Hälfte davon auf den Boden schüttete, ehe Charity ihm den Becher aus der Hand nehmen konnte. Der Tee schmeckte wirklich scheußlich, aber er war zumindest heiß.

»Wo ist Skudder?« fragte sie. »Habt ihr ihn auch tiefgefroren?«

Der Bärtige lächelte nervös, aber Charity sah, daß er ganz and gar nicht sicher war, wie sie ihre Worte wirklich meinte.

»Ihr Begleiter ist bei Kent«, antwortete er zögernd. »Wir sollten Sie auch zu ihm bringen, aber ...«

Charity lächelte aufmunternd. »Worauf warten wir dann noch?« Sie erhob sich und machte einen vorsichtigen Schritt.

Der Rebell erwartete sie in einer hohen, halbrunden Betonhalle, in der es sogar den Luxus elektrischer Beleuchtung gab und die zweifellos nichts anderes war als das Sammelbecken einer ehemaligen Kläranlage, wie Charity auf den ersten Blick erkannte.

Kent war nicht allein. Außer Skudder und dem obligatorischen Dutzend Bewaffneter, die Charity und ihn so mißtrauisch anblickten, hielten sich noch drei weitere Männer in der Halle auf. Einer von ihnen redete mit Kent, brach aber dann mitten im Wort ab und machte eine Bewegung, die Kent veranlaßte, sich zu ihr herumzudrehen. »Wo bleiben Sie so lange?« fragte er anstelle einer Begrüßung.

Charity sah, wie ihre beiden Begleiter schuldbewußt zusammenfuhren, und zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Wir Frauen brauchen immer etwas länger, um uns fertig zu machen«, sagte sie. »Wußten Sie das nicht? Außerdem konnte ich mich so schlecht von dem gemütlichen Appartement losreißen, das Sie mir zugewiesen haben.«

Kent blinzelte irritiert, setzte zu einer Antwort an - und beließ es dann ebenfalls bei einem Achselzucken. Charity ignorierte ihn kurzerhand und wandte sich an Skudder.

»Alles in Ordnung?« fragte sie.

Skudder lächelte und sagte: »Nein.«

»Nein? Was ...«

»Es ist nichts Schlimmes«, sagte er. »Ich habe nur jemanden gesehen, der mich an jemanden erinnert, weißt du?«

Wütend fuhr Kent Skudder ins Wort: »Zum Teufel, was soll der Unsinn? Falls Sie es noch nicht gemerkt haben sollten, Skudder - es geht hier um Ihren Hals!«

»Ich weiß«, antwortete der Shark ungerührt. Er lächelte matt, wandte sich an den Mann, der unmittelbar neben Kent stand, und fügte erklärend hinzu: »Sie müssen mich für verrückt halten, aber die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend, wissen Sie? Ich hatte einen Freund, der ...« Er sprach nicht weiter, sondern zuckte abermals die Achseln. »Tut mir leid, wenn ich Sie langweile. Aber Sie ähneln Raoul wie ein Bruder.«

Charity erstarrte. Der Mann hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Skudders ehemaligem Stellvertreter, aber sie begriff sehr gut, was Skudder ihr sagen wollte.

Und sie selbst spürte es in der gleichen Sekunde.

Der Mann, auf den Skudder gedeutet hatte, runzelte verwirrt die Stirn und war ebenso ratlos wie Kent und die anderen, aber er hatte ganz offensichtlich nicht verstanden, was Skudder Charity hatte sagen wollen.

»Jetzt reicht's«, sagte Kent verärgert. »Sie scheinen immer noch nicht zu be...«

Charity hatte ihre Überraschung endlich überwunden und drehte sich mit einem Ruck zu ihm herum.

»Das stimmt!« sagte sie zornig. »Es reicht wirklich, Kent. Was habt ihr euch dabei gedacht, Skudder und mich zwei Tage lang in einen Kühlschrank einzusperren? Wir sind hierher gekommen, weil wir eure Hilfe brauchen.«

Kent seufzte. Aber offensichtlich konnte er mit ihrem Zorn sehr viel mehr anfangen als mit Skudders Auftritt, denn sie sah auch, wie er sich innerlich entspannte. Der Mann neben ihm nicht. Seine gelassene Haltung täuschte.

»Es tut mir leid, wenn du es unbequem hattest«, sagte Kent in einem Tonfall, der das Gegenteil behauptete. »Aber ich habe euch gesagt, daß ich eure Behauptungen überprüfen werde. Und daß ich eine solche Entscheidung nicht allein treffen kann. Wie ihr seht, habe ich die anderen Führer unserer Organisation rufen lassen.«

»Ja«, fauchte Charity. »Du hast nur vergessen zu erwähnen, daß du sie aus Timbuktu einfliegen lassen mußtest.«

Kent lächelte pflichtschuldig. »Jetzt sind sie ja da«, sagte er kühl. »Und nicht nur sie. Ich habe eure Geschichte überprüft.«

»Und?« fragte Charity. Sie mußte sich beherrschen, um den Mann neben Kent nicht unentwegt anzustarren.

