10

Schmerz. Agonie. Angst. Noch nie zuvor im Leben hatte Kyle solche Qualen ausgestanden. Seine Erinnerungen waren ausgelöscht, fort, zu schwarzer Schlacke verbrannt wie sein Körper.

Er wußte nicht mehr, wer er war. Was er war. Wo er war. Kyles Denken war auf einen winzigen, weißglühenden Punkt im Nichts zusammengeschrumpft, eine grell lodernde Sonne, die nur aus Schmerz und unvorstellbarer Qual bestand und in der nur Platz für Angst und Agonie war - und den Wunsch zu sterben.

Aber er starb nicht. Sein Körper war schlimmer verletzt worden als jemals zuvor. Er war verbrannt worden, mit unvorstellbarer Wucht gegen die Felsen geschleudert und von rotglühenden Trümmerstücken durchbohrt, von brennendem Benzin und kochender Lava übersät, aber er lebte noch.

Er lernte im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle kennen, schritt durch die Flammen des Hades und torkelte durch das Fegefeuer, aber irgendwo in seinem Körper, der kaum noch mehr war als ein zuckender Plasmaklumpen, war noch Leben.

Zellen veränderten sich. Verbranntes Gewebe begann sich zu regenerieren, Nerven und Muskeln, die nicht mehr da waren, wuchsen mit phantastischer Schnelligkeit nach, Knochen begannen sich neu zu bilden.

Selbst Kyles Schöpfer wären wahrscheinlich erstaunt gewesen, hätten sie mit angesehen, wie perfekt der künstlich stimulierte Regenerationsmechanismus seines Körpers arbeitete.

Stunden vergingen, die für Kyle zu Ewigkeiten wurden. Die Nacht brach herein, und mit ihr eine grausame Kälte, die seinem verstümmelten Körper neue, unerträgliche Schmerzen zufügte. Kyle hätte geschrien, hätte er es gekonnt, und er hätte sich selbst getötet, wäre er dazu in der Lage gewesen.


Charity duckte sich instinktiv, als die nächste Explosion die Nacht zerriß. Ein grellweißer Feuerball verwandelte die Wüste in Bruchteile von Sekunden in ein bizarres Schwarzweißbild voller harter Schatten und Linien, und kaum eine Sekunde später rollte der krachende Donner der Detonation über die Hügel. Statt des grellen Glutballes erhellte jetzt der zuckende Schein von Flammen die Nacht. In dem flackernden, gelben und roten Licht waren die rasenden Flugscheiben am Himmel nur schemenhaft zu erkennen, wie Ungeheuer aus einem Alptraum, die aus dem Nichts kamen, ihre grellen Flammenblitze auf die Erde schleuderten und wieder ins Nichts verschwanden, lautlos wie Gespenster und hundertmal tödlicher.

Charity ließ sich vorsichtig zu Boden sinken, wandte sich um und kroch auf Knien und Ellbogen zu den anderen zurück, die in einem Spalt zwischen zwei Felsen Schutz gesucht hatten. Der Platz war viel zu eng für fünf Personen, aber es war das einzige Versteck in weitem Umkreis gewesen, das ihnen auch Schutz vor einer Entdeckung aus der Luft gewährte. Charity zweifelte keine Sekunde daran, daß die fliegenden Killer dort oben nicht nur mit Waffen, sondern auch mit allen nur denkbaren Beobachtungs- und Ortungsgeräten ausgerüstet waren.

Erst als sie den sicheren Schutz der Felsen erreicht hatte, wagte sie es, sich aufzurichten und wieder Atem zu holen. Die Luft in ihrer Kehle war heiß. Sie waren fast zwei Meilen vom Eingang des unterirdischen Rebellenverstecks entfernt, und trotzdem spürten sie die Hitze der Explosionen so stark, als stünden sie unmittelbar daneben.

Kent starrte sie an. Er sagte nichts, aber Charity sah die verzweifelte Hoffnung in seinen Augen. Auch sie schwieg, und ihr Kopfschütteln war nur angedeutet. Trotzdem wandte sich Kent mit einem Ruck um. Dort drüben lebte niemand mehr. Selbst, wenn ein paar von Kents Freunden den Angriff des Megamannes überlebt haben sollten - den Hagel aus Laserschüssen und Bomben, den Daniels Drohnen seit gut zwanzig Minuten auf die Anlage abfeuerten, konnte niemand überstehen.

