8

Erst als sie auf dem Bahnsteig stand und zu den königsblauen Waggons mit den Emblemen und der Aufschrift Compagnie Internationale des Wagons-Lits über den Fenstern hinaufsah, begriff Ruth, daß sie mit dem Orient-Expreß reisen würden.

Und als sie jetzt Quin in dem feudalen Speisewagen des Zugs, der durch das abendliche Land brauste, gegenübersaß, sah sie sich staunend um. Sie hatte Luxus erwartet, aber die verschwenderische Pracht der Lalique-Ornamente, der Einlegearbeiten aus Rosenholz, die die Trennwände schmückten, der vergoldeten Metallblüten an der Decke übertraf ihre kühnsten Vorstellungen. Die Servietten auf den Darnasttischdecken waren kunstvoll zu Schmetterlingen gefaltet; neben jedem Teller stand eine Reihe funkelnder Kristallgläser; Poinsettia-Arrangements glühten im Licht der Lampen.

«Wie unvorstellbar schön!» sagte Ruth. Sie bemühte sich, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, aber ohne Erfolg. «Das ist ja wie auf einer richtigen Hochzeitsreise! Sie hätten das nicht tun sollen.»

«Nicht der Rede wert», entgegnete Quin und reichte ihr die Speisekarte.

Tatsächlich hatte er Beziehungen spielen und einiges an Bestechungsgeldern springen lassen müssen, um so kurzfristig noch ein Schlafwagenabteil in diesem Zug zu bekommen. Er hatte es getan, weil er ihr nach den Tagen heimlicher Gefangenschaft und vor den harten Zeiten der Armut, die sie in London erwarteten, noch einen Moment des Wohllebens schenken wollte. Während sie die Speisekarte studierte, winkte er dem Kellner und bat ihn, die Jalousie herunterzulassen, denn jetzt näherten sie sich der vertrauten Landschaft um den von ihr so geliebten Grundlsee.

«Ich müßte eine ungarische Gräfin sein», bemerkte Ruth, während sie die anderen Gäste musterte. «Oder mindestens eine Spionin.» Ein Blick auf die Leute, die in den Zug eingestiegen waren, hatte genügt, sie zu veranlassen, ihr «Umblätter-Kleid» herauszuholen. Und dennoch kam sie sich beinahe wie Aschenputtel vor; Quin hingegen, ganz in der mysteriösen Tradition des Engländers, der soeben aus der Wildnis in die Zivilisation zurückgekehrt ist, sah in seinem Smoking absolut tadellos aus. «Schauen Sie doch mal, die Stola dieser Dame – das ist Zobel», sagte sie leise.

«Und trotzdem würde sie bestimmt hebend gern mit Ihnen tauschen», erwiderte Quin mit einem kurzen Blick auf das stark geschminkte Gesicht der alternden Frau.

«Weil ich in Ihrer Gesellschaft bin, meinen Sie?»

«Nein, deswegen sicher nicht», antwortete Quin, ohne näher auf ihre Frage einzugehen.

«Können Sie mir nicht beim Bestellen helfen?» bat Ruth wenig später. «Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.»

«Ich hatte gehofft, daß Sie mich das bitten würden», sagte Quin. «Ich finde nämlich, wir sollten dem Wein ganz besondere Aufmerksamkeit widmen.»

Der Sommelier präsentierte Quin den ausgesuchten Wein mit der Feierlichkeit einer Hebamme, die dem Oberhaupt einer adeligen Dynastie den langersehnten Stammhalter präsentiert.

«Probieren Sie», forderte Quin Ruth auf und wechselte einen Verschwörerblick mit dem Kellner.

Ruth ergriff ihr Glas, trank einen Schluck, schloß die Augen, trank noch einen Schluck, öffnete sie wieder. Einen Moment lang schien es, als wollte sie etwas sagen – eine Bewertung abgeben oder vielleicht einen Vergleich ziehen; dann aber tat sie nichts dergleichen, schüttelte nur einmal wie fassungslos den Kopf und lächelte.