»Die Geschichte scheint zu stimmen«, antwortete Kent. »Einige Sharks sollen dem Gemetzel entkommen sein, und unter ihnen ...« Er sah Charity scharf an. »... auch eine Frau, die unter ... sehr sonderbaren Umständen bei ihnen aufgetaucht ist.«

»Ja«, sagte Charity. »Geradewegs vom Himmel gefallen.«

»Bist du diese Frau?« fragte Kent ungerührt.

»Wer hat euch von ihr erzählt?« erwiderte Charity. Und sie war nicht einmal sonderlich überrascht, als Kent mit einer Kopfbewegung auf den Mann neben sich deutete. »Faergal. Seine Gruppe arbeitet an der Grenze des Wastelandes. Ihr seid geradewegs durch ihr Gebiet marschiert - wenn ihr die seid, für die ihr euch ausgebt.«

Charity nutzte dankbar die Gelegenheit, sich den angeblichen Rebellen ein wenig genauer anzusehen. Er war einen halben Kopf kleiner als Kent, aber wesentlich kräftiger; ein Mann von vielleicht fünfzig Jahren mit verwittertem Gesicht und narbigen, sehr starken Händen. Seine Augen waren wach und von einer geradezu absurden Ehrlichkeit. Und etwas an ihm war entsetzlich falsch.

»Du bist Faergal?« fragte sie.

»Die Fragen stelle ich hier«, sagte Kent grob. Charity fiel auf, daß er irgendwie ... angespannt aussah. So, als fühle er sich einfach nicht wohl.

»Okay, wir sind die beiden, von denen ihr sprecht«, gestand sie. Ohne Faergal aus den Augen zu lassen, fügte sie hinzu: »Ich wüßte allerdings nicht, wie ich das beweisen sollte, jetzt und hier.«

Statt Kent antwortete Faergal auf ihre Bemerkung. »Zum Beispiel, indem du uns erzählst, wo du das da herhast.« Er deutete auf das Lasergewehr, das Kent über der Schulter trug.

»Jederzeit - sobald ich weiß, auf welcher Seite du stehst«, antwortete Charity stur. Faergals Gesicht verdunkelte sich vor Zorn, aber er antwortete nicht, sondern sah nur Kent durchdringend an. Charity ihrerseits blickte die Männer hinter Kent an. Einen Moment lang erwog sie ernsthaft die Möglichkeit, es einfach zu riskieren - ein entschlossener Sprung, ein Griff, eine blitzschnelle Drehung - aber nein, das war aussichtslos.

»So kommen wir nicht weiter«, seufzte Kent. »Ihr wollt unsere Hilfe, also vertraut uns.« Er deutete wieder auf Faergal. »Skudder und die Fremde waren nicht allein. Wo sind die anderen?«

»Woher soll ich das wissen?« fragte Charity stur. »Wahrscheinlich habt ihr sie genauso eingefroren wie Skudder und mich.«

Kents Gesicht verdüsterte sich vor Zorn, aber er beherrschte sich noch immer. »Ich rede weder von dem Mädchen noch von diesem Shark«, sagte er gepreßt. »Wohin habt ihr die Leute gebracht, die aus dem Bunker geflohen sind?«

»Was für Leute?« fragte Charity harmlos.

»Wo sind sie?« fauchte Faergal. »Wenn wir sie finden, dann wäre das ein Beweis.«

»Da, wo auch die Lasergewehre her sind«, antwortete Charity lächelnd. Sie hob die Hand, deutete auf die Waffe auf Kents Schulter und machte gleichzeitig einen Schritt auf Faergal und Kent zu.

»Dieses Versteckspiel hat wenig Sinn, findet ihr nicht?« fragte Kent seufzend. Charity funkelte ihn mit gespielter Wut an und trat einen weiteren Schritt auf sie zu. Sie war den beiden jetzt sehr nahe, aber noch nicht nahe genug. Kent rechnete sicherlich nicht mit einem Angriff, aber seine Männer waren wachsam, und Charity zweifelte nicht daran, daß in Faergals Adern statt Blut verflüssigtes Mißtrauen pulsierte.

»Kaum«, fauchte sie. »Aber was stellt ihr euch vor? Ihr fallt euren Männern über uns her, stehlt uns unsere Ausrüstung, sperrt uns zwei Tage und Nächte in ein eiskaltes schwarzes Loch und erwartet dann noch unsere Hilfe?« Ein weiterer Schritt, aus einer perfekt geschauspielerten, wütenden Bewegung heraus, »Ihr seid ja verrückt!« fügte sie hinzu.

»Mein liebes Kind«, sagte Kent gepreßt, »meine Geduld ist Erschöpft. Ich habe dir geglaubt. Ich habe meine Freunde herkommen lassen, weil ich dachte, du wärst wichtig für uns. Aber ich habe nicht gewußt, daß ich es mit einer hysterischen Frau zu tun habe!« Bei den letzten Worten wurde seine Stimme immer lauter. Er kochte jetzt wirklich vor Zorn, aber schließlich war das genau das, was Charity wollte. Sie entschloß sich, noch ein bißchen Öl auf die Flammen zu gießen.

