Ruth erwachte verwirrt und benebelt aus dem Schlaf der Betäubung. Die Uhr auf dem Nachttisch neben dem Bett zeigte auf drei die Stunde vor Tagesanbruch, in der sich einem der Alp auf die Brust setzt, in der die Menschen sterben. Im ersten Moment wußte sie nicht, wo sie war. Sie sah nur, daß sie in einem großen Bett lag und mit irgendeinem Fell zugedeckt war – einem Bärenfell oder etwas noch Ausgefallenerem. Als sie es berührte, erinnerte sie sich.
Sie war in Quins Turm. Nachdem das Boot angelegt hatte, hatte er sie hier herauftragen lassen – immer noch böse und ohne von ihr Notiz zu nehmen, als sie sagte, ihr fehle nichts, sie wolle mit den anderen ins Bootshaus zurück. Er hatte den Studenten befohlen zu gehen und nach zwei Männern vom Hof geschickt, um sie ins Haus hinauftragen zu lassen.
«Solange der Arzt sie nicht gesehen hat, kann niemand zu ihr», hatte er gesagt. Es war nicht Fürsorge oder Besorgnis; das war Strafe.
«Aber mir fehlt doch gar nichts», hatte sie immer wieder beteuert, als später der Arzt gekommen war, ein alter Mann, und sie untersucht hatte.
«Ja, ja», hatte er nur gesagt und ihr ein Schlafmittel gegeben.
Aber ihr fehlte doch etwas. Selbst als Martha mit der Nachricht kam, daß das Hündchen gerettet war, konnte sie sich nicht richtig freuen. Quins Zurückweisung quälte sie, seine Grausamkeit. Sie war in Ungnade; sie sollte nach Hause geschickt werden.
Sie setzte sich auf und ließ die nackten Füße zu den Holzdielen hinunter. Ein so spartanisches Zimmer hatte sie nie gesehen; beinahe ganz ohne Mobiliar; Fenster ohne Vorhänge, durch die das Mondlicht hereinfiel; das Bärenfell achtlos über das Bett mit seinem einen Kopfkissen geworfen. Es war fast so, als schliefe man im Freien.
Das Nachthemd, das sie anhatte, mußte Frances Somerville gehören. Weit geschnitten, aus dickem weißen Flanell, fiel es ihr in losen Falten auf die Füße hinunter; ihr Kinn versank fast in den Rüschen am Hals. Als sie das Licht anknipste, sah sie auf einem kleinen Schreibpult, das an der Wand stand, die Fotografie einer jungen Frau, deren schmales dunkles Gesicht ihr überraschend vertraut war. Sie trat mit dem Bild ans Fenster, um es näher anzusehen.
«Was tun Sie da?»
Sie fuhr herum, wieder ertappt, wieder im Unrecht.
«Tut mir leid. Ich bin aufgewacht.»
Quins Gesicht wirkte immer noch grimmig und verschlossen, aber jetzt bemühte er sich. «Körperlich fehlt ihr nichts», hatte der Arzt zu ihm gesagt, «aber sie scheint einen seelischen Schock erlitten zu haben.»
«Das ist ja wohl verständlich», hatte Quin erwidert. «Schließlich wäre sie beinahe ertrunken.»
Aber der alte Dr. Williams hatte ihn nur angesehen und den Kopf geschüttelt. Er glaube nicht, daß es das sei, hatte er gesagt; sie sei ja jung und kräftig und auch nicht lange im Wasser gewesen. «Seien Sie nicht zu streng zu ihr», hatte er gesagt. «Gehen Sie sanft mit ihr um.»
Darum kam er jetzt zu ihr ans Fenster und sagte: «Fühlen Sie sich besser?»
«Ja, mir fehlt überhaupt nichts. Am liebsten würde ich jetzt gleich weggehen.»
«Das ist leider nicht möglich, armes Rapunzel; nicht vor morgen früh. Und Ihr schönes Haar ist auch nicht lang genug, um daran einen Prinzen heraufzuziehen, der Sie retten könnte.»
«Außerdem sind Prinzen knapp», entgegnete sie, um einen leichten Ton bemüht.
Quin sagte nichts. Früher am Abend hatte er Sam auf der Terrasse angetroffen, wie er zu Ruths Fenster hinaufsah, und hatte ihn weggeschickt.
«Das ist Ihre Mutter, nicht wahr?» fragte sie, den Blick auf die Fotografie gerichtet.
«Sind wir uns so ähnlich?»
«Ja. Sie hat ein sehr intelligentes Gesicht. Und so – lebendig.»
«Ja, ich denke, so war sie auch. Bis ich sie umgebracht habe.» Jetzt war es Ruth, die zornig wurde. «So ein Unsinn! Das ist doch absoluter Quatsch. Schmarrn!» rief sie echt wienerisch. «Sie reden wie ein Küchenmädchen.»
