18

Der erste Tag des praktischen Seminars wurde traditionsgemäß am Strand von Bowmont zugebracht. Und obwohl sie alle hart daran arbeiteten, sich die Technik der Probenentnahme zu eigen zu machen, die sie brauchten, um hieb- und stichfeste Beobachtungen zu machen, herrschte unter den Studenten eine Art Feiertagsstimmung. Dies war zwar wissenschaftliche Arbeit, aber es war zugleich auch ein herrlicher Urlaub am Meer, und die erfahrenen Dozenten versuchten gar nicht, ihr Vergnügen zu dämpfen. Ja, Dr. Fetton sah, wie er da in den Tümpeln fischte, selbst aus wie ein Schuljunge in den Ferien – und Elke Sonderstrom, die in Shorts und einem etwas zu knappen, mit Rentieren bedruckten Pullover am Strand auf und ab spazierte, war ein Anblick, der die Götter selbst erquickt hätte.

Gut so, denn Ruths Verzückung angesichts der Küste Northumberlands dauerte an. Sie wußte, daß solcher Überschwang nicht der britischen Art entsprach, aber dieser Zustand der Ekstase war, so sehr sie sich auch bemühte, nicht unter Kontrolle zu bringen. Er überwältigte sie, wenn sie sah, wie eine Welle sich zum Licht emporschwang, als wollte sie zum Spiegel des Himmels werden; er packte sie mit dem blendend weißen Glanz einer Möwenschwinge; er drang durch ihre bloßen Füße in sie ein, wenn sie dem Wellengekräusel im Sand folgte. Sie füllte ihre Taschen mit Muscheln, und als die Taschen voll waren, holte sie ihren Toilettenbeutel und füllte den.

Und sie suchte im Sand nach Strandgut ...

«Schaut doch mal! Schaut doch!» rief sie alle zehn Minuten, und dann mußte der, welcher ihr gerade am nächsten war, hingehen und den Fund begutachten, zweifellos die Planke einer gesunkenen spanischen Galeone oder eine Kokosnuß von den fernen Westindischen Inseln. Dr. Felton mochte vorsichtig auf die Worte «Bentham & Sohn, Installateure» hinweisen, die sich auf der Rückseite der Planke befanden und die Theorie von der Galeone höchst unwahrscheinlich machten; Janet mochte die Kokosnuß umdrehen und den Stempel eines Obsthändlers aus Newcastle zeigen – für Ruth spielte das keine Rolle. Ihr nächster Fund war genauso geheimnisvoll und magisch wie der vorangegangene.

Verenas Zugang zu den Wonnen des Meeresstrands war anderer Art. Sie war nach dem Frühstück in einem weißen Seemannspulli erschienen, so blütenweiß wie ihre Laborkittel, und wanderte jetzt, begleitet von Kenneth Easton, der den Inhalt ihres Netzes so bereitwillig in Empfang nahm wie einst den Inhalt ihres Magens, unbeirrt von Felstümpel zu Felstümpel.

«Sollte das eine Wandermuschel sein?» sagte sie, zu Dr. Felton gewandt, jedoch mit einem Seitenblick auf Quin Somerville.

Roger Felton sah sich das Tier an, das sie von einem Felsbrocken abgezogen hatte, und stimmte zu, worauf Kenneth in einem Anfall spontaner Bewunderung rief: «Wirklich, Verena, bei den Zweischaligen bist du genial.»

Aber Verena war nicht nur bei den Zweischaligen genial. Die anderen Studenten waren schon froh, wenn sie eine Napfschnecke erkannten; Verena konnte ohne Mühe zwischen einer flachen Tellerschnecke und einer gegliederten Tellerschnecke unterschei den; sie kannte ein ganzes Arsenal von Wasserschnecken: darunter Sumpfschlammschnecken und Ohrschlammschnecken; sie wußte, daß es von dem tapferen immergrünen Felsblümchen, das an den höheren Felsen ein karges Leben fristete, eine glattblättrige und eine rauhblättrige Art gab.

In dieser Welt jedoch, die einen von aller Kleinlichkeit reinigte, ging Ruth nicht, wie sie das in London getan hätte, zu den Nachschlagewerken im Labor, um nach Muscheln zu suchen, die von noch ausgefallenerer Art waren, oder um einen Borstenwurm zu entdecken, der noch borstiger war als der, den Verena mit ihrer Schaufel aus dem Sand geholt hatte. Sie wollte nicht über Muscheln nachlesen, sie wollte die Schalen in ihrer Hand halten und ihre feine Zeichnung bewundern. Sie verspürte keinen Drang, sich hervorzutun, andere zu übertreffen; sie vergaß selbst ihre ausgeklügelten Manöver, Quin Somerville aus dem Weg zu gehen – und lief mit dem kostbarsten Fund, den sie an diesem ersten Morgen machte, zu ihm.