»Und ich glaube, daß ihr alles Feiglinge seid«, sagte sie. »Genauso habe ich mir das vorgestellt - ein Haufen von Narren, die Krieg spielen und den Schwanz einziehen, sobald es ernst wird.«

Kent riß die Augen auf, starrte sie eine Sekunde lang fassungslos an und streckte die Hand aus, um sie zu packen. Und genau darauf hatte Charity gewartet.

Es ging so schnell, daß Kents Männer keine Chance mehr Hatten, irgend etwas zu unternehmen. Charity packte sein Handgelenk, versetzte ihm einen Stoß und zerrte plötzlich mit aller Kraft in die entgegengesetzte Richtung, als er sich instinktiv nach vorne warf. Kent verlor plötzlich den Boden unter den Füßen, prallte gegen sie und rollte mit einem krächzenden Schrei über ihren plötzlich gekrümmten Rücken ab.

Und Charity bekam das Gewehr zu fassen.

Sie machte sich nicht die Mühe, Kent die Waffe von der Schulter zu reißen, sondern stürzte an ihn geklammert zu Boden, entsicherte die Waffe und riß Kent mit einer verzweifelten Kraftanstrengung herum, bis der Lauf des Lasers auf Faergal deutete, und drückte ab; alles in einer einzigen, rasend schnellen Bewegung. Ein nadeldünner Energiestrahl zuckte aus der Waffe und durchbohrte Faergals Unterleib.

Plötzlich geschah alles gleichzeitig. Charity hörte Skudder schreien, hörte Schritte und das helle metallische Klacken von Waffen, die in fliegender Hast entsichert wurden, dann die Geräusche eines Kampfes und wieder Schreie, und plötzlich fühlte sie sich von fast einem Dutzend Händen gleichzeitig gepackt und weggerissen. Jemand schlug ihr in den Magen, ein anderer Mann packte ihre Hand und drehte sie so brutal auf den Rücken, daß sie mit einem Schmerzlaut auf die Knie fiel. Ein Dutzend Gewehrläufe richteten sich auf sie.

Aber niemand schoß.

Faergal war zu Boden gestürzt, als ihn der Laserstrahl traf. Aber er lag nicht still.

Er tobte. Sein Körper zuckte wie in Krämpfen, während seine Arme und Beine rasend schnell wirbelten; mit Bewegungen, die ein menschlicher Körper einfach nicht vollbringen konnte, ganz gleich, was man ihm antat.

Dann klappte er auseinander. So sauber und rasch wie zwei Teile einer perfekt angepaßten Form, die plötzlich ihren Halt verloren. Und aus seinem Inneren kroch... etwas hervor. Ein großes schwarzes Wesen mit dürren Spinnengliedern, das Charity aus einem Dutzend Facettenaugen haßerfüllt anstarrte.

Charity riß sich mit einem entschlossenen Ruck los, hob den Laserstrahler auf und legte auf das Ding an.

Niemand versuchte sie aufzuhalten.

Dieses Mal stellte sie den Laser auf volle Energieabgabe ein, ehe sie abdrückte.

»Ich glaube es immer noch nicht«, sagte Kent. »Ich sehe es mit eigenen Augen, aber ich ... ich glaube es einfach nicht. Das ist unmöglich!« Er war blaß. Seine Stimme klang brüchig wie die eines uralten Mannes, und trotz des Entsetzens, das er empfand, schien es ihm unmöglich zu sein, seinen Blick von dem verkohlten Etwas zu lösen, das von Faergal übriggeblieben war. Ein wenig Blut lief über sein Gesicht aus einer Wunde, die er sich beim Sturz auf den Betonboden zugezogen hatte. Er schien es nicht einmal zu spüren.

»Genau dasselbe habe ich auch gesagt, als ich gesehen habe, was Raoul wirklich war«, sagte Skudder leise. Die Männer hatten ihn wieder losgelassen, und er war neben Charity und Kent getreten. Außer Charity schien er der einzige zu sein, der nicht mit aller Kraft um seine Fassung kämpfen mußte.

Kent sah mühsam auf. Sein Blick flackerte wie der eines Wahnsinnigen, als er Charity ansah. »Du ... du hast es gewußt?«

Charity nickte. »Skudder auch«, antwortete sie. »Er hat ihn sogar vor mir erkannt. Oder was glaubt ihr, sollte dieses ganze Theater sonst bedeuten?«

»Aber wieso?« murmelte Kent. »Woher ...?«

»Ich kann sie spüren«, antwortete Charity. »Ich fühle es, wenn einer der Fremden in meiner Nähe ist. Skudder ebenfalls.«

Kents Blick irrte verwirrt zwischen ihr und Skudder hin und her. »Was ... was seid ihr beiden?« fragte er. Seine Angst schien sich nicht gelegt zu haben; im Gegenteil.