«Wie bitte?» sagte er verblüfft.
Sein Angriff auf dem Boot hatte Ruth befreit. Sie fühlte sich nicht mehr verpflichtet, ihm gefällig zu sein, auf ihn Rücksicht zu nehmen; und so nahm sie jetzt kein Blatt vor den Mund.
«Nein, das hätte ich nicht sagen sollen. Küchenmädchen sind oft sehr intelligent, wie Ihre Elsie zum Beispiel, die mir die Namen aller Pflanzen oben auf den Felsen gesagt hat. Aber Sie reden wie jemand aus einem drittklassigen Liebesroman – Sie, als Mörder Ihrer Mutter! Na ja, was kann man schon von einem Mann erwarten, der sich mit toten Tieren zudeckt ... dem das ganze Meer gehört.»
Besser als gehofft, war es ihr gelungen, ihn aus der Reserve zu locken.
«Das Meer gehört niemandem», entgegnete er heftig. «Und falls es Sie interessieren sollte, das, was mir gehört, werde ich weggeben. Übernächstes Jahr geht Bowmont in den Besitz des National Trust über.»
Sie schnappte nach Luft. Sie war völlig verwirrt und, schlimmer noch, zutiefst bestürzt; sie hatte das Gefühl, einen Schlag in den Magen bekommen zu haben.
«Den ganzen Besitz?» stammelte sie. «Das Haus und den Park und den Garten und den Hof?»
«Ja.» Er hatte seinen Gleichmut wiedergefunden. «Sie als gute Sozialdemokratin wird das doch sicher freuen.»
Sie nickte. «Ja», antwortete sie mühsam. «Es ist bestimmt das richtige. Es ist nur ...»
Aber was es «nur» war, konnte sie nicht in Worte fassen. Daß sie tief getroffen war vom Verlust eines Orts, der mit ihr nichts zu tun hatte, den sie nie wiedersehen würde. Daß sie sich Bowmont anverwandelt hatte, seine Felsen und Blumen, seinen Duft und seine hellen Strände ... In ihrem Leben mit Heini würde sie viel Zeit mit Warten zubringen müssen; in muffigen Zimmern, in überfüllten Zügen. Wie die Nonnen in mittelalterlichen Klöstern, die goldene Bäume und kristallene Flüsse in ihre Gobelins woben, hatte sie sich einen Traum von Bowmont gesponnen: von Pfaden, auf denen sie wandern konnte, von einer verblichenen blauen Tür in einer hohen Mauer. Und der Traum meinte Bowmont so, wie es war – als Quins Reich, als einen Ort, an dem eine gallige alte Frau Blumen mit Zärtlichkeit pflegte.
«Tun Sie es zum Nutzen der Allgemeinheit?» fragte sie.
Quin zuckte die Achseln. «Ich bezweifle, ob die Allgemeinheit wer auch immer sie ist – großes Interesse an Bowmont hat; das Haus ist nichts Besonderes. Den Leuten liegt vor allem am Zugang zum Meer, vermute ich, und das ließe sich mit ein paar zusätzlichen Wegerechten arrangieren. Ich kann leider Ihre Leidenschaft für
«Warum tun Sie es dann?»
Quin nahm ihr die Fotografie seiner Mutter aus den Händen. «Sie haben sich über mich mokiert, als ich sagte, ich hätte sie umgebracht. Aber es ist wahr. Mein Vater wußte, daß sie keine Kinder bekommen sollte. Sie war sehr krank gewesen – sie lernten sich in der Schweiz kennen, als er dort im diplomatischen Dienst war. Sie war in einem Sanatorium, sie hatte Tuberkulose gehabt. Er wollte ein Kind. Er wollte einen Erben für Bowmont. Um jeden Preis.»
«Ja, und?» Ruth zuckte die Achseln. Sie erschien ihm plötzlich erbarmungslos; erwachsen, nicht länger seine Studentin, sein Schützling. «Das wollten Männer doch immer schon. Der Tabakhändler möchte einen Erben für seinen Laden ... der ärmste Rabbi möchte einen Sohn, der für ihn den Kaddisch betet, wenn er tot ist. Warum bauschen Sie das so auf?»
«Wenn ein Mann eine Frau zur Schwangerschaft zwingt ... wenn er ihr Leben aufs Spiel setzt, nur damit er vor seinen eigenen Vater –, den Vater, mit dem er sich entzweit hatte und den er haßte – hintreten und sagen kann:
Aber das akzeptierte sie nicht. «Und sie? Glauben Sie, daß sie so schwach war? Glauben Sie, daß sie es nicht wollte? Sie war tapfer und mutig – sehen Sie ihr doch ins Gesicht. Sie hat sich ein Kind gewünscht. Nicht für Bowmont und nicht für Ihren Vater. Sie wollte ein Kind haben, weil es wunderbar ist, ein Kind zu haben. Warum billigen Sie Frauen nicht zu, daß sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können? Warum dürfen sie nicht genau wie die Männer ihr Leben riskieren? Sie haben das gleiche Recht dazu.»