«Schauen Sie!» rief sie zum hundertsten Mal. «Schauen Sie, Smaragde!»

Er hielt ihr beide Hände hin, und sie schüttete die glatten grünen Steine in sie hinein.

«Könnten es wirklich Smaragde sein?» fragte sie. «Meine Großtante hatte ein Smaragdarmband, und die Steine sahen genauso aus.»

Er lachte sie nicht aus. Es gab Halbedelsteine an dieser Küste: Karneol, Achat, Amethyst. Sachte und behutsam holte er sie aus ihrem Traum zurück, indem er sagte: «Das kann nur das Meer – Steine zu solcher Glätte und Vollendung schleifen. Man könnte den besten Juwelier der Welt beauftragen und ihm ein ganzes Jahr Zeit geben, er würde dieser Vollkommenheit nicht einmal nahekommen.»

Er nahm einen der Steine und hielt ihn ans Licht, und als sie näher kam, um ihn zu betrachten, dachte er, wie gut Smaragde sich zu ihren dunklen Augen und dem lohfarbenen Haar ausnehmen würden.

Doch nun erschien Verena, die sich nie weit von Quin aufhielt, an ihrer Seite. «Du meine Güte, Ruth!» rief sie mit einem kurzen Blick aus zusammengekniffenen Augen. «Das sind doch bloß Flaschenscherben – das mußt du doch gesehen haben. Auch in Wien wird es wohl Flaschen geben.»

Sie sah Quin an, um mit ihm zusammen über Ruths Dummheit zu lachen – aber er hatte sich abgewandt und legte die Steine so sorgsam wieder in Ruths geöffnete Hände, als handelte es sich wirklich um kostbare Edelsteine.

«Flaschen können eine große Bedeutung haben», sagte er, ihr in die Augen sehend. «Das brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen.»

Sie lächelte errötend und ging weg, glücklich darüber, daß er sich erinnerte, was sie ihm damals an der Donau erzählt hatte.

Um die Mittagszeit kam Verena zu Quin und sagte: «Sollten wir nicht zum Haus hinaufgehen? Soviel ich weiß, gibt es um ein Uhr Mittagessen.»

Sie bekam eine Abfuhr.

«Ja, ja, gehen Sie nur hinauf. Meine Tante legt Wert auf Pünktlichkeit. Ich bleibe hier unten – ich lasse das Mittagessen meistens ausfallen.»

Die Bemerkung löste bei Elke Sonderstrom beträchtliche Erheiterung aus; sie hatte mit Quins angeblicher Gewohnheit, das Mittagessen ausfallen zu lassen, ihre eigenen Erfahrungen gemacht. Jetzt holte sie sich zwei Mädchen als Hilfen und kehrte mit ihnen zum Bootshaus zurück, wo sie eine Kette Würstchen auspackte, die Pilly sogleich mit erstaunlichem Geschick in der Pfanne zu braten begann.

«Wieso hast du vor Würsten keine Angst?» fragte Janet, als Pilly die bruzzelnden, fettspeienden Dinger routiniert wendete. «Die sind doch viel gefährlicher als unsere Versuche.»

«Würstebraten muß ich nicht erst lernen», antwortete Pilly.

Aber am Nachmittag spielte sich Verena wieder in den Vordergrund. Quin fuhr jeweils mit einer Ladung Studenten in die Bucht hinaus, um ihnen zu zeigen, wie man nach Plankton dreggte, und Verena, die in Indien gesegelt war und bei der Regatta von Cowes der Crew ihres Vetters angehört hatte, war in ihrem Element. Sie brauchte nur einmal kurz an der Reißleine des Außenbordmotors zu ziehen, und schon sprang er knatternd an; sie wußte genau, wie man mit Segeln umging, sie ruderte wie eine Amazone, so daß es ganz natürlich war, daß sie an der Seite des Professors blieb, um zu helfen, während die anderen Studenten die Plätze wechselten.

Da sie sich ihrer Position so sicher war, konnte sie ihren Kommilitonen gegenüber um so großzügiger sein; sie half ihnen ins Boot und gab ihnen Tips, wie sie sich im Boot zu verhalten hatten, so daß Quin sich einzig darum zu kümmern brauchte, ihnen den richtigen Umgang mit den Netzen zu zeigen. Erst als Ruth ins Boot stieg und sich erbot, ein Ruder zu übernehmen, vergaß Verena ihre Hochherzigkeit.

