19

«Aber warum denn nicht? Warum willst du nicht mitkommen? Alle sind eingeladen – die Studenten essen am Sonntag immer oben in Bowmont zu Mittag. Das ist Tradition.»

«Die Tradition wird auch ohne mich weiterbestehen. Ich warte auf eine Nachricht von Heini und ...»

«Doch nicht am Sonntag! Am Sonntag ist die Post geschlossen.»

Die anderen Studenten stimmten ein, selbst Elke Sonderstrom – aber Ruth war nicht dazu zu bewegen. Sie habe keine Lust auf ein großes Mittagessen; sie wolle einen Spaziergang machen; sie glaube, das Wetter werde bald umschlagen.

«Dann leiste ich dir Gesellschaft», erklärte Pilly, aber davon wollte Ruth nun überhaupt nichts wissen, und es fiel ihr auch gar nicht schwer, Pilly abzuwimmeln, die die Vorstellung, zur Abwechslung einmal wieder auf einem gepolsterten Stuhl zu sitzen und ein ordentlich gekochtes Essen zu sich zu nehmen, sehr verlockend fand.

Es war sehr still, als sie alle gegangen waren. Eine Weile wanderte Ruth am Wasser entlang und beobachtete die Robben draußen in der Bucht. Dann wandte sie sich unvermittelt landeinwärts, schlug aber nicht den steilen Felsweg ein, der zur Terrasse hinaufführte, sondern das schmale, von Hecken gesäumte Sträßchen, das sich zwischen Hasel- und Erlenhainen hindurchschlängelte und sich schließlich mit der Auffahrt hinter dem Haus vereinigte.

Sie atmete den würzigen Duft der feuchten Erde, die hier das Wasser verdrängt hatte, während sie vom Wind geschützt zwischen den Hecken vorwärtsging, die von wilder Klematis durchwoben waren. Hagebutten und Vogelbeeren leuchteten im dunklen Laub; die schwarzblauen Früchte von Schlehen hingen von den Zweigen herab.

Nach einer Weile machte das Sträßchen einen Bogen und führte nun zwischen offenen Weiden hindurch, auf denen Schafe grasten, die wie frisch gewaschen aussahen. Ruth beugte sich über den Zaun und sprach mit ihnen, aber diese Tiere waren keine schwermütigen Gefangenen dunkler Keller, sondern freie Geister, die nur kurz aufblickten, ehe sie gemächlich weiterkauten.

Sie war jetzt in der Nähe des Hauses hinter einem Lärchenwäldchen. Sie konnte in die Auffahrt einbiegen und von dort in den Park auf der dem Land zugewandten Seite gelangen; oder sie konnte den Weg über den Graben nehmen. Sie entschied sich für das letztere und kam zu einer mit Flechten überzogenen Mauer, an der ein Kiesweg entlangführte. Ein Stück weiter in der Mauer war eine verblichene blaue Tür, von Kletterrosen umrankt. Einen Moment lang zögerte Ruth – aber es war kein Mensch in der Nähe, kein Laut störte die sonntägliche Stille. Beherzt stieß sie die blaue Tür auf und trat in den Garten dahinter.


«Es ist wahrscheinlich wegen der Essensgebote», sagte Verena beschwichtigend zu Frances. «Sie ist Jüdin, wissen Sie. Aus Wien. Vielleicht nahm sie an, daß wir Schweinefleisch essen.» Und sie lachte herzlich über die seltsamen Grillen der Ausländer.

Pilly und Sam, die im Salon Sherry tranken, sahen Verena zornig an. «Ruth macht wegen des Essens überhaupt kein Theater, das weißt du ganz genau. Außerdem ist sie katholisch erzogen worden.»

Sehr geschickt war diese Verteidigung allerdings nicht, da nun keiner wußte, was man sonst als Entschuldigung für Ruth vorbringen sollte. Frances gab sich dennoch mit Verenas Erklärung des koscheren Essens zufrieden und bemerkte, mit dem Stallknecht, der bei Lady Rothley gearbeitet habe, sei es genauso gewesen. «Wir hätten ihr sicher irgend etwas anderes servieren können. Ein Omelett zum Beispiel.»