Ruths Freunde in Wien wußten, daß Musik sie zum Verstummen bringen konnte; Quinton Somerville, der ihr einen Pouilly-Fuissé kredenzte, erfuhr, daß auch ein edler Wein sie sprachlos machen konnte.

«Ich sehe schon, es wird mir richtig leid tun, Sie nicht weiterbilden zu können», sagte er. «Sie sind ein Naturtalent.»

«Aber wir können doch Freunde bleiben, nicht wahr? Später, meine ich, nach der Scheidung.»

Quin antwortete nicht. Er betrachtete Ruth. Ihr Haar leuchtete, und der Blick ihrer dunklen Augen war weich und verträumt. Quin hatte natürlich Freundinnen, aber so sah keine von ihnen aus.

Dann brachte der Kellner Ruth die bestellten Vol-au-vents, leicht wie ein Hauch, mit einer köstlichen Füllung aus foie gras und Austern, und sie mußte sich nun ganz dem Essen widmen, hatte allenfalls Zeit, ab und zu einen bewundernden Blick auf Quin zu werfen, der mit leichtfingriger Eleganz seine flambierten Krebse auseinandernahm.

Erst als ihre Teller abgetragen und die Fingerschalen gebracht wurden, sagte sie: «Um noch einmal auf die Hochzeit zurückzukommen ... ich meine, auf die Tatsache, daß wir verheiratet sind ...»

«Ja?»

«Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir niemand etwas davon sagen? Überhaupt keinem Menschen?»

Quin stellte sein Glas nieder. «Ganz im Gegenteil. Mir wäre das sehr recht. Ich hasse Aufsehen und Wirbel jeder Art.» Dennoch war er erstaunt. So wie er die Bergers kannte, konnte er sich Geheimnisse zwischen Ruth und ihrer Familie kaum vorstellen. «Werden Sie es denn vor Ihren Eltern geheimhalten können?»

«Ich denke schon, ja. Wenigstens vorläufig. Wenn ich später meinen eigenen britischen Paß bekomme, werden sie es natürlich erfahren – aber da sind wir dann ja schon geschieden.» Sie zögerte, unschlüssig, ob sie mehr sagen sollte. «Meine Eltern sind sehr altmodische Leute, wissen Sie. Es würde ihnen bestimmt nicht in den Kopf gehen, daß eine Heirat keinerlei Bedeutung haben soll. Und ich könnte es nicht aushalten, wenn sie versuchen sollten, Sie – ich meine mit Ihnen ...» Sie schüttelte den Kopf und setzte noch einmal an. «Sie waren immer sehr lieb und gut zu Heini; er hat ja praktisch bei uns gelebt. Aber ich glaube nicht, daß ihnen klar ist, wie es um ihn und mich steht – besonders meine Mutter ist ziemlich ahnungslos. Sie würde vielleicht glauben, daß Sie – daß wir ...»

Nein, sie konnte Quin nicht erklären, wie groß ihre Angst vor dem Beifall ihrer Eltern zu dieser Heirat war; vor der Dankbarkeit, mit der sie ihn in Verlegenheit bringen und ihm das Gefühl geben würden, nicht mehr heraus zu können. Keinesfalls durfte Quin den Eindruck erhalten, sie erwarte nach der Ankunft in England noch irgend etwas von ihm; das wäre ein schlechter Lohn für seine Güte und Hilfsbereitschaft gewesen.

Der Weinkellner trat wieder zu ihnen und strahlte Ruth an wie eine hochbegabte Schülerin, die soeben ihre Prüfung mit Glanz bestanden hat. Erneut wurde die Weinkarte studiert, und mit Bedauern stimmte der Kellner Quin zu, daß man in Anbetracht des jugendlichen Alters der Dame wohl besser auf den Margaux verzichtete, den er sonst zum Geflügel vorgeschlagen hätte.