«Kannst du überhaupt rudern?» fragte sie hochnäsig. «Ich kann mir nicht vorstellen, daß in Wien viel Wassersport getrieben wird.»

Ruth verkniff sich jedes Wort, obwohl Verena ein mörderisches Tempo vorlegte. Sie war ganz beseelt von einem neuen und noblen Entschluß, den sie noch am selben Abend ihren Freunden mitteilte.

«Ich habe beschlossen», verkündete sie, «Verena Plackett von jetzt an zu lieben.»

Die Studenten saßen am offenen Lagerfeuer und brieten Kartoffeln. Die dramatische Kulisse von Meer und Mondschein entsprach ganz Ruths erhabener Stimmung. Nur Kenneth Easton fehlte. Er hatte sich zurückgezogen; zu schwer war es ihm geworden, mitansehen zu müssen, wie Verena zum Abendessen mit dem Professor zum Haus hinaufgegangen war. Kenneth hatte in dem Spiegelscherben, den die Studenten zum Rasieren benutzten, eingehend sein Gesicht studiert und dabei festgestellt, wieviel regelmäßiger seine Gesichtszüge waren als die des Professors, wieviel gerader seine Nase. Und doch war klar, daß Verena den Professor bevorzugte. Allein jetzt und voller Melancholie blickte er zu den erleuchteten Fenstern von Bowmont hinauf und seufzte tief.

«Wirklich», beteuerte Ruth, als ihre Freunde sie ungläubig anstarrten. «Es ist mir ernst.»

«Du bist ja verrückt», stellte Janet fest und spießte eine weitere Kartoffel auf. «Total plemplem. Verena ist doch ein einziger Graus.»

«Ja, das weiß ich», bestätigte Ruth. «Darum hat es überhaupt keinen Sinn sich zu bemühen, sie zu mögen. Das hieße, das Unmögliche versuchen. Aber meine Eltern hatten in Wien einen Freund, einen alten Philosophen, der uns oft besuchte und der immer sagte: »

«Das versteh' ich nicht», bekannte Pilly bekümmert – und ein magerer Junge mit Brille sagte, ihm ginge es genauso.

«Na ja, es heißt, wenn man jemand nicht mögen kann, dann kann man ihn ganz tief drinnen dennoch lieben», erklärte Ruth. «Ja, je weniger man jemanden leiden mag, desto wichtiger ist es, daß man ihn liebt. Man muß ihn lieben, als wäre er der eigene Bruder oder die eigene Schwester – als Geschöpf dieser Welt eben. Als Mitsünder.» In ihrer Aufregung ließ Ruth ihre Kartoffel in den Sand fallen.

Sam sagte, obwohl er wußte, daß eine solche Bemerkung zu einem edlen Ritter nicht paßte, sie quassle Unsinn, und Janet erklärte, Sünder seien im Vergleich zu Verena die reinsten Kuscheltiere. «Sünder sind wenigstens menschlich», stellte sie fest.

Nichts jedoch konnte Ruth von ihrem noblen Entschluß abbringen, und sie zitierte zur Bekräftigung noch einen weisen Europäer, Dr. Freud nämlich, der gesagt hatte, liebenswert könne eine Sache erst werden, wenn sie geliebt werde. «Ihr werdet schon sehen», sagte sie. «Ich fange gleich morgen an, wenn wir nach Howcroft fahren. Den ganzen Tag werde ich sie lieben.»


«Barker hat ihn also genommen?» fragte Frances Somerville am nächsten Morgen, als sie der eben aus dem Dorf zurückkehrenden Martha begegnete. «Er ist einverstanden, ja?»

Das Hündchen war noch vor dem Frühstück zum Dorfzimmermann gebracht worden. Doch jetzt schüttelte Martha den Kopf. «Nein, er hat ihn nicht genommen. Er will ihn nicht haben.»

«Wie bitte? Er will ihn nicht haben?» Frances war fassungslos. «Hast du ihn darauf hingewiesen, daß er mit seiner Arbeit an den Kirchenstühlen zwei Monate im Rückstand ist?»

«O ja. Er hat gesagt, daß seine Frau Asthma hat, außerdem erwartet sie ein Kind, und der Arzt hat gesagt, keine behaarten Tiere!»

«Ich muß sagen, ich finde das sehr sonderbar. Früher hätten solche Leute von Asthma nicht einmal gehört gehabt. Man muß sich wirklich fragen, ob die allgemeine Schulbildung so vorteilhaft ist.» Sie bückte sich nach ihrer kleinen Gartenschaufel. «Und wo ist er jetzt?»