Sie hatten wieder einmal Glück gehabt, überlegte Charity. Sie waren knapp zwei Meilen vom getarnten Eingang der unterirdischen Anlage entfernt gewesen, als die ersten Flugscheiben am Himmel auftauchten; und wahrscheinlich verdankten sie es nur der Programmierung der robotgesteuerten Drohnen, daß sie überhaupt noch lebten. In den ersten fünf Minuten hatten die Drohnen die geheime Basis der Rebellen nach allen Regeln der Kunst zusammengebombt. Erst danach waren sie ausgeschwärmt, um auch die nähere Umgebung nach Überlebenden abzusuchen. Hätten sie sofort mit einem Flächenbombardement begonnen, hätten sie keine Chance gehabt.

Charity tastete nach der Wasserflasche an ihrem Gürtel. Ihre Kehle brannte von der trockenen Hitze, die sie eingeatmet hatte. Aber sie widerstand der Versuchung zu trinken. Keiner von ihnen konnte voraussagen, wie lange sie in diesem Versteck bleiben mußten oder wann sie wieder Wasser fanden.

»Sieht so aus, als hätten wir den Burschen ein bißchen zu spät erledigt«, sagte Gurk plötzlich.

Skudder und Lydia reagierten überhaupt nicht. Kent sah den Gnom aus brennenden Augen an, während Charity einen Moment brauchte, um zu begreifen, was er damit meinte.

»Den Megamann?«

Gurk nickte. »Er muß gemeldet haben, wo das Rebellenversteck liegt.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Skudder plötzlich.

»Wieso?« Kents Stimme klang scharf, fast feindselig, aber der hochgewachsene Hopi-Indianer ließ sich davon nicht im geringsten beeindrucken.

»Weil sie dann schon viel früher zugeschlagen hätten«, antwortete er ungerührt. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf das Inferno, in das die Drohnen das Rebellenversteck verwandelt hatten. »Wenn ihr mich fragt, dann haben sie schon immer gewußt, wo dieses Versteck liegt.«

»Was für ein Unsinn!« protestierte Kent. Er schrie fast. Seine Hände zitterten. Skudder wollte etwas erwidern, aber Charity warf ihm einen raschen, beschwörenden Blick zu und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Skudder verstand und schwieg.

Dabei wußten sie alle - Kent eingeschlossen -, daß Skudder nur zu recht hatte. Wahrscheinlich ging auf diesem Planeten so gut wie nichts vor sich, von dem die Invasoren nicht wußten. Aber bisher waren Kents Rebellen keine Gefahr gewesen, ganz einfach, weil sie keine wirklichen Rebellen gewesen waren, sondern im Grunde nur große Kinder, die ein bißchen Krieg spielten, es aber nicht wagten, wirklich etwas zu unternehmen.

Dafür sorgte schon die Regel der Hundert, dachte Charity bitter. Vielleicht war das, was sie gerade erlebten, die Antwort auf Angellicas Tod.

Und als hätte er ihre Gedanken gelesen, wandte Kent den Kopf und starrte Lydia an. »Das ... das ist deine Schuld«, sagte er. »Das wäre nicht passiert, wenn du nicht ...«

»Das reicht«, unterbrach ihn Charity scharf. Kent wollte auffahren, aber sie blickte ihn so wütend an, daß er verstummte.

»Es spielt wirklich keine Rolle, warum sie es tun«, sagte sie bestimmt. »Wenn wir jetzt anfangen, uns gegenseitig fertigzumachen, dann hat Daniel schon gewonnen.«

»Das hat er doch sowieso schon!« schnappte Kent. »Verdammt, was glaubst du, wie lange wir noch leben? Wo willst du denn hin?« Er deutete auf die brennende Ebene dicht vor ihnen, fuhr hoch und stieß sich schmerzhaft den Kopf an den Felsen über sich. Aber er verzog nicht einmal das Gesicht. »Was denkst du, wie weit wir kommen, zu Fuß und ohne Wasser? In die Stadt können wir nicht zurück, und durch die Wüste sind es zweihundert Meilen bis zum nächsten Ort! Ganz davon abgesehen, daß es spätestens morgen früh hier von Reitern wimmeln wird.«

Charity sah ihn gleichermaßen erschrocken wie fragend an, und auf Kents Gesicht breitete sich ein triumphierendes, böses Grinsen aus.