«Aber zum Dessert habe ich einen vorzüglichen Tokaier, Monsieur – einen Essencia 1905, etwas ganz Besonderes, je vous assure.»

«Leben Sie zu Hause auch so?» fragte Ruth, als der Kellner gegangen war. «Ich meine, mit Bediensteten und einem Koch und einem erstklassigen Weinkeller?»

Er schüttelte den Kopf. «Ich habe zwar Angestellte und auch einen Weinkeller, aber die Atmosphäre ist anders als hier. Mein Haus steht hoch oben im nördlichen Teil Englands, nahe der schottischen Grenze, auf einem Felskap am grauen Meer.»

«Oh.» Das klang nicht sehr verlockend. «Und wer wohnt dort, wenn Sie nicht da sind? Steht das Haus leer?»

«Eine Tante von mir kümmert sich um alles. Das heißt, sie ist eigentlich eine Cousine zweiten Grades, aber ich habe sie immer Tante genannt – sie ist um einiges älter als ich und hat von Natur aus etwas sehr Tantenhaftes, wenn es das gibt. Meine Eltern starben, als ich noch sehr klein war. Erst sorgte mein Großvater für mich, und als er ebenfalls starb, kam sie. Ich bin ihr zu großem Dank verpflichtet. Wenn sie nicht wäre, könnte ich nicht jederzeit auf und davon gehen, ohne mir Sorgen machen zu müsen, was aus dem Haus wird.»

«Hatten Sie sie als Kind gern?»

«Sie hat mich in Ruhe gelassen», antwortete Quin.

Ruth versuchte stirnrunzelnd, sich das vorzustellen. Sie war nie in Ruhe gelassen worden – ganz gewiß nicht von ihrer Mutter und ihrem Vater, aber auch nicht von Tante Hilda und den Dienstmädchen ... nicht einmal von Onkel Mishak, der sie die Namen der Blumen und Bäume gelehrt hatte. Und was Heini anging ...

«Fanden Sie das schön?» fragte sie. «In Ruhe gelassen zu werden, meine ich.»

Quin lächelte. «Ich denke, das ist etwas ausgesprochen Britisches», antwortete er. «Uns scheint es im großen und ganzen zu liegen. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß es Ihnen gefallen würde.»

«Nein, ich auch nicht», meinte sie nachdenklich.

Als das Dessert gebracht wurde – Zitronensoufflé mit einem Glas Tokaier, frisches Obst, Schokoladetrüffel und danach türkischer Kaffee –, rief sie impulsiv: «Das ist ja wirklich paradiesisch. Ich glaube, wenn ich reich wäre, würde ich mein Leben lang mit der Eisenbahn durch die Weltgeschichte reisen und niemals ankommen. Niemals ankommen, immer nur fahren, fahren.»

«Davon träumen viele Menschen», bemerkte Quin. Er knackte ihr eine Walnuß und legte sie ihr auf den Teller. «Ankommen heißt ja leben, und leben ist Schwerstarbeit.»

«Für Sie auch?»

«Für jeden.»

Ruth sah ihn an und fragte sich, was für einen Mann denn schwierig sein konnte, der so wohlhabend, so erfolgreich und dazu Bürger eines freien und mächtigen Landes war. «Es ist merkwürdig, schon vor dem Horror – vor den Nazis, meine ich, haben alle möglichen Leute zu mir gesagt: Ach, du bist jung und gesund, du hast bestimmt keine Probleme. Aber manchmal hatte ich doch welche. Jetzt, wo es um Leben und Tod geht, erscheinen sie mir natürlich lächerlich. Aber wissen Sie ... mit Heini ... ich liebe ihn wirklich von ganzem Herzen und möchte nur für ihn da sein, aber manchmal ist mir das trotzdem furchtbar schwergefallen.»

«Inwiefern denn?»