«Er hat mir angeboten, ihn zu erschießen», berichtete Martha. «Er hat gesagt, er würde überhaupt nichts spüren. Vorstellen kann ich's mir; er hat ja in seiner Jugend genug gewildert, Barker, meine ich. Der könnte einen Hasen auf fünfzig Meter schießen.»

Frances richtete sich auf. Ihr Gesicht war ausdruckslos. «Und du hast zugestimmt? Er hat ihn erschossen?»

«Nein», entgegnete Martha kurz und sah, wie die Hand ihrer Herrin, die die Schaufel hielt, sich entspannte. «Wenn man die Jungen gleich nach der Geburt, noch ehe sie die Augen aufgemacht haben, ertränkt, ist das vielleicht in Ordnung; aber sie kaltblütig erschießen – das ist was ganz anderes. Wenn Sie den Hund erschießen lassen wollen, müssen Sie den Befehl schon selber geben.»

«Wo ist er denn jetzt?»

«Eine von den Studentinnen hat ihn mitgenommen. Ich hab sie getroffen, als sie raufkam, um die Milch zu holen. Sie hat gesagt, sie behält ihn bei sich. Die ganze Korona fährt heute nach Howcroft, und ich hab mir gedacht, da Lady Plackett das Hündchen sowieso nicht besonders mag und außerdem Besuch kommt, ist das eine gute Lösung.»

Frances nickte. Die Rothleys und die Stanton-Derbys wollten abends zum Cocktail kommen, um Verena kennenzulernen, und sie war auf weitere scherzhafte Bemerkungen über das Hündchen nicht erpicht. Als sie über den Rasen davongehen wollte, fragte Martha unvermittelt: «Wer ist eigentlich dieser Richard Wagner? Ein Musiker?»

«Er war ein Komponist. Ein sehr geräuschvoller Komponist mit einem bedauerlichen Privatleben. Warum?»

«Dieses Mädchen – die Studentin, die das Hündchen mitgenommen hat – sie hat gesagt, er hätte eine Stieftochter mit solchen Augen gehabt – dieser Wagner. Eines blau, das andere braun, genau wie das Hündchen. Sie hieß Daniella.»

«Die Studentin?»

«Nein, die Stieftochter.»

Frances hielt es für klüger, die Sache nicht weiterzuverfolgen, und schlug den Weg zum Garten ein.


Ruth war mittlerweile im Bootshaus angekommen.

«Was ist denn das?» fragte Elke Sonderstrom, als sie Comelys Kind der Liebe sah, das mit tolpatschigem Enthusiasmus über ihre Füße hopste.

«Es ist ein Mischling», gestand Ruth.

Das könne sie sehen, meinte Elke und entzog dem eifrig knabbernden Hündchen ihren Schuh.

«Aber ein richtiges kleines Temperamentsbündel», fügte Ruth hinzu. «Wenn auch nicht gerade eine Schönheit.»

«Nein, das bestimmt nicht.»

«Voltaire war auch nicht schön», erzählte Ruth, «aber er pflegte zu sagen, wenn man ihm eine halbe Stunde Zeit gäbe, sein Gesicht durch Gespräche vergessen zu machen, dann könnte er selbst die Königin von Frankreich verführen.»

«In diesem Fall hier wäre aber mehr als eine halbe Stunde nötig», sagte Elke und bat Ruth, ihr die Hämmer zu reichen, die sie für die bevorstehende Exkursion auf ihre Tauglichkeit prüfen wollte.

Ruth kam der Aufforderung nach und sagte nach einer kleinen Pause: «Ich habe mir gedacht, wir könnten den Kleinen doch im Bus mitnehmen. Martha hat gesagt, er fährt gern Auto und es wird ihm nie übel.»

«Fragen Sie den Professor», antwortete Elke und verschwand im Labor.

Da Quin gerade in diesem Moment den Weg herunterkam, lief Ruth ihm entgegen und wiederholte ihre Bitte.

«Er kann uns vielleicht nützlich sein», sagte sie.

«Ach ja?» Quin zog eine Augenbraue hoch. «Und inwiefern, wenn ich fragen darf?»

«Na ja, Hunde graben doch immer irgendwelche Knochen aus. Es könnte sein, daß er einen interessanten Fund macht. Den Oberschenkelknochen eines Torosaurus zum Beispiel.»

«Das wäre in den Kohleflözen wahrhaftig ein interessanter Fund», sagte Quin trocken. Doch als er Ruths Gesicht sah, ließ er sich erweichen. «Na schön, da oben im Hochmoor kann er nicht viel anstellen. Aber sorgen Sie dafür, daß er uns nicht in die Quere kommt.»