«Zum Beispiel, um eine Promenadenmischung aus dem Wasser zu retten?» fragte er spöttisch.
«Ja. Für alles, was sie für richtig halten.» Dennoch senkte sie den Kopf; sie wußte, daß sie nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte, sondern auch seines und vielleicht Sams – daß seine Grausamkeit unten auf dem Boot eine Ursache gehabt hatte. «Ich bin auch ein Mischling», sagte sie leise. «Und außerdem hat Ihre Tante ihn sehr lieb.»
«Was? Das Hündchen? Wie kommen Sie denn auf diese Idee? Sie bemüht sich doch ständig nur, es loszuwerden.»
Wieder zuckte Ruth die Achseln. «Mein Vater sagt immer:
«Woher wissen Sie das alles?» fragte er gereizt. Woher wußte sie nach einer Woche Aufenthalt in Bowmont, daß Elsie sich für Heilpflanzen interessierte, daß Mrs. Ridleys Großmutter die Darlings gekannt hatte? Dieser Drang, alles ganz genau wissen, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen, war ja zum Wahnsinnig werden! Der Mann, der sie einmal heiratete, würde die Wände hochgehen. Heini würde die Wände hochgehen. «Na ja, wie dem auch sei, mein Vater hat sich davon nie erholt. Er hat das Gefühl seiner Schuld sein Leben lang mit sich herumgeschleppt. Wahrscheinlich hat es ihn auch umgebracht – er meldete sich 1916 freiwillig, obwohl dazu überhaupt keine Notwendigkeit bestand.»
«Jetzt fangen Sie schon wieder an! Ihr Engländer seid unglaublich melodramatisch! Eine Kugel hat ihn umgebracht.»
«Was ist eigentlich los mit Ihnen?» fragte Quin, der es nicht gewöhnt war, melodramatischer Neigungen beschuldigt zu werden, noch dazu von einem jungen Ding, das stark zu Gefühlsausbrüchen neigte. Und dennoch ging er, völlig perplex über seine eigene Reaktion, zu dem kleinen Schreibpult an der Wand, sperrte eine Schublade auf und nahm ein altes Heft mit blau marmoriertem Einband heraus.
«Lesen Sie es», sagte er. «Das ist das Tagebuch meines Vaters.»
Das Heft fiel von selbst bei jener Seite auseinander, die er hundertmal gelesen und niemals einer Menschenseele gezeigt hatte. Ruth nahm es und trat näher an die Lampe.
«Eben bin ich von Claires Beerdigung zurückgekommen», las sie, «und Marie brachte mir das Baby, als könnte sein Anblick mich trösten, der Anblick dieses zerknitterten kleinen Geschöpfs mit seiner unersättlichen Lebensgier. Das Kind hat sie umgebracht – nein, ich habe sie umgebracht. Ich war klüger als die Ärzte, die mir gesagt hatten, daß sie kein Kind haben darf. Ich wußte es besser, ich wollte einen Sohn. Ich wollte den Jungen nach Bowmont bringen und meinem Vater zeigen, daß ich einen Erben hervorgebracht habe – daß er mich nicht länger zu verachten braucht. Ja, ausgerechnet ich, der ihn gehaßt hat, der aus Bowmont floh und Reichtum und Erbe den Rücken kehrte, war genauso verdorben von dem Verlangen nach Macht wie er. Claire wollte ein Kind; ich versuche, das nicht zu vergessen, aber es war meine Aufgabe, bedachter zu sein als sie.
Jetzt muß ich versuchen, dieses Kind zu lieben, ihm keinen Vorwurf zu machen; aber ohne sie fehlt mir die Lust am Leben, und ich habe keine Liebe mehr zu geben. Wenn ich einen Wunsch habe, so den, daß dieses Kind wenigstens sich von seinem Erbe befreien und ein freier Mensch unter gleichen werden wird.»
Ruth klappte das Tagebuch zu. «Der arme Mann», sagte sie leise. «Aber warum balsamieren Sie ihn ein? Sie sollten Radieschen ziehen, wie mein Onkel Mishak.»
«Was?» Einen Moment lang fürchtete er, ihr Verstand hätte unter dem Unfall gelitten.