Lady Plackett verbrachte den Tag bei Verwandten in Cumberland, aber Verena hatte Frances Somerville zur Kirche begleitet und bemühte sich nun, in Kaschmir-Twinset und Perlenkette, ihren Kommilitonen die Befangenheit in der ungewohnten Umgebung zu nehmen. Sie hatte Sam und Huw bereits daran gehindert, selbst ihre Jacken aufzuhängen, und ihnen erklärt, daß es dafür einen Butler gab, und als die jungen Leute sich zu Tisch setzten, behielt sie jene im Auge, von denen sie vermutete, sie könnten mit der Handhabung des Bestecks auf Kriegsfuß stehen. In Bowmont begnügte man sich heute zwar mit einem Minimum an Personal, aber Verena konnte sich gut vorstellen, daß diejenigen unter den Studenten, die aus kleinen Verhältnissen kamen, sich angesichts des Dieners in Schwarz und des Mädchens mit Schürze und Häubchen eingeschüchtert fühlten, und da Dr. Felton sich mit Frances Somerville unterhielt und Dr. Sonderstrom Quin von ihrer jüngsten Reise nach Lappland erzählte, nahm Verena es auf sich, freundliche Konversation zu machen. Selbstverständlich kümmerte sie sich auch um ihren Protegé Kenneth Easton. Es stand natürlich überhaupt noch nicht zur Debatte, ihn ins Haus ihrer Eltern einzuladen, und sie hätte ihn nicht gern im Kampf mit einer Artischocke gesehen, aber wenn man seine Herkunft bedachte, hielt Kenneth sich recht gut.

Den Kaffee nahmen sie im Salon ein, und dann stand Quin auf, empfahl seinen Schützlingen eine Partie Krockett oder ein Tennismatch auf dem ziemlich holprigen Rasenplatz und verschwand mit Roger Felton und Elke Sonderstrom in der Bibliothek.

«Möchte jemand vielleicht einen Rundgang durchs Haus machen?» fragte Frances.

Mehrere Studenten zeigten Interesse, doch ehe die Gruppe aufbrechen konnte, sagte Verena mit angemessenem Respekt: «Wäre es Ihnen recht, wenn ich die Führung übernehme, Miss Somerville? Sie würden sich doch jetzt sicher gern ein wenig Ruhe gönnen.»

Flüchtig runzelte Frances die Stirn. Aber sie selbst hatte Verena ja eingeladen, sich wie zu Hause zu fühlen; das Mädchen wollte sich gewiß nur nützlich machen.

«Sehr schön – aber natürlich nicht den Turm.» Damit ging sie hinaus, ohne sich bewußt zu sein, daß sie eine sehr verärgerte Gruppe von Studenten zurückließ. Sie ging jedoch nicht nach oben, um sich hinzulegen. Sie ging in den Keller, um einen Beutel Knochenmehl und die Blumenzwiebeln zu holen, die am Tag zuvor angekommen waren, und machte sich auf den Weg zum Garten.


Als Frances die Tür in der hohen Mauer öffnete, sah sie zu ihrem Mißvergnügen, daß sie nicht allein war. Ein junges Mädchen stand an der Südwand. Sie stand mit dem Rücken zu ihr und hatte einen Arm zu einem blütenschweren Zweig der Autumnalis-Rose erhoben, die sich an der Mauer emporrankte. Frances machte einen zornigen Schritt vorwärts, um ihren Unmut kundzutun, und sah, daß das Mädchen gar nicht die Absicht hatte, eine Rose zu stehlen, sondern dabei war, einen lang herabhängenden Trieb im Spalier zu verankern, ehe sie erneut die Nase im köstlichen Duft der üppigen tief rosa Blüten vergrub.

«Was tun Sie hier?» sagte sie, keineswegs versöhnt durch diese Würdigung einer ihrer Lieblingspflanzen.

Das Mädchen fuhr erschrocken herum, jedoch Frances' Meinung nach nicht angemessen eingeschüchtert. «Oh, entschuldigen Sie. Professor Somerville sagte, wir könnten uns hier frei bewegen, aber ich sehe ein, daß das hier etwas anderes ist. Der Garten ist ja beinahe ein privater kleiner Raum, nicht? Ein hortus conclusus. Nur das Einhorn fehlt.»

«Das wird auch weiterhin fehlen», versetzte Frances unwirsch. «Die Schafe richten genug Schaden an, wenn sie hereinkommen.»

«Ich gehe gleich», versprach Ruth. «Aber er ist wirklich unwahrscheinlich schön, dieser Garten. So geschützt ... so in sich geschlossen und so üppig ... Diese Rosen! Wie sie blühen! Als wäre es noch Sommer. Und diese silbrig schimmernde Pflanze da mit den Blättern, die wie Federn aussehen – ich weiß nicht, wie sie heißt.»