«Na ja, Heini ist Musiker. Er muß fast den ganzen Tag am Klavier sitzen und üben und möchte mich ständig um sich haben. Aber ich bin so gern draußen im Freien – das geht wahrscheinlich jedem so –, und im Freien kann man eben nicht Klavier spielen – höchstens wenn man bei der Frauenkapelle vom Prater ist», fügte sie mit einem anklagenden Blick zu Quin hinzu. Der lachte ganz ohne Zerknirschung. «Jedenfalls bin ich manchmal richtig böse geworden, wenn ich stundenlang im Zimmer sitzen mußte, immer bei fest geschlossenen Fenstern, weil Klaviere keine Zugluft vertragen. Jetzt, wo mir klar wird, wie schön ich es damals hatte, erscheint es mir schrecklich kleinlich und undankbar. Glauben Sie, daß wir wieder genauso kleinlich und undankbar werden, wenn die Welt wieder normal werden sollte?»

«Wenn es kleinlich und undankbar ist, gern im Freien zu sein, dann sicher ja», meinte Quin.

Aber nun ließ es sich nicht länger aufschieben. Die meisten Gäste gingen. Die Kellner begleiteten ihren Aufbruch mit höflichen Verbeugungen und strichen ihr Trinkgeld ein. Ruth hatte jetzt der Tatsache ins Gesicht zu sehen, daß sie sich mit Quinton Somerville auf Hochzeitsreise befand und nun zu Bett gehen mußte.

«Ich bleibe noch ein Weilchen in der Bar und rauche eine Pfeife», sagte Quin.

Sie stand auf und ging durch die dämmrig beleuchteten, stillen Korridore der Schlafwagen zu Abteil Nummer 23. Es hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den mit zwei Stockbetten und einer schmalen Leiter ausgestatteten Schlafzellen, die sie von früheren Reisen kannte. Kein Darandenken, einfach ins obere Bett hinaufzuklettern und bis zum Morgen unsichtbar zu bleiben. Hier gab es zwei richtige Betten, die lediglich durch einen schmalen, mit Teppich bespannten Gang voneinander getrennt waren. Wäre sie eine echte Hochzeitsreisende gewesen, sie hätte ihrem frisch angetrauten Ehemann die ganze Nacht die Hand halten können.

Der Steward hatte schon alles für die Nacht vorbereitet. Quins Pyjama und ihr züchtiges Jungmädchennachthemd aus vernünftiger Baumwolle lagen adrett drapiert auf weißen Kopfkissen mit Monogramm. Auf dem Bord über dem Waschbecken warteten Quins Rasierapparat und Rasierpinsel in trauter Gemeinschaft mit ihrer Zahnbürste. Die Lampen mit den rosafarbenen Schirmen warfen ein sanftes Licht auf die dunkle Täfelung; in Kristallkaraffen funkelte frisches Wasser; in einer Schale aus getriebenem Silber glühten dunkel blaue Trauben.

Sie kleidete sich aus, schlüpfte in das Nachthemd, das sie für ihre große Tour auf die Kanderspitze eingepackt hatte, und stellte sich einen wonnigen Moment lang vor, sie trüge fließende nilgrüne Seide. Keiner hätte sie darin zu sehen bekommen, denn sie hätte ja die Bettdecke bis zum Hals hochgezogen, aber sie hätte gewußt, daß sie sie trug.

Im Bett schaltete sie zunächst das Licht aus, um Quin die Möglichkeit zu geben, ungesehen hereinzuschlüpfen; schaltete es wieder an, weil sie fürchtete, er könnte sich im Dunklen stoßen; und stellte fest, daß es in diesem märchenhaften Zug eine dritte Möglichkeit gab, einen Dimmer, der es erlaubte, die Beleuchtung so zu dämpfen, daß sich der Schein der rosafarbenen Lampen zu einem zarten Schimmer wie unter Rosenblättern abschwächte.