Als der Bus die Gesellschaft in Howcroft Point absetzte, hatte das Hündchen bereits eine Gefolgschaft um sich versammelt, um die Voltaire es beneidet hätte.

Es war wieder ein herrlicher Tag. Auf den Felsen wuchsen Ginster und Heidekraut, die Brachvögel riefen – aber jetzt mußte hart gearbeitet werden. In diesen kohlehaltigen Felsausläufer nämlich, der sich vom Hochmoor zum Meer hinauszog, waren jene Geschöpfe eingebettet, die für alles nachfolgende Leben auf der Erde bestimmend gewesen waren. Bruchstücke uralter Korallen, spiraliger Mollusken, jeweils für bestimmte geologische Schichten bezeichnend, mußten aus dem Felsen gehauen, etikettiert, eingesackt und ins Labor zurückgebracht werden. Und Ruth, so eifrig darauf bedacht, ein immer besserer Mensch zu werden, war vom Glück begünstigt: Der Gelegenheiten, Verena Plackett zu lieben, war kein Ende. Quin Somerville stets dicht auf den Fersen, bearbeitete sie den Fels zielstrebig mit ihrem funkelnagelneuen Hammer und hämmerte nicht nur ein versteinertes Exemplar der Familie caninia aus dem Stein, sondern auch eine Seelilie komplett mit Armen – und lachte jedesmal fröhlich, wenn Pilly ein Wort falsch aussprach.

Da Flut war, machten sie im Heidekraut über dem Strand Mittagspause, bei der das Hündchen mit belegten Broten gefüttert wurde, in Kaninchenlöchern stöberte und dann urplötzlich mitten auf Huws Sammelbeutel in tiefen Schlaf fiel. Die meisten der Studenten waren ebenfalls froh, alle viere von sich strecken zu können, aber Ruth kletterte lieber zur Höhe des Hügels hinauf, von wo sie einen weiten Blick über die Küste und die Hochmoore hatte, über denen noch ein erikafarbener Schimmer lag. Erst als ihr plötzlich feiner Tabakduft in die Nase wehte, merkte sie, daß sie nicht allein war.

«Beeindruckend, nicht?» sagte Quin mit einer ausholenden Geste zu den flach im Wasser liegenden Inseln im Süden und der zackigen Spitze des Howcroft Rock. «Es freut mich, daß Sie es in dieser Stimmung sehen – im Herbst und im Winter sind die Farben am schönsten.»

Sie nickte, ohne etwas zu sagen. Ein paar Minuten lang standen sie schweigend Seite an Seite und sahen zum tiefblauen Wasser hinunter, das sich weiß schäumend an den Felsen brach. Über ihnen rief ein Brachhuhn, und ein zarter Vanilleduft von einem spätblühenden Ginsterbusch zog durch die Luft.

«Als ich zum erstenmal hierher kam, war ich gerade zehn», sagte Quin. «Ich war von Bowmont aus geradelt. Mit meinem Hammer und meinem Fossilienbuch für Jungen. Ich fing an, ein bißchen am Stein herumzuklopfen – und plötzlich war sie da, eine vollkommene Zikade, so klar und unverwechselbar wie die Wahrheit selbst. Und da wußte ich plötzlich, daß ich unsterblich bin – daß ich, ich persönlich, das Rätsel des Universums lösen würde.»

«Ja, das kenne ich – dieses Gefühl, daß einem etwas bestimmt ist.»

«Bei Ihnen war das wohl die Musik», sagte er und wartete resigniert darauf, daß der allgegenwärtige Mozart mit Heini im Schlepptau wieder einmal seinen Auftritt machen würde.

«Ja. Das erstemal, als ich die Zillers spielen hörte. Aber ...» Sie schüttelte den Kopf. «Wissen Sie, den Grundlsee habe ich geliebt, wirklich geliebt, das Wasser, die Landschaft, die Beeren, die Blumen, aber wenn wir dorthin gefahren sind, war das immer noch Teil des Lebens, das ich gewöhnt war – mit denselben Menschen ... denselben Gesprächen ... über die Universität und die Psychoanalyse und so. Aber hier, dieser erste Morgen am Meer ... und jetzt auch noch ... ich weiß gar nicht, was geschehen ist.» Sie sah ihn an, und er gewahrte die Verwirrung in ihrem Gesicht. «Ich habe ein Gefühl, als würde ich mein Leben lang nach diesem Ort hier Heimweh haben ... nach dem Meer. Aber wie ist das möglich? Was hat dieser Platz hier mit mir zu tun? Nach Wien habe ich Heimweh. Muß ich Heimweh haben.»