«Wermut», sagte Frances immer noch mit unwillig gefurchter Stirn.

«Ach, es ist eine Zauberwelt. Dieser Garten hier direkt am Meer ... Beides zu haben ... Oh, und Ihr Schal!»

«Was reden Sie da?» Frances überlegte, ob das Mädchen vielleicht nicht ganz richtig im Kopf sei. Sie starrte den Schal um ihren Hals so beglückt an wie zuvor die weißen Sterne einer spät blühenden Klematis.

«Er ist wunderschön!» rief Ruth, plötzlich richtig glücklich. «Ich habe ihn an dem Hominiden in Professor Somervilles Zimmer gesehen, aber an Ihnen sieht er viel besser aus.»

«Unsinn! Dieses alte Ding. Es wundert mich, daß Quin überhaupt daran gedacht hat, ihn mit herzubringen.»

Nun jedoch mußte sie der Tatsache ins Auge sehen, daß sie die Studentin vor sich hatte, die sich geweigert hatte, zum Mittagessen zu kommen. Wie viele Frauen ihrer Generation hatte Frances als junges Mädchen ein halbes Jahr in Florenz verbracht, um den «letzten Schliff» zu bekommen. Es war ihr schwergefallen, zwischen Tizian und Tintoretto zu unterscheiden, und das Klima hatte ihr zu schaffen gemacht. Aber sie hatte von diesem Aufenthalt doch genug behalten, um zu sehen, daß dieses fremde Mädchen trotz ihrer dunklen Augen in die Tradition all der Primaveras und blumenbekränzten Göttinnen gehörte, die die Maler gern beim heiteren Spiel im grünen Hain zeigten. Hätte sie sich wirklich eine Rose abgerissen und ins Haar gesteckt, es hätte gepaßt. Als jüdische Kellnerin jedoch, für die besonders gekocht werden mußte, war sie nicht zufriedenstellend.

«Sie sind wohl die kleine Österreicherin? Die mit den Eßschwierigkeiten?»

«Ich glaube nicht, daß ich Eßschwierigkeiten habe», entgegnete Ruth verwirrt. «Obwohl ich ehrlich sagen muß, daß ich Kutteln nicht besonders mag.»

«Miss Plackett erklärte uns, daß Sie kein Schweinefleisch essen. Es ist sehr töricht von Ihnen zu glauben, daß man Sie hier zwingen würde, etwas zu essen, das Sie nicht essen möchten. Sie hätten jederzeit ein Omelett haben können.»

Sie ging in die Knie und begann, ein Fleckchen Erde für ihre Zwiebeln zu bereiten, und Ruth kniete neben ihr nieder, um ihr zu helfen.

«Aber ich esse Schweinefleisch sehr gern. Das hat es bei uns zu Hause in Wien oft gegeben – meine Mutter macht es mit Kümmel; es schmeckt köstlich.»

Frances zupfte ein Grasbüschel aus der Erde. «Ich dachte, Sie seien ein jüdischer Flüchtling», sagte sie mit einer Spur Verdrossenheit im Ton, da ihr schon klar war, daß wieder einmal nicht alles so einfach sein würde; wie bei Ann Rothleys blondem Stallknecht, der eigentlich Opernsänger war.

«Ja, das bin ich wohl auch. Ich bin fünf Achtel Jüdin, wissen Sie–oder vielleicht auch drei Viertel – wir wissen es nicht ganz genau, weil Esther Olivares Jüdin gewesen sein kann, aber genausogut auch Spanierin. Sie war aus Valencia und ist immer in einem Schal gemalt worden. Das kann ein Gebetsmantel gewesen sein, aber es kann auch einfach das Tuch gewesen sein, das sie immer umgelegt hat, wenn sie zum Stierkampf gegangen ist. Aber meine Mutter ist katholisch, und wir haben nie koscher gegessen.» Sie riß ein Farnkraut aus und warf es auf das Häufchen Unkräuter. Sie drehte den Kopf und sah Frances an. «Soll ich lieber aufhören zu reden? Ich kann auch still sein, wenn Sie möchten. Ich muß mich nur darauf konzentrieren.»

Frances sagte, es sei ihr gleich, und reichte ihr den Beutel mit dem Knochenmehl.