«Marianne mochte keine Radieschen. Seine Frau. Solange sie lebte, hat er nie welche gezogen. Als sie gestorben war, sagte er,
Quin sah sie an und wollte etwas sagen. Aber dann nahm er nur das Tagebuch und schloß es wieder im Schreibpult ein. «Kommen Sie», sagte er, «ich glaube, es ist Zeit, daß Sie den Basher kennenlernen.»
Er nahm sein altes Tweedjackett vom Haken hinter der Tür und legte es ihr um die Schultern. Dann führte er sie nach unten, und sie gingen durch den Korridor, der den Turm mit dem Haus verband. Behutsam berührte sie dies und jenes, den schäbigen schwarzen Ledersessel, die Platte eines vielbenützten, vielpolierten Tischs, während er sie, die Hand leicht auf ihrem Rücken, durch die Räume führte. Was sie sah, gefiel ihr. Im Inneren der Festung war ein schlichtes Heim ganz ohne Prätentionen, in dem alles den Stempel jener Frau trug, die seit Jahren die Hüterin des Hauses war. Frances Somerville, die Quin in Ruhe gelassen hatte, hatte auch dieses Haus in Ruhe gelassen.
In der Bibliothek blieb Quin stehen, und Ruth, in Frances' voluminösem Flanellnachthemd, Quins Jackett lose um die Schultern, sah vor sich in schwerem goldenen Rahmen das Bildnis des Konteradmirals Quinton Henry Somerville.
Der Basher war siebzig Jahre alt gewesen, als das Porträt in Auftrag gegeben worden war, und der Maler, ein verdienstvoller Einheimischer, hatte sich offensichtlich alle Mühe gegeben, seinem Modell zu schmeicheln, doch der Erfolg war bescheiden geblieben. In den roten Wangen des Basher sah man die infolge von Wetter und Whisky geplatzten Äderchen; seine kurze, stark aufgeworfene Nase hatte an der Spitze einen bläulichen Schimmer. Trotz der prächtigen Uniform, trotz des bulligen Nackens, der aus dem goldbetreßten Kragen emporstieg, ähnelte Quins Großvater mit seinem schmalen Mund, dem kahlen Kopf und den eigensinnigen blauen Augen vor allem einem schlechtgelaunten Säugling.
«Und trotzdem», sagte Ruth, «da ist irgend etwas ...»
«Oh ja, da ist eine ganze Menge. Sturheit, Gewalt ... in der Marine hat er seine Offiziere tyrannisiert, und den einfachen Matrosen, meinte er, könnten Hiebe nur guttun. Er hat des Geldes wegen geheiratet – es war eine Menge Geld – und hat seine Frau abscheulich behandelt. Und als er starb, hat sich ganz Northumberland zu seiner Beerdigung eingefunden, und alle schüttelten sie die Köpfe und sagten, die guten Zeiten seien vorbei und England würde nie wieder das werden, was es einmal gewesen war.»
«Ja, das kann ich mir vorstellen.»
«Er hat meinen Vater verachtet, weil der Gedichte liebte – weil er gern mit seiner Mutter im Garten war. Er hatte eine Todesangst, er könnte einen Feigling großgezogen haben. Das war das einzige, was ihm je Angst gemacht hat – daß sein Sohn ein Schwächling sein könnte. Mein Vater war todunglücklich auf dem Internat – er kam hin, als er sieben war, und weinte sich jahrelang jeden Abend in den Schlaf. Er haßte das Meer und er haßte das Segeln. Er war ein sanfter Mensch, und der Basher verachtete ihn dafür aus tiefstem Herzen. Er wollte meinen Vater zwingen, zur Marine zu gehen, aber mein Vater weigerte sich. Und er gab auch nicht klein bei. Als er fünfzehn war, lief er von zu Hause weg. Zu einer Verwandten seiner Mutter. Sie nahm ihn mit ins Ausland, und er trat in den diplomatischen Dienst ein. Er machte eine anständige Karriere, aber nach Bowmont ist er nie zurückgekehrt. Er verabscheute alles, wofür es stand – Macht, Privilegien, Philistertum, Geringschätzung all der Dinge, die er hochschätzte. Und dennoch hat er am Ende das Leben meiner Mutter aufs Spiel gesetzt, damit eben das alles weiterbestehen konnte.»
Ruth sagte nichts. Sie betrachtete das Porträt und fragte sich, wieso dieser grimmige Engländer eine Nase wie Beethoven hatte, wunderte sich, daß ihr dieses harte alte Gesicht nicht unsympathisch war.
«Aber Sie haben ihn gemocht?»