Wenn Quin kam, würde sie sich mit dem Gesicht zur Wand drehen und so tun, als schliefe sie. Aber während der Zug durch die Nacht raste, überflutet, ihr erschöpftes Gehirn sie mit Bildern von Brautnächten und Hochzeitsritualen ferner Zeiten und fremder Länder ... Jungfrauen, die in das Bett eines fremdländischen Herrschers geschleppt wurden, um dort, in riesigen Himmelbetten installiert, auf einen Bräutigam zu warten, den sie bisher nur in prachtvollem Goldtuch gesehen hatten ... Bei den Mi-Mi nahm der ganze Stamm an der Hochzeitsnacht teil; die alten Frauen sangen vor der Hütte des frisch verheirateten Paares; die jungen Leute tanzten und riefen dem jungen Paar von draußen Ermutigung zu ... Und sie sah Bilder dieser armen viktorianischen Jungfern aus den Romanen, die man zu spät oder gar nicht in die Tatsachen des Lebens eingeweiht hatte, und die nun voller Angst versuchten, an den Fenstervorhängen emporzuklettern oder sich in Schränken zu verstecken ...

Hätte auch sie Zuflucht in einem Schrank gesucht, wenn dies eine echte Hochzeitsnacht gewesen wäre? Nun, sie war wenigstens mit den Tatsachen des Lebens vertraut – seit ihrem sechsten Lebensjahr schon. Jetzt allerdings fragte sich Ruth, die sich rastlos in ihrem Bett wälzte, ob sie damals am Grundlsee ihren Studien nicht ein wenig übereifrig nachgegangen war. Kraft-Ebbing, Havelock Ellis, Sigmund Freud ... Vieles konnte danebengehen, darin waren sich die ehrwürdigen Herren alle einig. Da gab es zum Beispiel die Frigidität. Diese Möglichkeit hatte Ruth, ein feuriges Kind von Natur aus, immer besonders beunruhigt. Aber das wäre hier wahrscheinlich nicht passiert – nicht mit einem Mann, der sie immer zum Lachen bringen konnte.

Eine Stunde war vergangen, seit sie den Speisewagen verlassen hatte. Sie drehte sich auf die andere Seite, schloß die Augen, stellte sich schlafend – aber es verstrich noch eine Stunde und noch eine, und er kam nicht.


Ein plötzlicher, heftiger Ruck riß sie aus dem Schlaf, den sie endlich doch gefunden hatte. Der Zug hatte angehalten. Von draußen hörte sie Schritte und Stimmen.

Entsetzt fuhr sie in die Höhe. Nun war es doch geschehen. Man würde sie aus dem Zug holen und zurückschicken wie schon einmal. Das Bett an ihrer Seite war immer noch leer. In heller Panik stürzte sie in den Korridor hinaus.

Quin stand am Fenster. Er hatte die Jalousie hochgeschoben und sah in die mondhelle Landschaft hinaus.

«Sie kommen!» rief sie angstvoll. «Ich hab es gewußt. Es konnte nicht gutgehen. Jetzt werden sie mich wieder zurückschicken.»

Er drehte sich herum und sah sie, schlaftrunken, in schrecklicher Angst. Ohne zu überlegen öffnete er die Arme, und ohne zu überlegen flüchtete sie sich zu ihm.

«Ist ja gut», sagte er, sie in den Armen haltend. «Es ist nichts. Nur die Strecke ist blockiert. Vielleicht steht eine Kuh auf den Gleisen.»

«Eine Kuh?» Sie blickte zu ihm auf und blinzelte verdutzt. Dann schüttelte sie hoffnungslos den Kopf.

«Ja, eine von diesen dicken, braunweißen Kühen, wie sie immer auf Schokoladentafeln abgebildet sind. Auf Milchschokolade natürlich. Scheckige Kühe geben nämlich am meisten Milch, wissen Sie.» Er fuhr fort, Unsinn zu reden, bis sie allmählich zu zittern aufhörte. Dann sagte er: «Wir sind längst über die Grenze. Wir sind in Sicherheit. Wir sind schon in Frankreich.»