«Dieser Garten ist wirklich unglaublich schön», sagte Ruth nach einer kleinen Pause. «Wer ihn angelegt hat, muß ein guter Mensch gewesen sein.»

«Ja. Sie war Quäkerin.»

«Wer mit Liebe im Garten arbeitet, kann gar nicht böse sein, nicht wahr? Eigensinnig vielleicht, oder mürrisch und eigenbrötlerisch, aber nicht böse. Ach, schauen Sie doch den wilden Wein an! Ich habe den Oktober immer geliebt. Sie nicht? Diese Farbenpracht. Soll ich einen Schubkarren holen?»

«Ja, er ist drüben hinter der Laube. Und bringen Sie gleich eine Gießkanne mit.»

Ruth verschwand. Minuten verstrichen. Dann ein Aufschrei. Unwillig und einen Moment lang erschrocken stand Frances auf.

Ruth kniete mitten in einem Flecken blaßvioletter Blumen, die im Gras hinter der Laube wuchsen. Sie kniete dort wie in tiefer Anbetung, und Frances, die neuerliche Emotionsausbrüche fürchtete, sagte scharf: «Was ist denn? Das sind Herbstzeitlosen, sonst nichts. Ich habe sie vor ein paar Jahren eingesetzt, und sie haben sich ausgebreitet.»

«Ja, ich weiß. Ich weiß, daß es Herbstzeitlosen sind.» Sie hob den Kopf und strich sich das Haar aus den Augen. Es war, wie Frances gefürchtet hatte; sie war dem Weinen nahe. «Wir haben jedes Jahr auf sie gewartet, bevor wir aus dem Gebirge nach Wien zurückgefahren sind. Oberhalb vom Grundlsee waren ganze Wiesen voller Herbstzeitlosen ... Sie hatten eine besondere Bedeutung für uns – Hochsommer, aber auch, daß es Zeit war, wieder Abschied zu nehmen. Ich hätte nie gedacht, daß ich sie hier am Meer finden würde. Ach, wenn Onkel Mishak doch hier wäre. Wenn er sie nur sehen könnte.»

Sie stand auf, aber es fiel ihr schwer, den Griff des Schubkarrens zu fassen und den Blumen den Rücken zu kehren.

«Wer ist Onkel Mishak?»

«Mein Großonkel – Gartenarbeit ist das Schönste für ihn. Er hat es sogar geschafft, in Belsize Park einen Garten anzulegen, und das ist wirklich nicht einfach.»

«Das kann ich mir vorstellen. Eine schreckliche Gegend.»

«Ja, aber die Leute sind nett. Er hat hinter dem Haus gejätet und umgegraben, und jetzt versucht er, für meine Mutter Gemüse zu ziehen. Wir bekommen zwar keinen Dünger, aber ...»

«Wieso nicht? Den gibt es doch bestimmt überall zu kaufen.»

«Ja, aber wir können ihn uns nicht leisten. Aber das macht nichts – wir nehmen einfach die Küchenabfälle und so. Ach, wenn er die Herbstzeitlosen sehen könnte! Das waren Mariannes Lieblingsblumen. Sie ist gestorben, als ich sechs war, aber ich weiß noch, wie sie immer auf der Wiese über dem Grundlsee stand und nur schaute. Wir anderen sind herumgerannt und haben geschrien, wie schön sie sind, aber Marianne und Mishak haben nur dagestanden und geschaut.»

«Sie war seine Frau?» fragte Frances, der klar war, daß sie informiert werden würde, ob sie es wollte oder nicht.

«Ja. Er hat sie über alles geliebt. Es ist ihm sehr schwergefallen, aus Wien wegzugehen, weil dort ihr Grab ist. Er ist jetzt alt, aber das hilft auch nichts.»

«Wieso sollte es?» fragte Frances kurz und fügte beinahe wider Willen hinzu: «Wie alt?»

«Vierundsechzig», antwortete Ruth, und Frances runzelte wieder die Stirn. Für eine Frau von sechzig ist vierundsechzig nicht alt.

Ruth warf der ehrfurchtgebietenden Herrin des Gartens einen Blick zu und traf eine Entscheidung. Man mußte es verdienen, die Geschichte von Mishak und Marianne zu hören, aber merkwürdigerweise erschien ihr diese Frau mit dem bitterscharfen Wesen, die Quin in Ruhe gelassen hatte, wert, die Geschichte zu hören.