»Er hat recht«, sagte Lydia. Es waren die ersten Worte, die sie seit Stunden sprach. Charity hatte nicht geglaubt, daß Lydia überhaupt registrierte, was rings um sie herum vor sich ging. »Sie kommen immer, wenn die Drohnen irgend etwas angegriffen haben.«

»Ein Grund mehr, von hier zu verschwinden«, sagte Gurk.

»Und wie?« Skudder deutete zornig auf die rasenden Schemen am Himmel. Das Feuer ließ allmählich nach, aber immer wieder stieß einer der kleinen runden Gleiter auf die brennenden Ruinen oder auch auf die Wüste herab und gab eine kurze Salve aus seinen Lasern ab. »Die Dinger schießen auf alles, was sich bewegt!«

»Es sind nur vier Stück«, antwortete Gurk patzig. »Wir könnten sie abschießen!«

»Damit fünf Minuten später vierhundert von ihnen hier auftauchen, ja?« sagte Skudder. »Du bist ja verrückt, Zwerg!«

»Hast du vielleicht eine bessere Idee, Bohnenstange?« gab Gurk giftig zurück.

»Hört auf, euch zu streiten«, befahl Charity knapp. Sie konnten nicht hier bleiben und einfach abwarten, was geschah. Aber sie konnten auch nicht weg. Selbst, wenn sie es gegen jede Logik schaffen sollten, den Drohnen zu entkommen - es gab nichts, wohin sie fliehen konnten.

Das hieß - fast nichts, dachte Charity.

Ihr Blick suchte den verschwommenen Schatten des Shaitaan. Das titanische Bauwerk war viel zu weit entfernt, um in der Nacht noch sichtbar zu sein, aber dann und wann brach sich ein Lichtreflex auf den metallenen Türmen, so daß sie wie Schemen aus dem Nichts auftauchten und wieder verschwanden. Charity versuchte die Entfernung bis zum Bauwerk zu schätzen. Es gelang ihr nicht. Es konnten fünf Meilen sein, ebenso gut aber auch fünfzig. Sie wußte ja nicht einmal, wie groß dieses Monstrum von Gebäude war.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte Gurk plötzlich. Charity sah auf und wurde sich erst jetzt der Tatsache bewußt, daß nicht nur Gurk, sondern auch die drei anderen sie anstarrten. »Es ist unmöglich.«

»Das ist es nicht«, sagte Lydia. »Es sind nur vier oder fünf Meilen bis zum Rand der Todeszone. Wenn wir es bis dahin schaffen, können wir einen Gleiter herbeirufen.«

»Ah ja«, sagte Gurk spöttisch. »Und dann?«

»Es gibt kaum Wachen im Shaitaan«, antwortete Lydia. »Es ist ein heiliger Ort. Niemand würde es wagen, ihn zu freveln.«

»Und dann?« sagte Gurk spöttisch. »Wollen wir zu fünft das Shaitaan stürmen und eine eigene Republik ausrufen?«

»Unsinn«, antwortete Charity scharf. »Ich habe nicht vor, in dieses Ding zu gehen.« Ihre Hand tastete nach dem Anhänger an ihrem Hals. »Aber vielleicht können wir einen der Gleiter kapern. Die Dinger sind schnell. Ehe sie merken, was wir tun, sind wir schon hundert Meilen entfernt.«

»Oder in Atome zerschossen«, fügte Gurk hinzu. »Wir ...«

»Kannst du so ein Ding fliegen oder nicht?« unterbrach in Charity.

Gurk zögerte. Vor ein paar Stunden, überlegte Charity, hätte er wahrscheinlich noch nein gesagt. Aber seit dem Zwischenfall in Angellicas Wohnung wußten sie alle, daß er weitaus mehr von der Technik der Invasoren verstand, als er zugegeben hatte. Nach ein paar Sekunden nickte er widerwillig.

»Wir brauchen ein Kind«, sagte Lydia plötzlich.

»Ein Kind?« wiederholte Charity überrascht.