Er schwieg so lange, daß sie den Kopf drehte. Ihr schien, daß sein Gesicht sich verändert hatte – er sah jünger aus, verletzlicher, und als er sprach, tat er es nicht so ruhig und gelassen wie sonst.

«Ruth, wenn Sie es sich anders wünschten ... Wenn ...» Er brach ab. Ein Schatten hatte sich zwischen sie gedrängt. Groß und nicht zu ignorieren stand Verena Plackett vor ihnen.

«Könnten Sie mir hier einmal helfen, Professor», sagte sie. «Meiner Ansicht nach muß dies ein Armfüßler sein, aber ich bin mir nicht ganz sicher.»

Danach sprachen Ruth und Quin nicht mehr miteinander. Aber als er nach ihrer Heimkehr den Felspfad zum Haus hinaufstieg, hörte er hinter sich Schritte, und als er sich umdrehte, sah er, daß sie ihm nachkam, mit dem Hündchen in den Armen.

«Entschuldigen Sie, aber könnten Sie den Hund mit nach oben nehmen? Pilly wollte es eigentlich tun, aber sie muß jetzt kochen, und ich habe Martha versprochen, daß er bestimmt zurückkommt.»

«Warum bringen Sie ihn nicht selbst hinauf? Sie haben sich ja offensichtlich schon mit Martha angefreundet.»

«Nein.»

Er erinnerte sich an ihre Weigerung, zum Mittagessen zu kommen, und in der Absicht, sie zu necken, sagte er: «Irgendwann werden Sie sich das Haus aber einmal ansehen müssen. Denn wenn ich fallen sollte, ehe Mr. Proudfoot uns scheiden kann, wird Bowmont Ihnen gehören.»

Ihre Reaktion verblüffte ihn. Sie war zornig; ihr Gesicht verzerrt – beinahe erwartete er, daß sie mit dem Fuß aufstampfen würde.

«Wie können Sie sich unterstehen, so zu reden! Wie können Sie es wagen? Mr. Chamberlain hat gesagt, daß es keinen Krieg geben wird, er hat es versprochen – und selbst wenn es Krieg geben sollte, brauchen Sie überhaupt nicht an die Front. Es war ganz und gar nicht nötig, daß Sie da zur Marine hinaufgefahren sind, das haben alle gesagt. Sie könnten mit Ihrer wissenschaftlichen Arbeit viel mehr nützen. Sich freiwillig zu melden, war nichts als falsches Heldentum. Und dumm dazu.»

«Aber Ruth. Ich habe doch nur einen Scherz gemacht.»

«Genau die Art von Scherz, die man von einem Engländer erwarten kann. Scherze über Tod und Sterben.»

Sie stieß ihm das Hündchen in die Arme, machte kehrt und rannte den Hang hinunter.


«Als Frau stand mir dieser Sport leider nicht offen», sagte Verena, die sich bemühte, Lord Rothley in ein Gespräch über die Sauhatz zu ziehen. «Aber ich habe mir das in Indien oft angesehen und fand es faszinierend.»

Lord Rothley murmelte etwas Unverständliches und hielt Turton sein Glas hin, der es bereitwillig mit Whisky auffüllte.

Es war eine kleine Gesellschaft: die Rothleys, die StantonDerbys und die verwitwete Bobo Bainbridge. Sie hatten sich eingefunden, um die Placketts willkommen zu heißen und die Pläne für Verenas Geburtstagsfeier zu besprechen. Selbstverständlich hatte Verena, die sich so gewissenhaft auf Sir Harold und seine Knochenfische vorbereitet hatte, die Northumberland Gazette gründlich studiert, um sich über die Interessen der Gäste zu informieren. Im Fall Lord Rothleys allerdings hatte ihr der kleine Druck einen Streich gespielt: Seine Lordschaft interessierte sich nämlich nicht für die Sauhatz, sondern für die Sauzucht.

Nachdem Verena sich ihrer Pflicht ihm gegenüber entledigt hatte, gesellte sie sich zu Hugo Stanton-Derby, der mit Lady Plackett am offenen Kamin stand. Das innige Einverständnis zwischen Mutter und Tochter hatte den beiden erlaubt, sich die Arbeit zu teilen: Verena hatte sich in der Bibliothek die Encyclopedia Britannica vorgenommen, um über georgianische Schnupftabaksdosen nachzulesen, die Stanton-Derby sammelte, und Lady Plakkett hatte sich todesmutig in die Financial Times vertieft, da der gute Hugo von Beruf Börsenmakler war.