«Möchten Sie hören, wie sie sich kennengelernt haben, Onkel Mishak und Marianne?»

«Meinetwegen», antwortete Frances.

«Also, das war so», begann Ruth, während sie Kompost in die für die Blumenzwiebeln vorbereiteten Löcher gab. «Eines Tages vor vielen, vielen Jahren, als der Kaiser noch auf dem Thron saß, war mein Onkel Mishak an der Donau beim Angeln. Aber an dem Tag fing er keinen Fisch, sondern eine Flasche.»

Sie machte eine Pause, um zu prüfen, ob sie recht gehabt hatte, ob Frances Somerville es wirklich wert war, die Geschichte zu hören. Ja, sie war es.

«Und weiter», sagte Frances.

«Es war eine Limonadenflasche», fuhr Ruth fort. «Und in der Flasche war ein Brief ...»


Spät am Abend dieses Tages stand Frances an ihrem Schlafzimmerfenster und sah aufs Meer hinaus. Es hatte geregnet, an den Bäumen glitzerten noch Wassertropfen, aber der Himmel war wieder klar, und der Mond schien auf das stille Wasser.

Doch die Schönheit der Natur hatte kaum eine Wirkung auf Frances. Sie fühlte sich unruhig und verwirrt. Es hätte alles ganz einfach sein sollen: Verena Plackett, so passend und standesgemäß, würde Quin heiraten. Bowmont würde gerettet werden, und sie würde, wie geplant, in das alte Pfarrhaus im Dorf ziehen und dort mit Martha und ihren Hunden in Frieden leben.

Statt dessen ertappte sie sich jetzt dabei, daß sie über eine Frau nachdachte, die sie nie gekannt hatte, ein reizloses Wesen, das vor vielen, vielen Jahren voll Angst und Scham vor einer Klasse respektloser Kinder in einem österreichischen Dorf gestanden hatte. «Sie war dünn wie eine Bohnenstange», hatte das junge Mädchen im Garten gesagt, «und sie hatte eine große Nase und hat ein bißchen gestottert. Aber für ihn war sie alles.»

Frances war gerade zwanzig Jahre alt gewesen, als sie, in dem Glauben, aus freien Stücken erwählt worden zu sein, zu ihrem Verlobten an der schottischen Grenze gereist war. Sie wußte, daß sie nicht hübsch war, aber sie meinte, eine gute Figur zu haben, und sie war eine Somerville – sie glaubte, das zählte. Das Haus war wunderschön, in einem Tal der Tweedsmuir Hills gelegen. Der junge Mann hatte ihr gefallen; während sie sich an jenem ersten Abend zum Essen ankleidete, stellte sie sich ihre Zukunft vor – als Braut, als Ehefrau, als Mutter ...

Es war spät, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, wo Martha sie erwartete, um ihr beim Auskleiden zu helfen. Sie hatte wohl die Tür offengelassen, denn sie konnte Stimmen aus dem Korridor hören.

«Guter Gott, Harry, du willst doch diesen Ameisenbär nicht im Ernst heiraten?» Eine junge Stimme, hochmütig, spöttisch. Ein alberner Junge, ein Freund ihres Verlobten, der am Abendessen teilgenommen hatte.

«Du wirst Hafer an sie verfüttern müssen – hast du das Gebiß gesehen?» Eine zweite Stimme, noch ein Freund.

«Die reißt dich in Stücke.»

Und dann die Stimme ihres Verlobten, der in den Spaß einstimmte. «Keine Angst, ich habe mir alles genau überlegt. Einmal im Monat besuche ich sie in ihrem Zimmer, in meiner Fechtausrüstung, das ist Polsterung genug. Und sobald sie schwanger ist, verschwinde ich in die Stadt und suche mir was Schnuckeliges.»

Martha war es, die die Tür schloß. Sie half ihr ins Bett und hielt den Mund, als Frances am folgenden Morgen ohne ein Wort abreiste. Sie hielt auch den Mund, als Frances schweigend den Zorn ihrer Familie und die Empörung der anderen Familie über sich ergehen ließ. Das war nun vierzig Jahre her, und seitdem war nichts geschehen. Keine Tür hatte sich für Frances Somerville geöffnet. Kein schwarzgekleideter kleiner Mann war erschienen, um sie zu erlösen.

Irritiert und innerlich aufgewühlt, wandte sich Frances vom Fenster ab, und in diesem Moment kam Martha mit der abendlichen heißen Schokolade herein – hinter ihr das häßliche kleine Hündchen.