«Nein.» Quin zögerte. «Ich war acht, als ich nach Bowmont kam. Ich hatte nur Schlimmes von ihm gehört, und er entsprach allem, was ich gehört hatte. Er verfrachtete mich in den Turm, packte mich unter das Eisbärenfell und fertig. Ich war vollkommen allein dort oben, ein Kind von acht Jahren, dessen Vater gerade im Krieg gefallen war. Ich hatte Angst im Dunklen, jeder Abend, wenn ich zu Bett mußte, war die Hölle. Es gefiel mir im Turm, aber ich wollte ein Nachtlicht – ich bettelte darum, aber er sagte nein. Draußen, im Freien, hatte ich vor nichts Angst; ich kletterte, ich segelte, ich liebte das Meer genau wie er. Er sah das auch, aber er war stur. Eines Tages sagte ich:
«Harcar? Das ist doch die Stelle, wo die Forfarshire gesunken ist? Wohin Grace Darling gerudert ist?»
«Ja. Jedenfalls – ich tat es. Bei Tagesanbruch bin ich losgesegelt – ich war klein, aber kräftig; segeln ist nur Geschicklichkeit, sonst nichts. Trotzdem ist mir unbegreiflich, wie ich das geschafft habe, ohne umzukommen; es gibt dort schreckliche Strömungen. Als ich zurückkam, stand er am Strand. Er sagte kein Wort. Er nahm mich nur am Arm und führte mich mit eiserner Hand zum Haus hinauf. Dort schlug er mich mit solcher Gewalt, daß ich eine Woche lang nicht sitzen konnte. Aber am Abend, als ich zu Bett ging, war es da – mein Nachtlicht.»
«Ja», sagte Ruth nach einer Pause. «Ich verstehe.»
«Es wäre kein Problem für mich, Bowmont zu übernehmen, Ruth. Ich kann mir eine Frau suchen ...» Er unterbrach sich – «eine neue Frau –, ich kann Söhne in die Welt setzen. Das ist keine Sache. Aber ich kann nicht vergessen, was Bowmont und alles, was es verkörpert, aus meinem Vater gemacht hat. Ich kann nicht vergessen, daß meine Mutter für seinen Familienstolz sterben mußte. Sollen andere es haben. Ich werde sowieso bald wieder auf Reisen gehen. Es sei denn ...» Aber es war überflüssig, ihr von dem Krieg zu sprechen, der seiner Überzeugung nach kommen würde.
Wieder zurück im Turm, nahm er ihr das Jackett ab. «Morgen können Sie zu Ihren Freunden zurückkehren, Rapunzel», sagte er. «Jetzt schlafen Sie sich erst einmal richtig aus.»
Die plötzliche Sanftheit warf sie fast um. «Dann kann ich also bleiben?» fragte sie, den Tränen nahe.
«Ja, Sie können bleiben.»
«Liebling! Kind!» rief Lady Plackett, als sie ihre Tochter am Abend der Geburtstagsfeier in großer Toilette sah. «Er wird hingerissen sein.!»
Verena lächelte. Sie konnte nicht umhin, mit ihrer Mutter einer Meinung zu sein. Gleich nachdem beschlossen worden war, ihren Geburtstag mit einem kleinen Fest zu feiern, war Verena auf der Suche nach einem passenden Abendkleid zu Fortnum geeilt. Die Direktrice hatte ein schmales, fließendes Kleid aus weißem Georgette im Stil einer römischen Tunika vorgeschlagen, um, wie sie meinte, Verenas klassische Schönheit zu unterstreichen.
Aber damit war Verena nicht einverstanden gewesen. Gerade an dem Abend, an dem, wie sie hoffte, ihr Schifflein in den Hafen einlaufen würde, wollte sie von Kopf bis Fuß feminin wirken, und so hatte sie sich gegen den Rat der Verkäuferin für ein erdbeerrotes Taftkleid mit Stufenrock entschieden, dessen einzelne Volants genau wie die Puffärmel und das herzförmige Dekolleté mit Rüschen gesäumt waren. Um die jugendliche Frische ihrer Erscheinung zu betonen, die, wie sie wußte, manchmal hinter ihrer hohen Intelligenz zurücktrat, trug sie im Haar einen Kranz aus Rosenknospen.
Für eine kleine Feier, wie sie ursprünglich geplant gewesen war, wäre ihre Toilette zweifellos viel zu aufwendig gewesen, aber die Planungen hatten, genau wie die Placketts gehofft hatte, ihre eigene Dynamik entwickelt, so daß auf das bevorstehende Fest das Wort «klein» längst nicht mehr anzuwenden war. Etwa zur gleichen Zeit, als Verena in ihre Satinschuhe schlüpfte – mit flachem Absatz natürlich, da nicht zu erwarten war, daß Quin, der inzwischen seinen einunddreißigsten Geburtstag hinter sich hatte, noch wachsen würde –, warfen junge Mädchen in allen Teilen Northumberlands letzte prüfende Blicke in den Spiegel, banden junge Männer ihre schwarzen Smokingschleifen oder zogen die Jacken ihrer Ausgehuniformen über, um sich auf den Weg nach Bowmont zu machen. Diese meerumschlungene Festung nämlich, die, während ihr Herr meist durch Abwesenheit glänzte, von einer strengen Hüterin verwaltet wurde, war immer etwas Besonderes gewesen – und vielleicht wußten sie, was Quin wußte: daß das Schicksal an die Tür klopfte und Vergnügen jetzt Pflicht war.