»Wir sind nichts Besonderes«, sagte sie hastig. »Ich glaube, jeder spürt ihre Nähe. Ich bin vielleicht nur ein bißchen sensibler als die meisten hier.« Sie machte eine Geste auf den aufgeplatzten Körper, dann auf Kent. »Ich habe dich beobachtet. Vorhin, als du neben ihm standest. Du hast es auch gespürt.«

Kent nickte zögernd. »Ja. Aber das ...«

»Erschien nicht wichtig, ich weiß«, unterbrach ihn Charity. »Skudder ging es bei Raoul ebenso. Instinktive Abneigung, Antipathie... Vielleicht spüren wir einfach die Nähe einer vollkommen fremden Lebensform.« Sie zuckte mit den Achseln. »Es gibt tausend Gründe, die sich finden lassen.«

»Aber wieso spürst du es so deutlich?«

»Vielleicht, weil ich nicht in ihrer Nähe aufgewachsen bin«, antwortete Charity. Aus den Augenwinkeln registrierte sie Skudders warnenden Blick, und sie reagierte darauf. Es konnte ein Fehler sein, Kent jetzt einzuweihen. Manchmal war es besser, die Wahrheit in kleinen Dosen zu verabreichen. »Ich bin in einer Gegend aufgewachsen, in der es sie nicht gibt«, fügte sie hinzu. »Vermutlich ist das das ganze Geheimnis. Skudders Stellvertreter war der erste lebende Moroni, dem ich näher als ein paar Meilen gekommen bin. In ein paar Jahren verliert sich das vielleicht.«

»Heißt das, daß es vielleicht noch mehr von diesen Wesen gibt?« fragte einer der anderen Rebellenführer.

»Nein«, antwortete Charity ruhig. »Nicht vielleicht. Bestimmt.« Sie lachte humorlos. »Ich wäre überrascht gewesen, hier keinen von ihnen anzutreffen.«

»Aber Faergal gehört seit zwanzig Jahren zu uns!« protestierte der Rebellenführer. »Ich kenne ihn, solange er lebt! Das ist völlig unmöglich.«

»Vielleicht haben sie ihn erst später ausgetauscht«, vermutete Skudder.

»Aber wenn sie von uns wußten, wieso haben sie uns dann nicht längst getötet?« murmelte Kent.

»Warum sollten sie?« fragte Skudder. »Ein Feind, den man kennt, ist nicht mehr gefährlich.« Er lachte ganz leise, deutete auf den verbrannten Kadaver und dann mit einer weit ausholenden Geste auf die Rebellen. »Sie haben euch ein bißchen Krieg spielen lassen und waren im übrigen wahrscheinlich ganz sicher, daß es außer euch keine wirklichen Rebellen gibt.«

Niemand antwortete, und Charity bezweifelte auch, daß außer Kent überhaupt einer der Männer wirklich verstanden hatte, was Skudder mit seinen Worten meinte. Der Schock saß noch zu tief.

Charity warf Skudder einen raschen, warnenden Blick zu, es nicht zu übertreiben, ging zu der zerborstenen Faergal-Hülle hinüber. Sie wollten sie berühren, aber sie konnte es nicht. Obwohl sie sich mit aller Macht einzureden versuchte, daß es nichts als Technik war, die sie sah, eine perfekte Mimikry aus dem Computer und vielleicht einem Cloning-Tank, löste der Anblick einen solch unüberwindlichen Ekel in ihr aus, daß sie es nicht einmal fertigbrachte, die Hand danach auszustrecken.

Sie bat einen der Wächter um sein Messer. Der Mann reichte es ihr, und Charity zog die auseinandergeborstene Menschenmaske mit der Klinge herum, während sich Skudder, Kent und die anderen langsam um sie herum zu sammeln begannen.

Was sie sah, war erschreckend und faszinierend zugleich. Die menschenimitierende Hülle war nur wenig dicker als ihr kleiner Finger, aber sie sah selbst jetzt noch entsetzlich lebendig aus. Es gab eine Unzahl mikroskopisch feiner Adern, in denen etwas wie Blut pulsierte, aber auch andere, seltsam formlose Organe, die nicht in einen menschlichen Körper gehörten und deren Funktion Charity erst gar nicht zu erraten versuchte. Selbst jetzt, als sie wußte, was sie vor sich hatte, hätte sie immer noch beschworen, es mit lebendem Fleisch und Blut zu tun zu haben, nicht mit künstlichem Material.

»Das ist unglaublich«, murmelte sie. »Ich verstehe ja nicht viel davon, aber ich glaube, das ist die perfekteste Maske, die es jemals auf diesem Planeten gegeben hat. Das Ding blutet, wenn man es verletzt, stimmt' s?«

Der Mann, der in Faergals Begleitung gekommen war, nickte. »Voriges Jahr hat er sich den Arm gebrochen. Ich habe ihn selbst geschient. Ich ... ich habe es nicht einmal gemerkt.«

»Vielleicht war er da noch er selbst«, sagte Skudder. Er runzelte die Stirn, als er sah, daß Charity den Kunstkörper mühsam ganz auseinanderbrach und mit angeekeltem Gesicht hineinblickte. »Was suchst du?«

Charity antwortete nicht, sondern führte ihre Untersuchung zu Ende, obwohl sich ihr dabei schier der Magen herumzudrehen schien. Erst dann stand sie auf, wischte das Messer an der Hose des Toten sauber und gab es seinem Besitzer zurück.

