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Auf dem Westbahnhof war es mittags um zwei immer relativ ruhig. Von Bahnsteig sieben fuhren nur Bummelzüge ab. Hier gab es keine herzzerreißenden Abschiedsszenen; keine weinenden Eltern, keine mit Kennmarken versehenen Kinder, die ins sichere Ausland geschickt werden sollten. In den Dritte-KlasseWagen mit den Holzbänken drängten sich Bauersfrauen mit kleinen Kindern, schweren Bündeln, gackernden Hühnern in Käfigen.

Ruth, die am offenen Zugfenster stand, trug Dirndl und Lodenumhang wie die andern Frauen, und ein Tuch um den Kopf. In einem Schrank im Arbeitszimmer ihres Vaters hatte sie einen alten Rucksack gefunden und ihre wenigen Habseligkeiten umgepackt. Mit den braven Zöpfen sah sie aus wie sechzehn, und sie schien bester Stimmung zu sein.

«Außerdem kann ich den dortigen Dialekt. Sie werden schon sehen, es wird alles ganz prima gehen. Sie hätten mir nur nicht soviel Geld geben sollen.»

«Ich kann es mir leisten, das habe ich Ihnen doch gesagt.»

Ungeachtet der Telegramme und telefonischen Nachrichten aus England, die sich für ihn am Empfang des Sacher sammelten, hatte Quin seine Abreise um einen weiteren Tag verschoben, um sicher zu sein, daß sie wohlbehalten an ihrem Bestimmungsort angekommen war. Zwei Nächte hatte Ruth im Museum verbracht; niemand hatte sie verraten, nicht die Putzfrau und nicht der Nachtwächter, und Quin, der froh war, daß seine Aufgabe nun fast erledigt war, lächelte mit onkelhafter Güte zu ihr hinauf.

«Ich bin bestimmt das reichste Bauernmädchen in ganz Österreich», sagte sie. «Aber ich zahle es Ihnen zurück. Ich schwöre es, bei Mozarts Kopf.»

Er machte eine wegwerfende Geste. «Lassen Sie den armen Mann in Frieden ruhen.»

Der Kontrolleur kam vorbei, die Türen wurden zugeschlagen. Die Lokomotive stieß zischende Dampfwolken aus, und im Schutz dieses Getöses beugte sich Ruth weit zu Quin hinunter und sprach direkt in sein Ohr.

«Wenn Sie in England zu meinen Eltern gehen, würden Sie ihnen dann bitte sagen, sie sollen sich keine Sorgen machen ...»

«Aber natürlich.»

«Nein, ich meine, würden Sie ihnen sagen, daß ich schon sehr, sehr bald bei ihnen sein werde? In weniger als einem Monat, hoffe ich. Ich weiß schon genau, was ich tun werde.»

Beunruhigt sah er sie an. «Was soll das heißen?»

Jetzt hatte man die Postsäcke eingeladen. Eine letzte Tür flog krachend zu – und Ruths Gesicht tauchte strahlend und selbstsicher aus den Dampfwolken.

«Ich gehe über die Berge in die Schweiz», sagte sie. «Das hab ich schon mal getan, als ich in den Ferien dort war. Man geht über die Kanderspitze. Es sind nur ein paar Stunden. Ich bin mit einem von den Jungen vom Hof gegangen, und die Grenzer haben sich nicht mal umgedreht.»

«Um Himmels willen, Ruth, das war vor Hitler. Die Schweizer sind bewaffnet und im Alarmzustand. Am Ende erschießen sie Sie noch als Spionin.»

«Unsinn. Bestimmt nicht. Ich garantiere Ihnen, daß alles gutgeht. Sobald ich drüben in der Schweiz bin, fahre ich zur französischen Grenze und schwimme über die Arve, das ist ein Nebenfluß der Rhone und überhaupt nicht breit; ich habe es mir auf der Karte angesehen. Ich bin eine sehr gute Schwimmerin, wissen Sie. Und wenn ich dann in Frankreich bin, brauche ich mich nur mit dem Vetter meines Vaters in Verbindung zu setzen. Er hat ein Schiff und bringt mich bestimmt über den Kanal, da bin ich ...» Sie brach ab. «Was machen Sie da? Sie tun mir weh! Lassen Sie mich los!»

Quin hatte die Tür aufgezogen; er packte ihren Arm; er zerrte sie aus dem Zug.

«Hören Sie endlich auf!» fuhr er sie zornig an. «Über die Berge steigen, einen Fluß durchschwimmen – Sie sind ja schlimmer als ein Kind! Glauben Sie denn, dies alles sei eine Abenteuergeschichte? ? Die Welt steht am Rand eines – ach, zum Teufel!»

Sie war jetzt unten auf dem Bahnsteig. Er packte sie fester, als sie sich zu wehren begann, und streckte den freien Arm nach dem Rucksack aus, den eine Bauersfrau, die den männlich harten Zugriff offensichtlich billigte, ihm aus dem Fenster reichte. Der Kontrolleur näherte sich, unwillig über die Störung, schlug die Tür zu und setzte seine Pfeife an die Lippen.

«Dazu haben Sie kein Recht!» schimpfte Ruth strampelnd, aber der Zug fuhr bereits mit einem Ruck an und stampfte aus dem Bahnhof.

«Besorgen Sie mir ein Taxi», rief Quin einem grinsenden Träger zu.

«Das verzeihe ich Ihnen nie», schäumte sie.

«Tja, damit werde ich dann wohl leben müssen», versetzte Quin und schob sie in das Taxi.


