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Nets Verletzung erwies sich als weniger schwer, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Sie hatte ein paar Hautabschürfungen und Prellungen, und beim Sturz vom Motorrad hatte sie sich eine heftig blutende Platzwunde am Hinterkopf zugezogen, die nicht besonders gefährlich war. Aber nachdem Skudder und Charity die junge Wastelanderin in den Schatten eines Felsens getragen hatten und Charity sie etwas gründlicher untersuchte, entdeckte sie etwas, was sie zutiefst erschreckte: Über ihrer rechten Hüfte war der Stoff ihrer Bluse verkohlt, die Haut darunter war dunkelrot und blasig, entlang einer bleistiftdünnen, geraden Linie, die sich fast zehn Zentimeter weit über ihre Seite zog. Es war nicht einmal der Anblick der Wunde selbst, der Charity so erschreckte - sie war sicherlich sehr schmerzhaft, aber kaum gefährlich.

Es war das, was sie bedeutete.

Die dunkelrote Spur auf Nets Haut war die Brandspur eines Laserschusses.

»Was ist das?« fragte Kent, obwohl er so gut wie Charity und Skudder wußte, was die Verbrennung an Nets Hüfte bedeutete.

»Das finden wir bestimmt nicht heraus, wenn wir hier herumstehen«, sagte Gurk. »Ich werde mir die Wunde ansehen.«

Charity zögerte, aber Skudder schien größeres Vertrauen in die Fähigkeiten des Gnoms zu setzen - er stand auf und machte eine entsprechende Geste zu Charity und Kent, ebenfalls Platz zu machen. Der Zwerg kniete neben der Wastelanderin nieder, beugte sich über die Wunde und begann, dann sich mit seinen dürren Greisenhänden an ihrem Hals und ihren Schläfen zu schaffen zu machen. Und tatsächlich öffnete Net nach nur wenigen Momenten stöhnend die Augen.

»Seht ihr?« sagte Gurk feixend. »So macht man das!«

Charity verzichtete auf eine Antwort. Statt dessen löste sie die Wasserflasche von ihrem Gürtel, kniete wieder neben Net nieder und hob vorsichtig ihren Kopf an. Net stöhnte vor Schmerz, blickte sie aber dankbar an und trank mit großen, gierigen Schlucken.

»Besser?« fragte Charity.

Net nickte. Ihre Augen glänzten fiebrig, und durch den dünnen Stoff ihrer Bluse hindurch konnte Charity spüren, daß sie am ganzen Körper zitterte.

»Danke«, flüsterte sie.

»Was ist passiert?« fragte Kent ungeduldig. »Wieso hast du die Basis verlassen? Was ist mit Arson und den anderen?«

»Sie sind tot«, antwortete Net.

»Tot?« Kent richtete sich kerzengerade auf.

»Ich ... glaube es wenigstens«, sagte Net. »Wenn ... wenn ein paar überlebt haben, dann nicht viele. Er hat ... wie ein Berserker gewütet.«

»Er?« Kent beugte sich erregt vor. »Wovon sprichst du? Was ist passiert? Haben die Reiter ...«

»Keine Reiter«, unterbrach ihn Net. Ihr Blick flackerte, als bereite ihr allein die Erinnerung an das, was sie erlebt hatte, noch einmal Todesangst.

»Wer zum Teufel war es dann?« schnappte Kent. »Rede endlich!«

Charity machte eine besänftigende Geste. »Bitte, Kent!« An Net gewandt fuhr sie fort: »Was ist passiert? Erzähl einfach der Reihe nach?«

»Ihr müßt weg!« sagte Net. Plötzlich schwang ein hörbarer Unterton von Panik in ihrer Stimme mit. »Er kann jeden Moment hier sein! Flieht!«

»Immer mit der Ruhe«, antwortete Charity. »Ganz egal, was passiert ist, auf die paar Augenblicke kommt es jetzt auch nicht mehr an.«

Trotz dieser Worte richtete sie sich ein wenig auf und wandte sich an Gurk. »Geh auf einen der Hügel und halt die Augen auf, okay?« bat sie. Zu ihrer Überraschung verzichtete Gurk diesmal völlig darauf, irgendeine unpassende Bemerkung zu machen, sondern drehte sich gehorsam um und ging, nachdem er sich Skudders Fernglas ausgeliehen hatte.

»Also?«

»Wir sind angegriffen worden«, begann Net. »Es war ... ein einzelner Mann. Er hat Bart getötet und Arson und alle, die in der Zentrale waren. Ich bin liegengeblieben und habe mich tot gestellt, und deshalb hat er mich übersehen, aber ich habe Kampfgeräusche gehört ...«

»Ein einzelner Mann, sagst du?« Der Zweifel in Skudders Stimme war nicht zu überhören.