»Etwas, das nicht da war«, antwortete sie. »Ein Funkgerät, oder so etwas.«

Kent erschrak sichtlich. »Du glaubst ...«

»Nein«, unterbrach ihn Charity rasch. »Das tue ich nicht. Ich habe es befürchtet. Aber es ist nichts da.« Und jetzt mußten sie nur noch beten, daß das Ding nicht telepathisch war, fügte sie in Gedanken hinzu. Aber das sprach sie lieber nicht laut aus. Plötzlich bedauerte sie es fast, den Insektenspion so gründlich ausgelöscht zu haben. Sein Leichnam hätte ihnen wertvolle Aufschlüsse über ...

Sie dachte den Gedanken nicht einmal zu Ende, als sie den Fehler darin begriff. Wertvolle Aufschlüsse hätte der Kadaver einem Wissenschaftlerteam geben können, das in einem voll ausgerüsteten Labor arbeitete. Aber so etwas gab es nicht mehr. Sie hatte noch lange nicht gelernt, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Vielleicht würde sie es niemals wirklich lernen. Vielleicht wollte sie es auch gar nicht.

»Schafft das weg«, sagte sie, müde und mit einer Kopfbewegung auf die zerrissene leere Hülle. »Und dann sollten wir vielleicht endlich tun, wozu wir hergekommen sind, und miteinander reden.«

Es verging noch mehr als eine Stunde, bis sie endlich in Kents improvisierter Kommandozentrale zusammenkamen. Charity hatte darum gebeten, jeden einzelnen der Männer dabeizuhaben, die Zeuge der schrecklichen Ereignisse geworden waren; und selbstverständlich auch Bart, Net und El Gurk - und sie hatte darauf bestanden, daß vorerst niemand von Faergals Enttarnung erfuhr. Kent hatte beides widerspruchslos hingenommen, und auch die drei anderen Rebellenführer hatten sich dieser Anordnung gefügt.

Es war eng in Kents Refugium. Die winzige Betonkammer war groß genug, um zehn Menschen bequem aufzunehmen, aber im Moment hielt sich fast die doppelte Anzahl darin auf. Wenigstens war die Kälte auf diese Weise ein wenig besser zu ertragen. Nicht nur zu Charitys Überraschung hatte Kent auch Lydia herbringen lassen, die Frau, die sie vor zwei Tagen vor den Reitern gerettet hatten. Sie saß auf einer Kiste und starrte ins Leere, und Charity hatte sich ein paar Mal dabei ertappt, sie mit einem Gefühl von Schuldbewußtsein anzublicken, das sie selbst nicht verstand. Irgendwie machte sie sich und Skudder für den Tod ihres Kindes verantwortlich.

»Ihr sucht also Daniel«, begann Kent. Er sprach noch immer sehr leise und ein bißchen schleppend; von allen Anwesenden hatte er seinen Schrecken bisher am schlechtesten überwunden, und Charity gefiel das nicht. Sicher, der Schock mußte gewaltig gewesen sein, aber ein Mann in Kents Position durfte sich Gefühl nur dann erlauben, wenn er sie sich auch leisten konnte. Charity sah ihn besorgt an. Sie war nicht sicher, ob sie sich auf jemanden verlassen wollte, der so leicht zu erschüttern war wie er. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie jung er noch war. Zögernd nickte sie.

»Daniel oder seine Auftraggeber. Am besten beide. Aber zuerst Daniel.«

»Und das ist keine persönliche Sache?« fragte einer der drei anderen Rebellenführer. Er lächelte entschuldigend, als er Charitys ärgerlichen Blick bemerkte, und breitete in einer erklärenden Geste die Hände aus. »Wir sind nicht viele, und es hat lange gedauert, diese Organisation aufzubauen. Wir ...«

»... legen keinen besonderen Wert darauf, in einen persönlichen Rachefeldzug verwickelt zu werden«, führte der Mann neben ihm den Satz zu Ende. »Dazu steht zuviel auf dem Spiel.« Er sprach leiser als der andere, aber irgendwie entschlossener.

»Vielleicht habt ihr sogar recht«, sagte Charity ungerührt.

Der Mann funkelte sie an, dann wandte er sich abrupt um. Sein ausgestreckter Finger deutete beinahe anklagend auf Skudder. »Wie es aussieht, scheinen sie wirklich die zu sein, für die sie sich ausgeben. Aber ich weiß nicht, ob meine Leute mit einem Shark zusammenarbeiten wollen.«

Skudder widersprach wütend, aber Charity hörte gar nicht mehr hin. Sie nutzte die Gelegenheit, sich die drei Männer neben Kent eingehender anzusehen.