Aber sie konnte es immer noch nicht glauben. «Ist das wirklich wahr?» fragte sie und sah ihn forschend an. «Sagen Sie mir auch die Wahrheit? Es sind doch gar keine Zollbeamten gekommen. Niemand hat unsere Pässe verlangt, niemand hat uns durchsucht. Sonst kommen sie immer und ...» Sie begann wieder zu zittern. Sie wußte, mit welcher Brutalität andere Flüchtlinge an der Grenze behandelt worden waren; wie man ihnen gewissermaßen in letzter Minute noch die wenigen Habseligkeiten abgenommen hatte, die sie hatten mitnehmen können.

«Ich habe unseren Paß beim Zugführer abgegeben – für uns ist der Grenzübertritt nur eine Formalität.»

Unseren Paß ... Der Paß, in dem der Außenminister Seiner Majestät des Königs von England darum bat, den Inhaber frei und ungehindert passieren zu lassen ... Einen Moment lang wünschte sich Ruth nichts sehnlicher, als diesem Mann und seiner Welt anzugehören. Bei Quin und jenen, die ihn beschützten, würde sie immer sicher sein. Dafür hätte sie es sogar auf sich genommen, in einem kalten Haus auf einem Felskap hoch im Norden zu leben; dafür hätte sie es sogar erduldet, von seiner Tante in Ruhe gelassen zu werden.

Dann wurde sie sich plötzlich bewußt, daß sie mit nichts als einem Nachthemd bekleidet mitten im Korridor eines Zugs stand, und sie dachte daran, wie sie sich in wilder Panik in seine Arme gestürzt, ihn schon wieder in Anspruch genommen hatte, obwohl sie es ihm nach allem, was er für sie getan hatte, schuldete, ihn endlich nicht mehr zu belästigen, keine weiteren Forderungen an ihn zu stellen. Wahrscheinlich dachte er ...

«Entschuldigen Sie, ich habe mich wie eine dumme Gans benommen», sagte sie und riß sich ziemlich ungestüm von ihm los. «Sie denken sicher ...»

«Ich denke gar nichts», erklärte er, doch ihr abrupter Rückzug hatte ihn verärgert. Glaubte sie im Ernst, er würde die Situation ausnutzen und sich an ihr vergreifen? «Sie sollten jetzt wieder zu Bett gehen», sagte er abrupt, und sie sah in seinem strengen Gesicht die Bestätigung ihrer Befürchtungen. Ohne ein weiteres Wort huschte sie ins Abteil zurück und schloß die Tür.

Als sie am Morgen erwachte, lag er voll bekleidet auf dem Nachbarbett, die Arme hinter dem Kopf, die Augen geöffnet, den Blick auf das Fenster gerichtet, und betrachtete den Sonnenaufgang.

Zwei Stunden später waren sie in Calais. Möwen kreisten über ihnen, Dienstleute schrien an den Piers, die langen Arme großer Kräne schwangen über ihren Köpfen hin und her. Es war eine frische weiße Welt nach dem stickigen Luxus des Zugs.

«Langsam glaube ich wirklich, daß wir ankommen werden», sagte Ruth.

«Natürlich werden wir ankommen.»

Sie gingen an Bord. Selbst für die kurze Überfahrt über den Kanal hatte er eine Kabine reserviert. «Sie werden einen zweiten Pullover brauchen», sagte er und hob ihren Koffer auf den Ständer. «An Deck ist es kalt und windig, und Sie müssen doch die Kreidefelsen von Dover begrüßen.»

Sie nickte und klappte den Koffer auf. Obenauf, sorgsam verpackt, lag eine gerahmte Fotografie, die sie von zu Hause mitgenommen, im Museum bei sich gehabt, für die geplante Flucht über die Kanderspitze und durch die Arve in ihren Rucksack gepackt hatte. Jetzt nahm sie sie absichtlich aus ihrer Umhüllung und reichte sie Quin. Dies war eine gute Gelegenheit, ihn wissen zu lassen, daß sie fest an einen anderen gebunden war; ihm zu zeigen, daß sie sich nie wieder so vergessen würde wie in der vergangenen Nacht.