Ann Rothley und Helen Stanton-Derby waren früher gekommen, um Frances zu helfen. Helen hatte Ladungen rost- und goldfarbener Chrysanthemen mitgebracht, Hagebutten und Waldrebe, und verschwand mit mehreren Rollen Blumendraht, um den Salon in eine farbenprächtige herbstliche Laube zu verwandeln, während Ann nach oben gegangen war, um Frances bei der Toilette zu beraten. Jetzt saßen die drei Frauen in der großen Eingangshalle und tranken vor dem Eintreffen der Gäste ein wohlverdientes Glas Sherry.
«Es ist doch alles wunderschön geworden», sagte Ann. «Warte nur, der Abend wird bestimmt ein riesengroßer Erfolg.»
«Hoffentlich.» Frances sah müde aus.
«Aber sicher, noch dazu, wo Verena sich so heldenhaft benommen hat», sagte Helen, vom Blumendraht ein bißchen blutig an den Fingern. «Wir sind alle so beeindruckt.»
Verenas Version dessen, was sich auf der Fahrt zu den Farne-Inseln abgespielt hatte, wurde inzwischen allgemein akzeptiert. Jeder wußte, daß eine ausländische Studentin, die den Kopf verloren hatte, ins Wasser gesprungen war und aller Leben in Gefahr gebracht hatte; daß Quin absolut wütend gewesen war, und daß es Verena, indem sie Ruhe bewahrt und das Boot auf Kurs gehalten hatte, gelungen war, eine Tragödie abzuwenden.
«Ich weiß eigentlich gar nicht genau, warum das Mädchen überhaupt ins Wasser gesprungen ist», bemerkte Helen. «Irgend jemand sagte, sie wollte dein kleines Mischlingshündchen retten, aber das kann doch nicht stimmen?»
«Doch, so scheint es gewesen zu sein», erwiderte Frances.
Obwohl die beiden Frauen sehen konnten, daß Frances keinen Wunsch hatte, über den Unfall zu sprechen, konnten sie ihre Neugier nicht zügeln.
«Ich finde das wirklich ungewöhnlich», bemerkte Ann. «Noch dazu für eine Ausländerin! Ich dachte immer, die hätten für Tiere nichts übrig. Ich muß allerdings sagen, mit dem Stallknecht war es das gleiche – wenn ein Kalb gestorben ist, mußte man ihn mit Gewalt wegziehen, sonst hätte er die ganze Nacht dagesessen und geheult.»
«Was treibt er jetzt eigentlich?»
«Ach, er ist in London – sie haben ihn in Covent Garden in den Chor aufgenommen, und meine Melkerin ist außer sich vor Liebeskummer. Ein albernes Ding– er hat sie nie im geringsten ermutigt.» Doch der Themawechsel hatte sie nicht abgelenkt, wie Frances gehofft hatte. «Was ist das denn für ein Mädchen, die Kleine, die gesprungen ist?»
«Sie ist auch blond», sagte Frances verdrossen.
Helen Stanton-Derby seufzte. «Nun, ich finde das alles sehr unbefriedigend», sagte sie. «Wir wollen hoffen, daß Hitler das Handwerk gelegt werden kann, bevor ...»
Aber die anderen hörten ihr nicht mehr zu, sie sahen zur Treppe hinauf. Dort stand Verena, bereit, zu ihnen hinunterzusteigen.
Einen Moment lang wurden die Gesichter der drei Frauen vom gleichen Schatten des Unbehagens verdunkelt – der sich jedoch gleich wieder hob. Es war rührend, daß Verena sich so bemüht hatte, und die weichere Beleuchtung des Salons, das diffuse Licht der chinesischen Laternen auf der Terrasse würden die Farbe des Kleides sicherlich dämpfen. Im übrigen, sagten sich die drei Damen, war ihre Meinung gar nicht wichtig – wichtig war allein, wie Verena auf Quin wirkte.
Sie drehten die Köpfe und atmeten alle drei erleichtert auf. Quin war in die Halle gekommen und ging zur Treppe, zweifellos, um sie in Empfang zu nehmen und ihr zu sagen, wie reizend sie aussah.
Und so unzutreffend war dieser Gedanke gar nicht. An Verenas unglücklichen Sturz am ersten Abend erinnert, lächelte er dem Geburtstagskind entgegen und sagte: «Sie sehen bezaubernd aus, Verena. Sie werden heute abend zweifellos die Schönste sein.»