Da war Arson, der Mann gleich neben Kent. Er war sehr groß und noch recht jung und hatte wache Augen und ein offenes Gesicht, aber Charity spürte einfach, daß er trotz seiner Stärke ein sehr weicher Mann war. Sie fragte sich, wie er es geschafft haben mochte, zum Führer einer Rebellenarmee zu werden. Neben ihm Tidewell, ein Mann Anfang Dreißig, schlank, aber zäh, dessen Augen mit einer nie erlöschenden Wut in die Welt blickten. Und schließlich der Mann, dessen Namen sie schon wieder vergessen hatte; der einzige der Rebellen, über den sie sich noch keine Meinung hatte bilden können. Vielleicht, weil er als einziger bisher kein Wort gesagt hatte, sondern Skudder, sie und Kent nur abwechselnd ansah.

Arson bemerkte ihren prüfenden Blick und begann nervös auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Er sah plötzlich aus, als wünschte er sich weit, weit weg.

»Stimmt etwas nicht?« fragte Charity.

Arson lächelte unsicher. »Nichts«, behauptete er. »Aber der letzte, den du so prüfend angesehen hast, ist nicht mehr bei uns.«

Charity blickte ihn einen Moment verblüfft an, dann lachte sie. Tidewell und Skudder hörten auf, sich zu streiten, und starrten sie verwirrt an. Nur Kent blieb sehr ernst.

»Arson hat gar nicht so unrecht«, sagte er. »Niemand garantiert uns, daß Faergal der einzige Spion war.« Er zögerte einen Moment. »Glaubst du, alle überprüfen zu können?«

Charity nickte. »Kein Problem. Und auch die Männer in den anderen Verstecken. Aber ich werde mich hüten, es zu tun.«

»Wieso?« fragte Tidewell scharf.

»Weil das das Dümmste wäre, was wir überhaupt tun könnten«, sagte Skudder. Er bedachte Tidewell mit einem abfälligen Blick. Die beiden scheinen Freundschaft geschlossen zu haben, dachte Charity spöttisch.

»Es wird schwer genug werden, eine überzeugende Erklärung für Faergals Verschwinden zu erfinden«, fuhr Skudder fort. »Glaubt ihr, Daniel würde nicht zwei und zwei zusammenzählen, wenn alle seine Spione mit einem Schlag von der Bildfläche verschwinden?«

»Skudder hat recht«, sagte Charity rasch, ehe Tidewell auffahren konnte. »Alles muß so bleiben, wie es war. Deshalb wollte ich ja, daß niemand erfährt, was hier passiert ist. Ich weiß, daß es hart ist, aber ihr dürft niemandem vertrauen, der nicht jetzt hier bei uns im Raum ist. Nicht einmal euren besten Freunden.«

»O ja, sicher«, sagte Tidewell spöttisch. »Wir sind ja genug, fast zwanzig Mann. Wir stürmen Daniels Festung einfach allein. Gegen diese Übermacht kann er nichts ausrichten.«

»Ich brauche keine Armee«, antwortete Charity ruhig.

»Skudder und ich gehen allein. Wir brauchen euer Wissen, nicht eure Männer.«

»Ihr beide gegen Daniel?« Tidewell lachte gezwungen. »Ihr seid ja verrückt.«

»Vielleicht«, mischte sich Kent ein. »Aber sie hat trotzdem recht, Tidewell.« Er versuchte, seiner Stimme einen besänftigenden Klang zu verleihen. »Zwei oder zweihundert, das spielt keine Rolle.« Er seufzte und sah Charity an.

»Das Problem ist ein ganz anderes«, fuhr er fort. »Niemand kommt auch nur in Daniels Nähe. Nach dem kleinen Kunststück, das du uns vorhin vorgeführt hast, traue ich dir sogar zu, ihn zu erwischen. Aber ihr kommt nicht an ihn heran. Es gibt keinen Weg nach New York hinein.«

»Unsinn!« widersprach Skudder scharf. »Daniels Leute schaffen es auch, und ...«

»Keinen, den wir gehen können«, fuhr Kent fort. Er machte eine unbestimmte Kopfbewegung in nördlicher Richtung. »Glaubt ihr, wir hätten es nicht hundertmal versucht? Der einzige Weg in die Stadt hinein führt durch die Luft. Und wir haben keine Flugmaschinen. Und selbst, wenn wir sie hätten, würden Daniels Gleiter sie abschießen, lange, ehe sie der Stadt auch nur nahe kämen. Das gleiche gilt für den Weg durch die Hügel.«

»Wir haben Mittel und Wege, uns zu verteidigen«, sagte Charity. Aber die Worte klangen selbst in ihren eigenen Ohren nicht sehr überzeugend. Es war wohl nur so, daß sie die Wahrheit einfach noch nicht akzeptieren wollte.