«Was hat das denn zu bedeuten?» rief sie, froh, etwas gefunden zu haben, worüber sie ärgerlich sein konnte. «Ich dachte, du wolltest ihn nach dem Tee ins Black Bull hinunterbringen.»

«Mrs. Harper hat ausrichten lassen, daß sie ihn nicht nehmen kann», erklärte Martha. «Ihre Schwiegermutter zieht jetzt für immer zu ihnen, und sie kann Hunde nicht ausstehen.» Sie sah zu dem Hündchen hinunter, das sich zu Frances' Füßen auf den Rücken geworfen hatte. «Er möchte gestreichelt werden.»

«Das sehe ich», sagte Frances und hob es hoch. Nichts hatte sich geändert, weder an der Häßlichkeit des Hündchens noch an seiner tiefen Überzeugung, von Herzen geliebt zu werden.

So weit war es also schon gekommen, dachte sie. Vor zwanzig Jahren hätte sich die Frau eines Gastwirts geehrt gefühlt, wenn die Herrschaft aus dem großen Haus ihr einen Hund geschenkt hätte. Ganz gleich, was für einen. Er paßte genau ins Bild, dieser häßliche kleine Mischling ... er paßte zu jüdischen Kellnerinnen, die beim Anblick von Herbstzeitlosen in Tränen ausbrachen; zu Stallknechten, die Opernarien schmetterten; zu Wagners Stieftochter mit den ungleichen Augen. Comely schlief immer in ihrem Zwinger; es wäre ihr nicht eingefallen, nach oben zu laufen.

«Ich bringe ihn hinunter», sagte Martha und streckte die Arme nach dem Hündchen aus.

«Ach, laß ihn noch ein bißchen hier», entgegnete Frances müde. Mit dem Hündchen im Arm setzte sie sich in den Sessel neben ihrem Bett.

«Ich bin gekommen, um Sie zu holen», hatte der kleine Mann gesagt. Dann hatte er seinen Hut gelüftet und seine Aktentasche geöffnet ...


Die Fahrt zu den Farne-Inseln begann so gut. Das Wetter war in den letzten zwei Tagen unbeständig gewesen, doch jetzt schien die Sonne wieder, und als die Peggoty aus dem Hafen tuckerte, verspürten alle diese Aufwallung freudiger Zuversicht, die jeden erfaßt, der an einem klaren Tag auf blauem Meer Kurs auf eine Insel nimmt.

Auch das Hündchen verspürte sie, das war deutlich zu sehen. Die Zurückweisung durch die Wirtsleute hatte kein Trauma bei ihm hinterlassen, und es war jetzt in seiner Rolle als Maskottchen der Studenten fest etabliert. In sein kleines Boot ließ Quin das Hündchen nicht hinein, aber die Peggoty war ein solider Fischkutter, auf dem es sogar eine Art Kabine gab, in der der Eigentümer, von dem Quin sie jedes Jahr mietete, sonst sein Gerät und seine Netze verstaute. Dort konnte man den Hund einsperren, wenn man an Land ging.

Roger Felton war nicht mitgekommen; er wollte die Funde vom vergangenen Tag sortieren. Quin war am Steuer, hielt auf eine der kleineren Inseln zu. Der Verwalter dort erwartete sie, um ihnen alles zu zeigen. Die spektakuläre Brutzeit im Frühjahr hatten sie verpaßt; da waren die Felsen weiß von nistenden Lummen und Tordalken. Jetzt waren andere Gäste da: Goldhähnchen und Feldlerchen und Ammern – und Robben, zu Hunderten, die jetzt zurückkehrten, um ihre Jungen zur Welt zu bringen.

Sie passierten den Leuchtturm von Longstone, und der Wärter, der gerade sein Gemüsegärtchen umgrub, richtete sich auf, um ihnen zuzuwinken.

«Da ist Grace Darling hergekommen, nicht wahr?» bemerkte Sam, der gerade dachte, wie ähnlich Ruth mit ihrem im Wind flatternden Haar dieser Heldin viktorianischer Zeiten sah.

Quin nickte. «Die Harcar-Felsen sind im Süden, wo die Forfarshire aufgelaufen ist. Wir werden sie auf der Rückfahrt sehen.»