»Es ist die Aufgabe der Priesterinnen, Kinder in den Tempel zu bringen«, erinnerte Lydia. »Und der einzige Grund, aus dem selbst sie das Shaitaan betreten dürfen.«

»Wo zum Teufel sollen wir jetzt ein Kind herbekommen?« fragte Charity. »Sollen wir vielleicht eins stehlen?«

»Ein Säugling wäre ideal«, erwiderte Lydia. »Aber manchmal nehmen sie auch ältere Kinder. Nicht oft, aber es kommt vor.«

Charity blinzelte verständnislos - und dann lächelte sie plötzlich, als ihr Blick dem Lydias folgte.

»O nein«, sagte Gurk. »Bestimmt nicht!«

Charity Lächeln wurde noch ein wenig breiter, und plötzlich begann auch Skudder zu grinsen, und Gurk sagte noch einmal und noch energischer:

»Ganz bestimmt nicht!«


Irgendwann, tief in der Nacht, öffnete der Megamann die Augen und richtete sich auf. Schmerz war in ihm, ein abgrundtiefer Schmerz. Fast wäre er vernichtet worden. Doch er lebte. Seine Augen funktionierten noch, seine Arme, seine Beine. Dumpf spürte er, wie die Kraft in seinen geschundenen Körper zurückfloß. Er hatte eine Aufgabe, daran erinnerte er sich wieder mit Deutlichkeit. Er mußte Charity Laird finden und stellen. Nichts sonst zählte. Er machte einen Schritt und dann wieder einen. Die Schmerzen in ihm wallten zurück. Er würde sie finden - und wenn es ihn sein Leben kostete, aber noch durfte er nicht sterben.

Kyle sah, wo er sich befand. In der Wüste, Dunkelheit und Schwärze um ihn, und doch mußte es Spuren geben, und er würde sie finden. Charity Laird mußte glauben, daß er tot sei. Vielleicht würde sie unvorsichtig und leichtsinnig werden. Dann würde er um so eher zuschlagen können.


»Das ist völliger Irrsinn!« kreischte Gurk. »Sie werden keine zehn Sekunden darauf hereinfallen!«

»Das brauchen sie auch nicht«, antwortete Charity. »Es reicht völlig, wenn sie das Ding landen. Alles andere erledigen wir damit.« Sie ließ die Hand auf die Waffe an ihrer Seite fallen und lächelte so zuversichtlich, wie sie nur konnte. Ihr Plan wies ungefähr so viele Löcher auf wie ein Fischernetz. Gurk hatte völlig recht - was war Wahnsinn. Aber sie hatten keine andere Wahl mehr.

Gurks Antwort drang nur unverständlich unter dem gewaltigen Strohhut hervor, den sie ihm aufgesetzt hatten, um seinen Riesenschädel wenigstens notdürftig zu verbergen. Der Gnom wäre wahrscheinlich noch viel wütender gewesen, hätte er auch nur geahnt, wie lächerlich er in der Verkleidung aussah, die Charity und Net aus Resten von Angellicas Kleidungsstücken zusammengebastelt hatten. Selbst Charity mußte mit Gewalt ein Grinsen unterdrücken. Sie konnte nur hoffen, daß Lydia recht hatte und sich an Bord des Gleiters, der sie abholen würde, wirklich keine Menschen befanden. Ein Insektenkrieger von Moron würde vielleicht auf die Verkleidung hereinfallen. Ein Mensch nicht.

»Okay«, sagte sie. »Geht in Deckung.«

Net, Kent und Skudder verschwanden wortlos zwischen den Felsen, während Lydia neben Gurk Aufstellung nahm und nach seiner Hand griff. Sie trug jetzt die gleiche Art von Kleidung wie Charity - ein buntbesticktes, rot und schwarz und golden glitzerndes Gewand, das ihre Gestalt bis zu den Knöcheln verbarg. Ihr Gesicht lag im Schatten einer spitzen Kapuze, und ihre Hände steckten in ellbogenlangen Handschuhen aus einem feinen Goldgewebe. Es war eines der beiden Zeremoniengewänder, die sie aus Angellicas Kleiderschrank mitgenommen hatten, so wie auch die beiden armlangen Stäbe aus goldglänzendem Metall zur Ausrüstung der Shai-Priesterin gehört hatten.