«Das ist Heini.»

Die Aufnahme war am Tag seiner Abschlußprüfung am Konservatorium gemacht worden. Heini, mit dunklen Locken und hellen, langbewimperten Augen, stand an einem Bösendorfer-Flügel. Er lächelte. Quer über die rechte untere Ecke des Bildes hatte er in spitzer deutscher Schrift geschrieben: «Meinem kleinen Star mit aller Liebe, Heini.»

«Und wieso nennt er Sie seinen kleinen Star?» erkundigte sich Quin.

Ruth erklärte. «Mozart hatte einen Star. Er hatte ihn für vierunddreißig Kreuzer auf dem Markt gekauft und hielt ihn in einem Käfig in seinem Zimmer. Der Gesang des Vogels hat ihn nie gestört ...» Sie erzählte die Geschichte mit leuchtenden Augen, in Gedanken bei jenem ersten Tag, an dem Heini sie zu seinem Star erkoren hatte.

Quin hörte höflich zu. «Und was ist aus dem Star geworden?» fragte er, als sie zum Ende gekommen war.

«Er ist gestorben.»

«Kein Wunder», meinte Quin.

«Wieso?»

«Nun, Stare sind nun einmal keine Käfigvögel. Aber vielleicht wußte Mozart das nicht.»

«Mozart wußte alles», gab sie mit blitzenden Augen zurück.

Quin lächelte nur und ließ sie allein. Sie zog sich einen zweiten Pullover über und machte sich auf den Weg zum Deck. Als sie aus dem Salon erster Klasse trat, bemerkte sie zwei in Pelze gehüllte Damen, die es sich auf Deck in Liegestühlen bequem gemacht hatten.

«War das nicht Quinton Somerville?» fragte die eine.

«Ich bin ziemlich sicher, daß er es war. Dieses markante Gesicht – unverkennbar. Ein gutaussehender Mann. Ich habe ihn schon auf dem Bahnsteig gesehen. In Begleitung eines jungen Mädchens – so ein unbedarftes junges Ding im Lodenmantel.»

«Ach, du lieber Gott! Sollte das etwas Ernstes sein?»

«Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie war gar nicht sein Stil. Viel zu schlicht.»

Ein Steward kam vorbei, und die beiden Damen verlangten Wolldecken.

«Wenn es tatsächlich etwas Ernstes sein sollte, wird das die arme Lavinia völlig niederschmettern. Sie hofft immer noch, ihn für Fenella zu angeln.»

«Das kann ich verstehen. Bei dem vielen Geld und Ruth wich zurück und ging durch eine andere Tür hinaus. Quin stand vorn am Bug und starrte ins Wasser. Ich habe natürlich gewußt, daß er reich ist, dachte sie. Und daß die Welt voller Fenellas ist, die ihn heiraten wollen, kann ich mir gut vorstellen. Meinen Segen haben sie – ein Mann, der über Mozart spottet und vor Strauß davonläuft, kann mir gestohlen bleiben.

«Nach der Landung werden wir uns wohl nicht wiedersehen», sagte sie entschlossen.

«Ich möchte Sie gern noch nach Belsize Park bringen, damit ich sicher sein kann, daß Sie wohlbehalten hei Ihrer Familie ankommen. Aber danach – da haben Sie recht – wird es das beste sein, wenn sich unsere Wege trennen. Sollten Sie irgend etwas brauchen, wenden Sie sich einfach an meinen Anwalt – nicht nur wegen der Scheidung, sondern auch, wenn Sie sonst Hilfe brauchen. Er ist ein alter Freund von mir.»

Natürlich, dachte sie. Von jetzt an läuft alles über den Anwalt.

«Ich schulde Ihnen so viel», sagte sie. «Nicht nur, daß Sie mich herausgeholt haben. Ich schulde Ihnen auch Geld. Eine Menge Geld. Ich muß es Ihnen so schnell wie möglich zurückzahlen.»