Als er ihren Arm nahm und sie in den Salon führte, begann irgendwo ein Telefon zu läuten.
Unten am Strand sammelte Ruth Holz für das Lagerfeuer. Das Hündchen begleitete sie, vom Meer jedoch war es geheilt. Immer wenn sie allzu nahe ans Wasser ging, ließ es das Stöckchen fallen, das es herumtrug, setzte sich hin und heulte zum Gotterbarmen.
«Das wird ein tolles Lagerfeuer, das beste, das wir bis jetzt gehabt haben», sagte Pilly, und Ruth nickte und krauste die Nase vor Entzücken über den Duft von Holz und Teer und Tang und diesen anderen Geruch ... diesen beißenden, geheimnisvollen Geruch, der vielleicht der des Ozons war, vielleicht aber auch der des Meeres selbst. Der Glückszustand, den Quin auf dem Boot zerstört hatte, hatte sich wieder eingestellt. Am liebsten wäre sie für immer hiergeblieben, um hier mit ihren Freunden zu leben und zu lernen.
Als sie aufblickte, sah sie einen Mann den Felspfad herunterkommen und im Bootshaus verschwinden, und gleich danach kam Roger Felton heraus und eilte zu ihr.
«Ihre Mutter hat angerufen, Ruth. Sie möchten sie bitte gleich zurückrufen. Sie wartet beim Telefon.» Als er ihr Gesicht sah, fügte er hinzu: «Es ist bestimmt nichts Schlimmes. Ich nehme an, Heini ist früher gekommen.»
«Ja.» Dennoch war Ruth leichenblaß geworden. Niemand in Nummer 27 telefonierte ohne guten Grund. Das Telefon stand im Hausflur, jeder konnte mithören. Und das Telefonieren kostete eine Menge Geld. Ihre Mutter hätte so kurz vor ihrer Rückkehr nicht angerufen, wenn sie ihr nicht etwas Wichtiges mitzuteilen hätte. Es konnte natürlich gute Nachricht sein ... vielleicht war Heini wirklich schon angekommen ... ja, das konnte es natürlich auch sein.
«Ich komme mit dir», sagte Pilly.
«Nein, Pilly, ich möchte allein gehen. Paß du auf den Hund auf.»
«Wenn Sie mir bitte folgen würden, Miss. Ich bring Sie zu Mr. Turton. Im Haus geht's gerade ein bißchen laut zu, weil die Gäste alle kommen. Aber Mr. Turton hat in seiner Anrichte ein Telefon. Da sind Sie ungestört.»
«Danke», sagte Ruth. Sie schluckte, weil ihr Mund wie ausgetrocknet war, zwang sich zu einem Lächeln und folgte ihm den Weg hinauf zum Haus.
Sie hatte es geschafft, den ganzen Abend mit den anderen am Lagerfeuer zu sitzen und nichts zu sagen. Sie hatte mit ihnen gesungen und beim Aufräumen geholfen. Aber als sie jetzt neben Pilly im Schlafsaal lag, wußte sie, daß sie es nicht mehr aushalten konnte, hier an diesem unberührten Ort zu sein, der einen alle Angst und Sorgen vergessen ließ und einen glauben machte, die Welt sei schön.
Sie mußte zurück; sie mußte sofort zurück. Drei weitere Tage waren jetzt, da sie wußte, was sie wußte, unerträglich. Wieder hörte sie die Stimme ihrer Mutter, leise und von Störungen verzerrt, ihre abgerissenen Worte ...
Es war ein ganzes Stück nach Mitternacht; alle schliefen. Ruth stand auf, zog sich an, kritzelte beim Licht einer Taschenlampe ein paar Zeilen. Sie würde nur den kleinen Leinenbeutel mitnehmen, den sie auf den Ausflügen bei sich gehabt hatte; den Rest würde Pilly bringen. Sie würde versuchen, ein Auto zu finden, das sie nach Alnwick mitnahm, und dort auf den ersten Bummelzug warten, der in Newcastle Anschluß an den Expreß hatte. Es war gleich, wie lange sie brauchte, Hauptsache, sie war unterwegs. Jede halbe Stunde mehr, die sie hier verbrachte, war ein Verrat.
Leise stieg sie die Leiter hinunter und ging hinaus. Die Schönheit des mondglänzenden Meeres machte ihr selbst jetzt in ihrem Elend tiefen Eindruck, aber sie würde sich nicht wieder verführen lassen, nie wieder. Rasch ging sie das Sträßchen zwischen den Erlen und den Haselnußbüschen hinauf.