»Nicht gegen die Todeszone«, sagte Kent überzeugt. »Wir haben es versucht. Ein Dutzend guter Männer hat mit dem Leben dafür bezahlt. Glaubt ihr, wir hätten nicht längst über eine Möglichkeit nachgedacht, sie dort zu treffen, wo es ihnen wirklich etwas ausmacht?« Er schüttelte den Kopf, als Charity antworten wollte, und fuhr etwas leiser, aber beinahe traurig fort: »Ihr hattet recht mit dem, was ihr uns gestern vorgeworfen habt. Wir sind keine Rebellen, die wirklich Ernst machen.«

Tidewell blickte ihn böse an, aber Kent fuhr ungerührt fort: »Trotzdem tun wir, was wir können. Aber wir können Moron nicht den Krieg erklären. Dazu haben wir weder die nötigen Leute noch die Mittel.«

»Oder das Wissen«, fügte Arson hinzu.

Charity sah ihn verwirrt an. »Wie meinst du das?«

»Wir wissen ja noch nicht einmal, gegen wen wir wirklich kämpfen«, antwortete der Rebell. »Niemand hat die Schwarze Festung je betreten. Niemand weiß, wer darin sitzt.«

»Die Schwarze Festung?«

»Das Hauptquartier der Moroni«, erklärte Arson. »Ich glaube, nicht einmal Daniel hat es je betreten.«

»Und wo liegt es?«

»Wenn ich das wüßte, wäre ich nicht hier«, antwortete Arson.

Charity schwieg einen Moment. Es paßte alles. Was sie hörte, so unglaublich es war, fügte sich nahtlos in das Bild, das sie sich von dieser neuen Welt gemacht hatte. Morons Herrschaft ruhte auf zwei Säulen: der Präsenz seiner Besatzungstruppen auf der einen und totaler Desorientierung auf der anderen Seite. Sie hatten den Menschen nicht nur einfach ihre Freiheit genommen. Sie hatten ihnen ihre Geschichte gestohlen und damit ihre Identität. Was ihr im ersten Moment lächerlich vorgekommen war - das absolute Verbot, sich an die Geschichte der Erde zu erinnern, Morons eifersüchtiges Wachen darüber, die sozialen Bindungen der überlebenden Erdbevölkerung zu zerstören -, das erwies sich auf den zweiten Blick als schlichtweg genial.

Sie sah Net an, und die Wastelanderin erwiderte ihren Blick, aber sie glaubte nicht, daß Net ahnte, was sie wirklich in ihr sah. Zwei Generationen, dachte sie. Vor zwei Generationen waren die Vorfahren dieses Mädchens Menschen wie sie gewesen, Amerikaner, die in einem freien Land geboren und aufgewachsen waren. Net und ihre Eltern erinnerten sich nicht einmal mehr daran, wie diese Welt einmal gewesen war ...

Verbitterung machte sich in ihr breit, als sie die volle Tragweite dieses Gedankens begriff. Vielleicht war sie schon zu spät gekommen. Noch ein, höchstens zwei weitere Generationen, und die Menschen würden vergessen haben, daß es jemals anders gewesen war. Morons Plan war viel subtiler, als sie bisher hatte wahrhaben wollen. Wahrscheinlich hatten die schwarzen Insektenkrieger schon Tausende von Welten erobert, aber sie begnügten sich nicht damit, deren Bevölkerung zu versklaven. Sie sorgten dafür, daß sie vergaßen, jemals frei gewesen zu sein.

»Ein Grund mehr, uns diesen Daniel zu schnappen«, sagte Skudder. »Und zwar lebend.«

»So schlau waren wir auch schon«, sagte Tidewell ärgerlich. »Aber es ist unmöglich. Du hast den Todesgürtel um das Shaitaan gesehen?«

Skudder nickte.

»Es gibt einen ähnlichen Ring um New York«, fuhr Tidewell fort. »Aber er mißt hundert Meilen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Charitys Laserwaffe. »Selbst mit Hunderten von den Dingern wäre es Selbstmord. Auch wenn ihr mit den Monstern fertig werdet, die den Todesstreifen bevölkern, schießen euch Daniels Gleiter zusammen, ehe ihr auch nur zehn Meilen schafft.«

Er sagte ihr, dachte Charity. Nicht wir.

Sie verscheuchte den Gedanken. Ihr Mißtrauen begann zu einer Krankheit zu werden. Sie mußte aufpassen, nicht hinter jedem gedankenlos dahergesagten Wort Verrat und Heimtücke zu vermuten.

»Aber es muß einen Weg in diese Festung geben«, sagte sie. New York war die Hauptstadt dieses Kontinents, das Zentrum, von dem aus Daniel ganz Nord- und Südamerika beherrschte. Es war einfach unmöglich, daß er all dies nur mit Hilfe einiger Telekom-Verbindungen und einer Handvoll Gleiter tat.

»Warum fragt ihr nicht einfach mich?«

Nicht nur Charity fuhr verblüfft auf ihrem Stuhl herum und starrte Lydia an. Sie begriff plötzlich, daß sie alle Lydia schlichtweg vergessen hatten. Aber die Frau hatte zugehört. Und sie hatte jedes Wort verstanden. Ihr Gesicht blieb weiter unbewegt, aber in ihren Augen war plötzlich etwas, das Charity fast erschreckte. Ein so abgrundtiefer Zorn, wie sie ihn noch nie zuvor bei einem Menschen erblickt hatte.