Es war ein Fehler gewesen, das Wort «morganatisch» in ein Gespräch einzuflechten, das sowieso schon schlecht lief. Quin hatte eine schlaflose Nacht hinter sich und hatte die letzten achtundvierzig Stunden nichts anderes getan, als diverse Beamte zu beschimpfen, zu beschwatzen, zu bedrohen, zu bestechen, sonst wäre er bestimmt nicht auf diese dumme Idee gekommen, zumal sie Englisch sprachen. Ruths schottischer Akzent war jetzt nur noch in einem ganz leichten Anklang vorhanden, sie beherrschte die englische Sprache fließend, aber der Begriff der morganatischen Ehe sagte ihr weder auf Deutsch noch auf Englisch etwas.

«Und wer ist dieser Morgan?» fragte sie.

«Gar niemand», antwortete Quin seufzend. Sie saßen in einem Café im Stadtpark, und er war beinahe sicher, daß jeden Moment jemand einen Straußwalzer anstimmen würde. «Das Wort morganatisch kommt aus dem Lateinischen matrimonium ad morganaticum – das heißt . Die Morgengabe ist das Geschenk, das der Ehemann der Ehefrau am Morgen nach der Brautnacht übergibt. Er befreit sich damit von jeder Verantwortung für die Ehefrau. Wie Franz Ferdinand. Seine Ehefrau bekam keinen seiner Titel und keine seiner Pflichten.»

Wenn er gehofft hatte, das Thema damit aus dem Weg zu räumen, daß er Österreichs unpopulärsten Erzherzog erwähnte, so wurde er enttäuscht.

«Aber Sie sagen doch, daß es für uns gar keine Hochzeitsnacht gäbe, also würde Morgan sowieso keine Rolle spielen.»

Quin trank seinen Schnaps aus und stellte das Glas nieder. Er hatte Kopfschmerzen, was selten vorkam. «Ja, das ist richtig. Unsere Heirat wäre lediglich eine Formalität. Ich wollte nur sagen, daß es viele Möglichkeiten der Eheschließung neben der konventionellen gibt ...» Er brach ab. Jetzt geschah nämlich genau das, was er gefürchtet hatte. Mindestens ein Dutzend Frauen in mit Gold betreßten Uniformen betraten den Musikpavillon. Nicht nur Strauß, sondern Strauß von Frauen dargeboten.

«Was ist denn?»

«Spielen die jetzt Strauß?»

«Ja», antwortete Ruth beglückt. «Das ist die Frauenkapelle vom Prater – sie sind unheimlich gut.» Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu. «Mögen Sie etwa keine Walzer?»

«Nicht vor dem Tee.» Er runzelte die Stirn und zügelte mühsam seine Gereiztheit. Bei Tag konnte man ihn und Ruth, da sie ausschließlich Englisch miteinander sprachen, leicht für ausländische Touristen halten; doch sie übernachtete immer noch im Museum, und es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand sie verriet.

«Hören Sie, Ruth, wir können nicht noch mehr Zeit verschwenden. Ich muß endlich nach England zurück, und Sie wollen auch dorthin. Der Konsul hier kann uns trauen – das ist eine Sache von ein paar Minuten, eine reine Formalität. Dann werden Sie als meine Ehefrau in meinen Paß eingetragen – Sie werden de facto britische Staatsbürgerin. Wenn wir in London sind, geht jeder seiner Wege, und wir lösen die Ehe wegen ...»

Er hielt gerade noch rechtzeitig inne. Nach der morganatischen Ehe nun von Straußwalzern begleitet auch noch den Nichtvollzug der Ehe mit dieser obstinaten kleinen Person zu diskutieren, dazu hatte er weiß Gott keine Lust.

Ruth schwenkte schweigend ihr Glas hin und her und beobachtete die Bewegungen der Limonade. «Schade eigentlich, daß es keinen Morgan gibt», meinte sie. «Er könnte einem bei der Auswahl der Morgengabe helfen. Es müßte etwas sehr Schönes sein, damit es einem nicht soviel ausmacht, daß man keine Rechte und Pflichten bekommt. Ein Bernhardiner vielleicht.»

Quin beugte sich über den Tisch und legte flüchtig seine Hand auf die ihre. «Ruth, lassen wir Morgan jetzt ruhen, ja? Das Thema ist erledigt. Ich hole Sie um elf im Museum ab; dann heiraten wir, und am Abend nehmen wir den Nachtzug.»

Er war aufgestanden, aber sie folgte ihm nicht.

«Verstehen Sie denn nicht», sagte sie leise und eindringlich. «Ich kann das nicht annehmen. Es gibt doch in England bestimmt eine Frau, die Sie heiraten wollen.»

«Nein. Und was Ihren Heini angeht, so wird er gewiß froh sein, Sie gesund und wohlbehalten wiederzusehen, auch wenn Sie dann mit der Heirat noch ein Weilchen warten müssen. Überlegen Sie doch mal, wie es Ihnen ginge, wenn es umgekehrt wäre.»

«Ja, ich würde alles tun, um mit Heini zusammensein zu können», sagte sie leise. «Aber es ist Ihnen gegenüber nicht fair. Ich kann von Ihnen nicht verlangen ...»

Doch Quins Blick war auf den Musikpavillon gerichtet, wo jetzt das Schlimmste geschah. «Um Gottes willen, verschwinden wir hier», sagte er und zog sie hoch. «Diese Forelle in der Pickelhaube hebt schon den Taktstock.»

«Es ist Wiener Blut», sagte Ruth vorwurfsvoll, als die ersten Töne durch den Park schallten.

«Es ist mir egal, was es ist», erklärte Quin und suchte das Weite.

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