«Ja, tun Sie das», sagte er, und sie sah ihn erstaunt an. Seine Stimme klang schroff und kühl, und das hatte sie nicht erwartet. Die ganze Zeit war er doch so zugewandt gewesen, so generös. «Sie wissen wohl, was das heißt?»

«Daß ich mir Arbeit suchen muß und ...»

«Genau das heißt es nicht. Das wäre das Dümmste, was Sie jetzt tun könnten – sich irgendeine mindere Arbeit zu suchen, nur um schnell Geld zu verdienen. Ich kann mir Sie als Verkäuferin oder Kellnerin richtig vorstellen. Das einzig Vernünftige für Sie ist es, unverzüglich Ihr Studium fortzusetzen. Wenn das University College Ihnen einen Studienplatz angeboten hat, sollten Sie zupacken. Eine bessere Chance werden Sie nicht bekommen. Es gibt ja mittlerweile alle möglichen Stipendien für Leute in Ihrer Lage; die Welt merkt langsam, was in Deutschland und seinen Nachbarländern vorgeht. Wenn Sie dann Ihren Abschluß haben, können Sie sich eine anständige Stellung suchen und mir nach und nach das Geld zurückzahlen.»

Sie schien sich das durch den Kopf gehen zu lassen, aber ihm fiel auf, daß sie nichts versprach. In der Befürchtung, daß sie sich wieder irgendwelche Verrücktheiten einfallen lassen würde, runzelte er die Stirn – und Ruth, die das Stirnrunzeln sah, fiel noch etwas ein, das sie von ihm bekommen hatte.

«Was ist mit dem Ring?» fragte sie. «Was soll ich mit ihm tun?»

«Was Sie wollen», antwortete er gleichgültig. «Sie können ihn verkaufen oder versetzen oder behalten.»

Sie sah auf ihre Hand hinunter. «Auf jeden Fall ist es besser, ich ziehe ihn aus, ehe meine Eltern Fragen stellen. Oder Heini, falls er schon da ist.»

Sie zog an dem Ring, drehte ihn, zog wieder. «Er sitzt fest», sagte sie verblüfft.

«Unmöglich», meinte er. «Er hat sich so leicht aufstecken lassen.»

«Aber er sitzt trotzdem fest», versetzte sie, plötzlich zornig. «Vielleicht haben Sie warme Hände.»

«Unsinn! Es ist eiskalt hier draußen.» Es stimmte. Sie hatten den Hafen hinter sich gelassen, und der Wind war bitterkalt.

Er legte leicht eine Hand auf die ihre. «Nein, sie sind wirklich kühl. Hm, versuchen Sie es einmal mit Seife.»

Ohne Antwort drehte sie sich um und lief mit wehenden Haaren davon. Sie blieb ziemlich lange weg, und als sie zurückkam und ihre Hand wieder auf die Reling legte, sah er erstaunt ihren Ringfinger. Er war nicht nur gerötet, er sah geschunden aus, wie durch die Mangel gedreht.

«Du lieber Gott», sagte er. «War es so schlimm?»

Sie nickte, immer noch sichtlich erregt. Er spürte, daß sie sich in ihre alttestamentarische Welt der Omen und Verwünschungen zurückgezogen hatte, und ließ sie in Ruhe.

Erst als England vor ihnen auftauchte, sagte er: «Schauen Sie! Da sind sie!»

Und da waren sie in der Tat: die weißen Felsen von Dover, vielbesungenes Symbol der Freiheit. Weit weniger eindrucksvoll, als der Ausländer erwartet; nicht sehr hoch und nicht sehr weiß, und dennoch war Quin, der sich oft genug über diese Felsformation der Kreidezeit, die sich durch nichts auszeichnete, lustig gemacht hatte, in diesem Moment wirklich ergriffen. Nach den Schrecknissen, die er auf dem Kontinent zurückgelassen hatte, war er so froh und dankbar, wieder zu Hause zu sein, wie er sich das niemals vorgestellt hatte.

Загрузка...