»Dich?« fragte Kent überrascht.

Lydia nickte. »Ich weiß, wie ihr in die Stadt kommt«, sagte sie.

Für Augenblicke wurde es sehr still in dem kleinen, unterirdischen Verlies. Alle starrten Lydia an, aber sie blickte in Charitys Richtung, als ginge das, was sie zu sagen hatte, nur sie beide an.

»Du?« sagte Kent schließlich. Seine Stimme klang sehr mißtrauisch, und mit einemmal fiel Charity wieder ein, wie stark Lydias Angst auch vor ihm und seinen Männern gewesen war. Kents Rebellen schienen unter der Bevölkerung nicht nur Freunde zu haben.

»Die Kinder«, fuhr Lydia fort, mit einer Stimme, als rede sie in Trance. »Die Kinder, die sie im Shaitaan sammeln - sie werden nach New York gebracht.«

Charity sog überrascht die Luft ein, aber Kent machte eine schnelle, befehlende Geste und trat einen Schritt auf Lydia zu. »Woher willst du das wissen?« fragte er mißtrauisch. »Niemand war je in einem Shaitaan. Niemand, der nicht zu ihnen gehört, jedenfalls.«

»Meine Schwester schon«, antwortete Lydia. »Sie ist Shai- Priesterin.«

»Ein Grund mehr, dir nicht zu glauben«, versetzte Tidewell heftig. »Sie wird uns verraten«, fügte er hinzu, an Kent und die anderen gewandt.

»Das werde ich nicht!« widersprach Lydia. »Ich hasse sie. Sie haben mir meine Kinder gestohlen. Sie haben meine Töchter entführt und meinen Sohn umgebracht.«

Tidewell wollte widersprechen, aber Charity wandte sich wieder an Lydia. »Was geschieht mit den Kindern, die sie ins Shaitaan bringen?« fragte sie.

»Sie werden Shai geweiht und ... und weggebracht«, antwortete Lydia mit bebender Stimme.

»Wohin?«

Lydia zuckte mit den Schultern. »Das weiß niemand«, antwortete sie. »Aber meine Schwester war ... war ein paarmal dabei. Sie hat mir erzählt, daß die Geweihten in einen großen Raum unter dem Shaitaan gebracht werden, von dem aus ein Weg nach New York geht.«

»Nach New York?« Kent gab sich keine Mühe, seinen Unglauben zu verbergen. »Das sind fast tausend Meilen.«

»Ich weiß«, sagte Lydia. »Aber das ist es, was sie erzählt hat. Sie ... sie sagte, sie wäre einmal dagewesen.«

»Aber das ist völlig unmöglich!« protestierte Tidewell. »Sie lügt!«

»Nein«, sagte Charity leise. »Das tut sie nicht.«

Tidewell starrte sie finster an, und auch Kent runzelte fragend die Stirn, aber Charity ignorierte beide und wandte sich wieder an Lydia. »Ein großer Raum mit einem Ring aus Metall in der Mitte, der schwerelos über dem Boden hängt?«

Lydia nickte. »Das stimmt«, sagte sie. »Aber woher weißt du das?«

»Das würde mich auch interessieren«, fügte Tidewell lauernd hinzu.

»Ein Materietransmitter«, sagte Charity. Die Erklärung war so einfach, daß sie sich am liebsten selbst geohrfeigt hätte. »Das Shaitaan ist nichts anderes als eine Transmitterstation.«

Kents Blick machte deutlich, wie wenig ihm dieses Wort sagte. »Eine Art ... Sender«, sagte sie erklärend. »Nur, daß er keine Funkwellen oder Bilder überträgt, sondern feste Materie.«

»Das meinst du nicht wirklich«, murmelte Kent verblüfft.

»Sie sind auf diesem Wege hierher gekommen, Kent«, antwortete Charity. »Sie haben uns einen dieser verdammten Sender geschickt. Wir hätten ihn vernichten sollen. Wir hätten es sogar gekonnt, aber wir ... wir wußten ja nicht, was da zu uns kam. Und als wir es gemerkt haben, war es zu spät.« Ihre Stimme wurde bitter. Sie sah Arson an. »Das Ding, das ihr die Schwarze Festung nennt - ich glaube, es ist das Schiff am Nordpol. Nichts anderes als eine Transmitterbasis. Wahrscheinlich gibt es Hunderte davon auf der Erde.«

Es dauerte einen Moment, bis ihr das plötzliche Schweigen auffiel. Und dann dauerte es noch einmal Sekunden, bis sie begriff, warum alle plötzlich sie anstarrten und nicht mehr Lydia.

»Sagtest du: wir?« fragte Kent. »Wie meinst du das? Es gibt noch mehr wie dich?«

»Ja«, sagte Charity, verbesserte sich sofort und schüttelte den Kopf. »Genauer gesagt, nein. Ich glaube nicht.« Sie schwieg noch einmal einen Moment, dann begann sie mit leiser, aber sehr fester Stimme zu erzählen.

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