Das Gespräch war demzufolge wohlinformiert und intelligent, und als Verena sich danach den Damen zuwandte, fanden auch diese in ihr eine verständnisvolle und teilnehmende Zuhörerin. Es ging, wie nicht anders zu erwarten, wieder einmal um die Flüchtlinge, die Quin ihnen aufgedrängt hatte. Sie waren schwierig und undankbar. Ann Rothleys entlassener Stallknecht war von der Northern Opera Company engagiert worden und hatte das gesamte Personal in Aufruhr gebracht.

«Sie wollen alle freihaben, um nach Newcastle zu fahren und ihn in dieser albernen Oper singen zu hören – ihr wißt schon, die, in der sie ein Manuskript verbrennen, um sich warmzuhalten. Diese Boheme-Geschichte.»

Und auch Helens Chauffeur machte Ärger: Er hatte damit gedroht, nach London zu gehen, um sich dort einem Streichquartett anzuschließen.

«Nun, wenn er das tut, dann brauchst du dir wenigstens nicht ständig diese Kammermusik anzuhören», meinte Frances.

Aber so einfach war es natürlich nicht.

«Nun ja, er macht seine Arbeit an sich sehr gut», entgegnete Helen, «und er ist viel billiger als ein Engländer.»

Nur mit Bobo Bainbridge versuchte Verena gar nicht erst ins Gespräch zu kommen. Bobo, deren geliebter Mann vor neun Monaten plötzlich gestorben war und deren Schwiegermutter von offen zur Schau getragenem Schmerz nichts hielt, lavierte sich jetzt mit Hilfe großzügiger Dosen vom Amontillado durch ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen, und für Frauen, die sich auf solche Art gehenließen, hatte Verena nichts als Verachtung.

Um neun Uhr verschwand Quin mit den Männern zum Billardspiel in der Bibliothek, und die Frauen konnten sich den Planungen für Verenas Geburtstagsfeier widmen. Diese mauserte sich zu Frances' Bestürzung sehr schnell zu einer viel größeren Sache, als von ihr beabsichtigt. Ihr Vorschlag, ein kaltes Buffet richten zu lassen und ein Grammophon aufzustellen, damit die jungen Leute tanzen konnten, quittierte Lady Plackett mit schockiert hochgezogenen Brauen.

«Ein Grammophon?» sagte sie pikiert. «Wenn es eine Sache der Kosten ist ...»

«Aber nein, natürlich nicht», unterbrach Ann Rothley ziemlich verärgert über diesen Schnitzer. «Weißt du, Frances, drüben in Rothley fängt gerade eine sehr gute kleine Drei-Mann-Kapelle an – man täte noch ein gutes Werk, wenn man ihnen Arbeit gibt.»

Man einigte sich also auf die Drei-Mann-Kapelle, und Helen Stanton-Derby fegte Lady Placketts Vorschlag, vom Blumenhändler in Alnwick Lilien und Rosen kommen zu lassen, vom Tisch und sagte, den Blumenschmuck werde sie übernehmen. «In den Hekken wächst jetzt so vieles – Waldrebe und blauer Liguster und Hagebutten –, daß man da zusammen mit ein paar Blumen aus dem Garten die schönsten Arrangements machen kann.»

«Und als Getränk dachte ich an Glühwein», sagte Frances. «Die Köchin hat ein ganz ausgezeichnetes Rezept.»

Doch Glühwein fand Lady Plackett so schockierend wie das Grammophon, und sie fragte, ob sie eine Kiste Champagner beisteuern dürfte. Dieses Angebot jedoch lehnte Frances ab. «Ich werde mit Quin sprechen», sagte sie entschieden. «Er ist für den Keller zuständig.» Darauf ging man zur Diskussion über Speisenfolge und Gästeliste über.

Die Kommentare über Verena, als die Herrschaften nach Hause fuhren, waren nicht unfreundlich.

«Ein sehr vernünftiges Mädchen», stellte Ann Rothley fest, und ihr Mann brummte zustimmend, sagte jedoch, er sei überrascht, daß Quin, der immer so bildhübsche Freundinnen gehabt habe, eine Frau heiraten wolle, die, wenn man es einmal genau betrachtete, wie ein römischer Senator aussah.

Seine Frau war anderer Meinung. «Sie ist eine Persönlichkeit. Sie braucht nur ein wirklich hübsches Kleid für das Fest, dann ist sie so attraktiv, wie man es sich nur wünschen kann.»

Aus dem Fond des Wagens kam unerwartet die Stimme der vermeintlich schlafenden Bobo Bainbridge. «Das muß dann aber schon ein sehr hübsches Kleid sein», sagte sie und schloß wieder die Augen.