Charity fühlte sich nicht wohl in dieser Kleidung. Sie kam sich auf ihre Weise ebenso lächerlich vor wie Gurk. Aber sie glaubte mittlerweile zu begreifen, warum die Kleider und Uniformen, die die Invasoren ihren menschlichen Hilfstruppen zur Verfügung stellten, allesamt aussahen, als stammten sie aus einem billigen Science-Fiction-Film der sechziger Jahre: weil sie genau daher kamen. Schwarzes Lackleder und Roben aus Gold - primitiv, aber eindrucksvoll. Lieutenant Stone war wirklich ein guter Ratgeber gewesen.

Fast widerwillig griff sie nach Gurks anderer Hand und hielt sie fest, wodurch er nun vollends wie ein Kind aussah, das die beiden Frauen zwischen sich führten. Mit der anderen Hand tastete sie nach dem schweren goldglänzenden Anhänger an ihrem Hals, zögerte noch eine Sekunde - und drückte entschlossen auf den Edelstein, der darin eingelassen war. Sie spürte, wie der künstliche Rubin ein wenig nachgab und fühlbar einrastete. Irgendwo dort drüben in dem bizarren Gebäude würde jetzt eine Lampe aufleuchten.

Die Zeit schien stehenzubleiben. Lydia hatte ihr gesagt, daß es nicht lange dauern würde - eine kleine Flotte von Gleitern stand immer bereit, um auf den Ruf einer Shai-Priesterin zu reagieren -, und für die fliegenden Scheiben waren die fünf Meilen über die Todeszone nur ein Katzensprung. Aber Zeit war relativ, und Charity schössen allein in den nächsten zwei Minuten mindestens zweihundert Gründe durch den Kopf, aus denen ihr Plan gar nicht funktionieren konnte. Aber es gab jetzt kein Zurück mehr.

»Sie kommen«, sagte Gurk plötzlich.

Charity sah auf, aber es dauerte noch Sekunden, bis auch sie den winzigen blitzenden Punkt gewahrte, der sich von einem der Spiraltürme gelöst hatte und sich in ihre Richtung bewegte. Ihr Herz schlug schneller.

»Das ist jetzt die letzte Chance«, maulte Gurk. »Noch können wir abhauen. Wenn ihr vernünftig seid, dann ...«

»Halt die Klappe«, unterbrach ihn Charity.

»Hmpf!« machte Gurk, schwieg aber gehorsam.

Der Gleiter kam rasend schnell näher. Wie fast alle Fahrzeuge der Invasoren glich er einer Scheibe, aber er war größer als die meisten Gleiter, und über seine Basis zog sich ein goldglänzender, gezackter Kamm, rechts und links davon befanden sich zwei Sichtluken aus geschwärztem Glas. Auf den ersten Blick sah das Ding aus wie der Schädel eines stählernen Drachen.

Der Gleiter wurde langsamer und schien zur Landung anzusetzen, schwenkte aber dann plötzlich ab und flog einen weit ausholenden, niedrigen Kreis über den Felsen. Charity fuhr erschrocken zusammen.

»Was tut er da?« flüsterte sie.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Lydia ebenso leise. »Normalerweise landen sie sofort.«

»Er sucht eine gute Schußposition«, giftete Gurk. »Ich habe doch gleich gesagt, das ist Irrsinn!«

Wahrscheinlich hatte er sogar recht, dachte Charity. Aber wenn, dann kam diese Einsicht ein wenig zu spät.

Die Flugscheibe hatte ihren Kreis vollendet und begann jetzt langsam zu sinken. Charity sah eine flüchtige Bewegung hinter den abgedunkelten Scheiben, und fast im gleichen Moment fielen ihr auch die beiden kurzen, in mattschimmernden Kristallen endenden Rohre auf, die rechts und links auf der Flug-Scheibe zu sehen waren. Der Gleiter war mit gefährlichen Waffen ausgerüstet.

Mit schier unerträglicher Langsamkeit sank der Gleiter tiefer. Seine abgeflachte Unterseite berührte den Boden. Sand wirbelte auf. Charity griff instinktiv nach ihrer Kapuze, und auch Gurk riß seine Hand los und hielt hastig seinen Strohhut fest. Ein Kind mit dem Gesicht eines Hundertjährigen hätte wohl nicht einmal einen Moroni überzeugt.