Net nickte. »Er sah so harmlos aus«, sagte sie. »Ich ... ich hatte fast Mitleid mit ihm, als Arson ihn gebracht hat ...«

Sie begann mit leiser, aber gefaßter Stimme zu erzählen, was geschehen war. Niemand unterbrach sie, aber Charity warf dann und wann einen Blick zu den anderen, und ihr entging keineswegs der immer stärker werdende Ausdruck von Sorge auf Skudders Gesicht.

Es dauerte gute zehn Minuten, bis Net mit ihrem Bericht zu Ende gekommen war. Sie hatte sich erholt, während sie sprach; jetzt saß sie wieder aus eigener Kraft zwischen Charity und Skudder, und ihr Gesicht war nur noch vor Angst blaß, nicht mehr vor Schwäche.

»Und das alles soll ein einzelner Mann getan haben?« sagte Charity noch einmal, als Net nicht weitersprach.

»Ich glaube ihr«, sagte Skudder. Charity sah ihn fragend an, und der Shark fuhr fort: »Ich habe von diesen Megakriegern gehört. Sie sind eine Art künstlich gezüchteter Supermenschen - irrsinnig schnell und fast unverwundbar.«

»Das stimmt«, sagte Net. »Ich ... ich habe nicht einmal gesehen, wie er Bart angesprungen hat. Bart hat ihn mit dem Laser getroffen, aber es hat ihm nichts ausgemacht.«

Niemand sagte etwas. Skudders Gesicht war plötzlich wie Stein, und auch Charity spürte eine Mischung aus Zorn und Trauer, als sie an den breitschultrigen Shark mit dem grüngefärbten Haar dachte. Bart und sie hatten sich nicht lange genug gekannt, um wirklich Freunde werden zu können, aber sie hatte den gutmütigen Riesen, der sich so darin gefiel, den Grobian zu spielen, irgendwie gemocht. Und für Skudder war er ein Freund gewesen; einer der ganz wenigen, die er je gehabt hatte.

»Und wo ist er jetzt?« fragte sie.

»Ich vermute, er sucht euch«, antwortete Net. »Er hat eines der Motorräder genommen und ist in die Stadt gefahren.«

»Es ist eine Stunde her, sagst du?« fragte Skudder.

Net nickte. »Ungefähr. Ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs war.«

»Das heißt, daß er jetzt schon in Angellicas Wohnung ist«, fuhr Skudder grimmig fort. »Wenn er nicht aufgehalten wurde, dann weiß er jetzt bestimmt schon, was passiert ist.«

»Ein Grund mehr, keine weitere Zeit zu verlieren«, fügte Kent hinzu. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es.«

»Schaffen wir was!« fragte Skudder betont.

»In die Basis zurückzugehen«, antwortete Kent fast zornig.

»Und wozu?« fragte Skudder.

»Wozu?« Kent sog hörbar die Luft ein. »Meine Freunde sind dort!« fuhr er wütend fort. »Vielleicht interessiert dich das Schicksal deiner Freunde ja nicht, aber ich muß mich um meine Leute kümmern! Möglicherweise lebt ja noch einer von ihnen und braucht Hilfe. Außerdem können wir uns dort viel besser verteidigen als hier.«

»Unsinn!« sagte Skudder scharf. »Du hast gehört, was Net erzählt. Er wird uns ebenso töten wie Bart und deine Kameraden, wenn er uns stellt. Wir ...«

»Kent hat recht, Skudder«, unterbrach ihn Charity. »Wir müssen zurück.«

»Das ist Selbstmord!« protestierte Skudder. »Was glaubst du, wie lange es dauert, bis er zwei und zwei zusammenzählt und darauf kommt, was wir getan haben? Er ist in spätestens einer Stunde wieder in der Basis!«

»Ich sage ja nicht, daß wir dort auf ihn warten sollen«, antwortete Charity, so ruhig sie konnte. »Aber wir brauchen Fahrzeuge, Verpflegung ... unsere ganze Ausrüstung ist im Lager der Rebellen. Was glaubst du, wie lange du vor ihm fliehen kannst - zu Fuß?«

»Ich habe Barts Laser mitgebracht«, sagte Net. »Er hängt am Motorrad. Ich hätte auch die anderen Waffen mitbringen sollen, aber ich hatte Angst.«

»Dann warten wir hier auf ihn und schießen ihn über den Haufen, sobald er auftaucht«, sagte Skudder.

»Bart hat ihn getroffen, Skudder«, sagte Net ruhig. »Er ist nicht einmal langsamer geworden.«

»Du mußt dich irren«, sagte Charity verwirrt. »Bart hatte eine Waffe aus der Bunkerstation.«

Niedergeschlagen richtete sich Charity auf und entfernte sich ein paar Schritte von den anderen. Sie spürte eine Mischung aus Schrecken, Verzweiflung und hilflosem Zorn. Dabei brauchte sie im Moment nichts dringender als einen klaren Kopf. Ihre Lage war - vorsichtig ausgedrückt - verzweifelt.