«Mrs. Ridleys Großmutter hat sie noch gekannt. Ist das nicht interessant», sagte Ruth. «Sie hat erzählt, nicht die Tuberkulose hätte sie eigentlich umgebracht, sondern vielmehr der Wirbel, den hinterher alle um sie gemacht haben, als sie sie zur Heldin hochjubelten. Ich hätte nichts dagegen, zur Heldin hochgejubelt zu werden – mich würde das nicht umbringen.»

Daran zweifelte Quin nicht. «Wie haben Sie denn Mrs. Ridleys Großmutter kennengelernt?» erkundigte er sich neugierig. «Sie lebt doch sehr zurückgezogen.»

«Ich war dort, um Eier zu holen, und da sind wir ins Reden gekommen.»

Sie waren dem Ufer schon sehr nahe, als es geschah. Elke Sonderstrom war in die Kabine hinuntergegangen, um ihnen ihre Sachen heraufzureichen. Quin behielt die Landspitze im Auge, während er auf den Steg auf der anderen Seite zuhielt.

Was passierte, war zunächst nur komisch. Ein mächtiger Robbenbulle tauchte plötzlich etwa anderthalb Meter vom Boot entfernt auf der der Insel zugewandten Seite aus dem Wasser empor. Das Hündchen, das auf einem Stapel Segeltuch gedöst hatte, hob neugierig den Kopf.

Der Robbenbulle nieste.

Wie von der Tarantel gestochen, sprang das Hündchen auf und begann aufgeregt zu bellen. Es kletterte zum Rand des Boots hinauf. Unglaublich, was es da sah – einen Vorfahr vielleicht? Ein Ungeheuer? Sein Gebell wurde noch aufgeregter. Es versuchte füßescharrend, sich an der Bordwand hochzuziehen.

Das Boot neigte sich scharf zur Seite. Und innerhalb einer Sekunde war es geschehen – innerhalb einer jener Sekunden, von denen man einfach nicht glauben will, daß sie nicht rückgängig zu machen sind.

«Es ist reingefallen! O Gott! Das Hündchen ist über Bord.»

Quin sah sich um und versuchte, die Chancen des Tieres abzuschätzen. Die See war ruhig, aber die Tide lief hier mit fünf Knoten. Entweder gegen die Felsen geschleudert oder am Boot vorbei ins offene Meer hinausgetrieben zu werden, das waren die Alternativen. Dennoch begann er, das Boot zu wenden, es in den Wind zu steuern.

Keiner hätte sich träumen lassen, daß dies nur der Anfang war. Ruth war impulsiv, aber sie war nicht verrückt. Elke Sonderstrom kam gerade aus der Kabine herauf, sie war zu weit weg, um etwas zu sehen; die anderen hingen über die Bordwand und versuchten, den Kurs des kleinen Hundes zu verfolgen, der wild rudernd mit den Wellen kämpfte, verschwand und wiederauftauchte, verschwand und wiederauftauchte. Erst als Pilly zu schreien begann, sahen sie es. Sahen Ruths erschrockenes Gesicht, als die Strömung sie erfaßte, sahen, wie sie den Kopf drehte, nicht mehr jetzt, um nach dem Hündchen zu suchen, sondern um die beängstigende Geschwindigkeit zu messen, mit der die See sie davontrug.

Die nächsten Sekunden waren für Quin der reinste Alptraum. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, zu warten, bis er das Boot voll in den Wind gedreht und den Motor ausgeschaltet hatte. Er zwang sich, am Steuer zu bleiben, bis er sich darauf verlassen konnte, daß die Peggoty nicht abgetrieben und nicht kentern würde.

«Halten Sie das Boot genau so», befahl er Verena. «Tun Sie nichts anderes.» Sie nickte und übernahm das Steuer.

Jetzt konnte er schnell machen, aber als er das Seil nahm, das Elke ihm hinhielt, gingen wieder wertvolle Sekunden verloren: Sam hatte seine Jacke ausgezogen und kletterte zur Bootsseite hinauf. Quin stürzte sich auf ihn und riß ihn mit solcher Gewalt ins Boot zurück, daß der Junge wie betäubt liegenblieb. Dann endlich hatte er das Seil um seine Mitte, der Knoten war fest.

«Jetzt laßt mich hinunter», sagte er, und gleich darauf war er im Wasser.