Frances war derweilen ihrem Neffen in den Turm hinauf gefolgt – etwas, das sie höchst selten tat –, um ihn wegen der Getränke zu konsultieren.

«Ach ja, Verenas Fest.» Quin hatte den Diskussionen über dieses Ereignis so wenig Beachtung gezollt, daß er Mühe hatte, sich zu erinnern. «Das steigt am Freitag in einer Woche, nicht? Möchte Verena, daß ich mich auch kurz sehen lasse, oder möchte sie lieber mit ihren Freunden allein feiern?»

Frances starrte ihn fassungslos an. «Aber natürlich möchte sie, daß du dabei bist. Es würde doch sehr eigenartig wirken, wenn du dich nicht blicken ließest.» Und dann sagte sie zaghaft: «Du magst Verena doch, nicht wahr?»

«Ja, ein ordentliches Mädchen», antwortete Quin zerstreut. «Wen habt ihr denn eingeladen?»

«Rollo kommt von Sandhurst herauf – er hat das Ehrenschwert bekommen, hat Ann dir das erzählt? Er bringt einen Freund mit, der in dasselbe Regiment eintreten möchte. Und die BainbridgeZwillinge haben Urlaub von der Air Force und ...»

«Von der Air Force? Mick und Leo? Aber sie sind doch höchstens sechzehn!»

«Sie sind achtzehn – sie sind als Kadetten eingetreten. Bobo hoffte, wenigstens einer von ihnen würde auf dem Boden bleiben, aber sie haben ja immer alles gemeinsam unternommen; sie sind jetzt beide voll ausgebildete Piloten.»

«Mein Gott!» Die Zwillinge hatten Bobo nach dem Tod ihres Mannes am Leben gehalten. Wenn sie nach Hause kamen, trank sie nicht, wurde wieder die liebenswürdige, lustige Person, die sie seine ganze Kindheit lang gewesen war.

«Und Helens Töchter kommen beide aus London herauf. Caroline heiratet übrigens bald diesen netten rothaarigen Jungen, der bei der Marineinfanterie ist – Dick Alleson.» Caroline hatte jahrelang nur für Quin Augen gehabt, und alle waren froh und erleichtert gewesen, als sie sich endlich doch noch mit einem so passenden jungen Mann verlobt hatte.

Frances fuhr fort, die Gäste aufzuzählen, und Quin sah zum silbern glänzenden Meer hinaus. Es würde vielleicht gar keinen Krieg geben, aber wenn doch, würde keiner dieser verwöhnten, lebenslustigen Jungen dem Gemetzel entgehen.

«Ich weiß, was wir trinken, Tante Frances», sagte er und faßte sie bei den Händen. «Den Veuve Clicquot 29. Ich habe zwei Kisten davon, die ich extra für einen besonderen Anlaß aufgehoben habe.»

Frances sah ihn erstaunt an. Sie war keine Weinkennerin, aber sie wußte, wie hoch Quin seinen exzellenten Champagner schätzte. «Ist das dein Ernst?»

«Aber ja. Es soll ein denkwürdiger Abend werden.»

Frances war glücklich, als sie sich an diesem Abend zu Bett legte. Was sonst konnte diese großzügige Geste bedeuten, als daß er Verena besonders ehren wollte? Aber am nächsten Morgen kam die Bemerkung, die sie gefürchtet hatte.

«Wenn wir hier ein Fest mit lauter jungen Leuten veranstalten, müssen wir die Studenten dazubitten.»

Entsetzlich! Jüdische Kellnerinnen und junge Mädchen, die auf den Rücksitzen von Automobilen Unaussprechliches trieben, zusammen mit den wohlerzogenen Kindern ihrer Freunde!

«Aber die kommen doch am Sonntag zum Mittagessen. Reicht das nicht?»

Quin blieb hart. «Ich kann mit Verena nicht dauernd Ausnahmen machen, das mußt du doch einsehen, Tante Frances.»

Zu Frances' grenzenloser Überraschung war Verena ganz Quins Meinung und erbot sich, die Studenten persönlich einzuladen.

Und das tat sie auch. Als sie im Bootshaus eintraf, saßen die anderen noch beim Frühstück. «Ich wollte euch nur sagen», verkündete sie, «daß an meinem Geburtstag oben im Haus ein Fest stattfindet. Ihr seid natürlich alle eingeladen, wenn es euch nichts ausmacht, nicht in der angemessenen Kleidung erscheinen zu können.»

Als Quin kam, um mit der Arbeit anzufangen, konnte sie ihm wahrheitsgemäß mitteilen, daß die Studenten alle ohne Ausnahme die herzliche Einladung ausgeschlagen hatten.

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