Als sich der Sturm legte, war die Scheibe gelandet. Eine schmale Tür öffnete sich summend, und die bizarre Gestalt einer Ameise erschien in der Öffnung. Sie machte keine Anstalten, aus dem Gefährt herauszukommen.

»Los«, flüsterte Lydia. »Ihr tut nichts. Kommt einfach mit.«

»Wahnsinn«, flüsterte Gurk. »Das ist das ...«

Charity verstärkte den Druck ihrer Hand auf Gurks Finger ein wenig, und der Rest dessen, was Gurk hatte sagen wollen, ging in einem schmerzhaften Stöhnen unter.

Die Ameise trat ein Stück beiseite, um sie eintreten zu lassen, aber Charity glaubte das Mißtrauen in ihren schimmernden Facettenaugen fast körperlich zu spüren. Es konnte einfach nicht gutgehen.

Und natürlich ging es auch nicht gut.

Die Kreatur ließ Lydia anstandslos passieren, aber als Gurk den Gleiter betreten wollte, hob sie zwei ihrer vier Arme und machte eine abgehackte, befehlende Geste. Der dritte Arm hing lose an seiner Seite, während sich seine vierte Hand wie zufällig dem Griff einer der vier Strahlenwaffen näherte, die in seinem Gürtel steckten. Ein pfeifender, klackender Laut erscholl.

»Was will er?« fragte Charity.

Lydia antwortete mit einem Geräusch, das dem der Ameise ähnelte, ehe sie sich zu Charity umwandte. »Er fragt, wer das ist«, sagte sie. »Ich glaube, er will sein Gesicht sehen.«

»Das habe ich befürchtet«, sagte Charity seufzend. »Sag ihm, ich hätte eine Sondervollmacht.«

Lydia blickte sie überrascht an, drehte sich aber gehorsam zu dem Moroni um und gab wieder eine Reihe dieser unverständlichen, pfeifenden Laute von sich. Ganz am Rande ihres Bewußtseins nahm sich Charity vor, Lydia zu fragen, wieso sie die Sprache der Invasoren beherrschte.

»Er will ihn sehen«, sagte Lydia.

»Sicherlich. Einen Augenblick, bitte.« Charity ließ Gurks Hand los, griff unter ihr Gewand und zog die Mini-MP aus dem Halfter. Sie beging nicht den Fehler, die Waffe unter der Robe hervorzuziehen, denn sie wußte, wie irrsinnig schnell die Vierarmigen waren.

»Warte«, sagte Lydia plötzlich. »Du ...«

Charity drückte ab. In der rechten Seite ihres goldenen Gewandes entstand ein Dutzend rauchender winziger Löcher mit verkohlten Rädern, und im gleichen Sekundenbruchteil schlugen Funken aus dem Brustpanzer des Vierarmigen. Die Kreatur kreischte vor Schrecken und Schmerz, torkelte mit einer grotesken Bewegung zurück und prallte gegen die Wand. Gurk sprang mit einem kreischenden Schrei zur Seite und duckte sich, als einige der Geschosse als heulende Querschläger von den Wänden abprallten.

Charity zog in aller Ruhe ihre Waffe unter dem Gewand hervor und beugte sich über den Insektenkrieger.

»Paß auf!« schrie Lydia. »Da ist noch einer!«

Eine schwarze Gestalt erschien in der Schleusentür, und ein schrilles, unglaublich durchdringendes Pfeifen erscholl. Instinktiv warf sie sich zur Seite und versuchte ihre Waffe hochzureißen, aber diesmal kam ihre Bewegung zu spät.

Der Vierarmige versuchte nicht, auf sie zu schießen. Wahrscheinlich wußte er, daß er sich selbst umgebracht hätte, hätte er in dem winzigen Raum eine Energiewaffe abgefeuert. Statt dessen warf er sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf sie.

Charity hatte das Gefühl, von einer Dampfwalze getroffen zu werden. Der Moroni war zwei Köpfe größer als sie und dabei so spindeldürr, daß er schon fast wieder lächerlich aussah - aber in seinen wirbelnden Spinnengliedern steckte die fürchterliche Kraft eines Insekts. Ihr Arm wurde zur Seite geschleudert. Die MP flog davon und prallte klirrend gegen die Wand, und dann schlössen sich die vier Arme des Ameisenkriegers mit unvorstellbarer Kraft um ihren Körper, um sie zu zerquetschen.

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