Die Felsen waren seine einzige Chance. Wenn sie sich dort so lange festhalten konnte, bis er sie erreicht hatte; doch sie ragten glitschig und glattgeschliffen aus dem Wasser. Er sah, wie sie sich plagte, einen Halt zu finden, wie sie sich aus dem Wasser zog, dann den Halt verlor und versuchte, ihm entgegenzuschwimmen. Doch das war hoffnungslos. Niemand konnte gegen diese Strömung anschwimmen.

In der Peggoty drehte Huw plötzlich den Kopf und übergab sich. Doch das Seil hielt er ruhig und fest in seinen Händen.

Quin war es gelungen, näher heranzukommen – so nahe, daß sie nur den Arm auszustrecken brauchte, um ihn zu erreichen. Aber da schlug eine Welle über ihrem Kopf zusammen, und sie war verschwunden. Zweimal fand er sie und verlor sie wieder. Und dann, als er die Hoffnung beinahe aufgegeben hatte, bekam er etwas zu fassen, das er festhalten und um seine Hand wickeln konnte; das ihm nicht wieder entglitt: ihr Haar.


«Nein», sagte Elke Sonderstrom. «Laß sie jetzt. Du kannst später mit ihr sprechen.»

Quin schüttelte ihre Hand ab. Ohne seine nassen Sachen auszuziehen, hatte er mit klappernden Zähnen das Boot wieder gewendet und es in Richtung Hafen auf Kurs gebracht. Aber jetzt konnte und wollte er nicht länger warten. In ihm kochte ein Zorn, wie er ihn noch nie gekannt hatte; ein Zorn, in dem alles unterging, Kälte, Anstand, Mitleid.

Ruth lag nackt bis auf eine grobe graue Decke in der muffigen kleinen Kabine, in die er sie geschleift hatte. Es roch nach Fisch und nach Teer. Es war beinahe dunkel, aber nicht so dunkel, daß sie Quins Gesicht nicht gesehen hätte.

«Ich hoffe, Sie sind zufrieden. Sie sind jetzt eine Heldin – genau wie Grace Darling! Sie haben das Leben Ihrer Freunde aufs Spiel gesetzt – dieser Junge, der so vernarrt in Sie ist, wollte ihnen hinterherspringen, aber das spielt natürlich gar keine Rolle. Nichts spielt eine Rolle, wenn Sie nur im Mittelpunkt stehen können, Sie verwöhnter, geltungssüchtiger Fratz! Aber eines kann ich Ihnen sagen, Ruth. Niemand wird Sie je wieder auf eine Exkursion mitnehmen. Dafür werde ich sorgen. Sie sind für alle eine Gefahr. Ihnen fehlen nämlich die zwei Dinge, die nötig sind – Rücksicht auf andere und gesunder Menschenverstand. Lieber Himmel, Verena Plackett ist ein Musterexemplar im Vergleich zu Ihnen. Sobald der Arzt bei Ihnen war, schicke ich Sie nach Hause.»

Sie hatte die Augen geschlossen, aber seiner Stimme konnte sie nicht entkommen. «Ist er tot?» fragte sie leise.

«Wer?»

«Der Hund.»

«Vermutlich ja. Sie können froh und dankbar sein, daß er das einzige Opfer ist. Wir schippern hier nicht auf einem idyllischen österreichischen See herum, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten. Das hier ist die Nordsee.» Und als sie den Kopf drehte, um ihre Tränen zu verbergen, flammte sein Zorn von neuem auf. «Hören Sie mir überhaupt zu? Sind Sie überhaupt fähig zu begreifen, was Sie getan haben?»

Ihre Stimme war fast unhörbar. «Könnte ich – bitte – einen Eimer haben? Ich – ich muß mich übergeben.»

Am späten Abend geschah ein kleines Wunder. Von der Wasserwacht kam eine Nachricht, die besagte, daß das Hündchen auf der Insel angespült worden war und lebte. Aber Ruth war nicht da, um sich mit ihnen zu freuen.

«Wir müssen es ihr sagen», rief Pilly. «Wir müssen ihr eine Nachricht zukommen lassen.»

«Der Professor wird es ihr sagen», meinte Elke Sonderstrom. «Nein, bestimmt nicht.» Pillys runde blaue Augen waren tief bekümmert. «Der will sie doch nur bestrafen. Er haßt sie.»

Elke sagte nichts. Sie, die höchst glücklich und zufrieden ohne Männer lebte, sah manchmal tiefer, als sie es sich wünschte.

«Nein, Pilly», widersprach sie ruhig. «Er haßt sie nicht. So ist das nicht.»

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