Unschlüssig sah sie sich um. In drei Richtungen erstreckte sich das monotone Auf und Ab der Wüste, nur im Osten erhob sich ein bizarrer, riesiger Schatten, dessen Silhouette mit der Dämmerung zu verschmelzen begann. Das Shaitaan. Fast ohne ihr Zutun tasten ihre Finger über Angellicas Kette, die sie sich umgehängt hatte. Sie -

»Jemand kommt!« rief Gurk von der Höhe seines Ausgucks herab.

Charity fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und rannte los.

Trotzdem war Skudder wieder einmal schneller. Als Charity neben dem Gnom ankam, hatte er ihn bereits erreicht und das Fernglas wieder an sich gerissen.

»Wer ist das?« fragte Charity atemlos.

Skudder antwortete nicht gleich, sondern blickte Sekundenlang gebannt durch den Feldstecher - und gab das Glas dann nicht an Charity weiter, sondern an Net, die ebenso wie Kent und Lydia mittlerweile neben ihnen angelangt war. Net blickte nur kurz hindurch und fuhr so erschrocken zusammen, daß sich ihre Antwort fast erübrigte.

»Das ist er«, sagte sie. »Hier!«

Mit zitternden Fingern reichte sie das Glas weiter.

Charity veränderte den Vergrößerungsfaktor des elektronischen Feldstechers, und aus dem schwarzen Punkt wurde eine zerschrammte Harley-Davidson, in deren Sattel eine hochgewachsene, dunkelhaarige Gestalt saß. Charity konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber das war auch nicht nötig: der Mann trug einen einteiligen, mattschwarzen Kampfanzug, auf dessen Brust ein flammendrotes ›M‹ prangte.

»Hol mir den Laser«, bat sie.

Sie hörte, wie Net aufstand und sich mit schnellen Schritten entfernte, setzte das Glas aber nicht ab. Der Megamann fuhr sehr schnell und mit einer Geschicklichkeit, die selbst Skudder und seine Sharks vor Neid hätte erblassen lassen. Aber eigentlich sah er gar nicht gefährlich aus, dachte Charity. Im Gegenteil - sein Aufzug war geradezu lächerlich.

Und da war noch etwas - aber das fiel ihr erst nach einigen weiteren Sekunden auf.

»Er ist nicht verletzt«, sagte sie.

»Vielleicht war es nur ein Streifschuß«, vermutete Skudder.

Charity schüttelte den Kopf. »Nein. Net muß sich täuschen. Sein Anzug hat nicht die kleinste Schramme. Wahrscheinlich hat Bart doch danebengeschossen.«

Net kam zurück und reichte ihr Barts Lasergewehr. Charity warf einen flüchtigen Blick auf die Ladekontrolle - die Batterien waren noch zu gut siebzig Prozent gefüllt -, stellte die Waffe auf feinste Bündelung und gleichzeitig höchste Energieabgabe ein und blickte durch die vergrößernde Zieloptik.

Es dauerte einen Moment, bis sie den Motorradfahrer wiederfand. Er war erschreckend schnell näher gekommen in den wenigen Augenblicken, die sie ihn nicht beobachtet hatte.

»Laß dir Zeit«, sagte Skudder leise.

Charity nickte. Ihr Finger näherte sich dem Auslöser, berührte ihn aber noch nicht. Wenn auch nur ein Teil dessen stimmte, was Net erzählt hatte, dann hatte sie nur diesen einen Schuß. Sie zielte sehr sorgfältig, setzte die Waffe noch einmal ab, fuhr sich mit den Händen über die Augen und zielte noch einmal.

Ein nadeldünner, unerträglich greller Blitz zuckte aus dem grünen Kristall am Ende des Lasers, und das Motorrad samt seinem Fahrer verschwand in einer orangeroten Feuerkugel, die plötzlich wie aus dem Nichts über der Wüste aufflammte.

Charity schloß geblendet die Augen, zählte in Gedanken bis fünf und blickte dann abermals durch die Optik der Waffe.

Wo das Motorrad gewesen war, kochte der Sand. Rotglühende Metalltrümmer bedeckten den Boden in weitem Umkreis, und ein Stück dahinter lag eine dunkle Gestalt, aus der kleine Flammen leckten. Seltsamerweise verschaffte es Charity keine Befriedigung, ihren Gegner getötet zu haben. Nicht einmal Erleichterung. Ganz egal, was er getan hatte und auf welcher Seite er stand - der Mann dort drüben war ein Mensch gewesen, kein Insektenmonster von den Sternen.

Wortlos stand sie auf, sicherte den Laser und drehte sich um.

»Megamann!« sagte Gurk spöttisch. »Ha!«

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