Als sie oben hinter dem Haus ankam, hörte sie Musik. Cole Porters Night and Day, ein wunderbares Lied, träumerisch ... und sie sah das Licht, das auf die Terrasse hinausströmte. Natürlich. Verenas Geburtstagsfeier. Sie hatte sie ganz vergessen – seit dem Anruf ihrer Mutter in eine andere Welt versetzt. Als sie mit der Absicht, den Weg zur Straße abzukürzen, über den Kies ging, sah sie, daß die Auffahrt voller Autos war: hauptsächlich Zweisitzer, blaß und farblos im Mondlicht, die Form jedoch – elegant, schnittig. Autos für lachende junge Männer mit flatternden Schals und großen Autobrillen, die, einen Arm um ihre kichernden Freundinnen gelegt, zu schnell fuhren.
Etwas früher war ein kurzer Regenschauer niedergegangen. Ihre Schuhe waren sofort durchnäßt, als sie über den Rasen ging. Die Lampions schwankten sachte im leichten Wind; die hohen Fenster waren nicht verhüllt und oben offen. So klar wie auf einer Bühne konnte sie die tanzenden Paare sehen. Die Melodie war jetzt eine andere, ein Tango. Sie kannte den Text: It was all 'cos of my jealousy. Einige Paare tanzten Wange an Wange, die meisten alberten herum, weil es den Briten unmöglich war, irgend etwas ernst zu nehmen; ganz gewiß nicht die Eifersucht, ganz gewiß nicht die Liebe.
Der Salon erschien jetzt, da die Flügeltür geöffnet war, riesengroß. Sie sah den leuchtenden Blumenschmuck, die silbernen Eiskübel für den Champagner. Einige ältere Frauen saßen am Rand der Tanzfläche und beobachteten die jungen Mädchen in ihren festlichen Kleidern und die arroganten jungen Männer.
Und wie arrogant sie waren! Wie sie dröhnten und lachten, als die Musik aufhörte, die Köpfe warfen, ihre Mädchen zur Kredenz zogen, wo die Gläser standen, sich und ihnen frisch einschenkten. Sie brüllten vor Lachen und klopften sich gegenseitig auf die Schultern, während in Wien Menschen in Viehwaggons zusammengetrieben und nach Osten gebracht wurden, während Heini ...
Aber davor schreckte ihr Geist zurück. Er wollte Heini nicht folgen.
Jetzt konnte sie Quin sehen. Er war gerade ins Zimmer gekommen, mit einem hohen Glas, das er zu Verena brachte, die in einem hochlehnigen Sessel saß. Er hatte keine Ähnlichkeit mit den schwadronierenden jungen Männern, das mußte sie selbst in ihrem Zorn zugeben. Er sah älter und klüger aus, aber er gehörte dazu.
Verena blickte mit einem koketten Augenaufschlag zu ihm auf, und er neigte aufmerksam den Kopf, als sie etwas sagte, während die alten Damen befriedigt nickten. Es schien wahr zu sein, was alle sagten – daß er Verena heiraten würde. Sie deutete auf etwas auf dem Boden, und er bückte sich, um es aufzuheben, und reichte es ihr mit einer galanten Verneigung. Eine Rose aus ihrem ungewöhnlichen Kopfschmuck! Quin als Rosenkavalier– grotesk! Ein Mann, der aus dem Stadtpark gerannt war, als wäre Musik schlimmer als die Pest.
Als hätten sie ihre Gedanken erspürt, stimmten die drei ernsthaften, dunkelgekleideten Männer auf dem Podium einen Walzer an. Nicht Strauß, sondern Lanner, den sie ebensosehr liebte. Sie kannte das Stück gut, sie hatte im Wienerwald mit Heini zu dieser Musik getanzt.
«Ach nein! Doch nicht diese ollen Kamellen!» Sie hörte den geringschätzigen Ton des blonden jungen Mannes mit dem gestriegelten Haar ganz deutlich. «Spielen Sie doch was Anständiges!» Ein zweiter junger Mann, fast das genaue Abbild des ersten, torkelte kopfschüttelnd zum Podium.
Aber die Band spielte verbissen weiter; spielte vielleicht nicht sehr gut, aber gewissenhaft, und die jungen Männer gaben nach und zogen ihre Mädchen auf die Tanzfläche hinaus, wo sie den anmutigen Schwung des Walzers parodierten, die Schritte übertrieben. Die meisten waren inzwischen betrunken, sie machten sich einen Spaß daraus, Zusammenstöße zu provozieren, die Musik eines anderen Landes zu verspotten. Einer von ihnen stolperte und wäre beinahe gefallen – ein hochaufgeschossener Junge mit schwarzen Locken, und das war nun wirklich komisch. Seine Partnerin versuchte, ihn hochzuziehen, und dann kippte ihm ein rothaariger Junge mit Sommersprossen Champagner ins Gesicht. Es war ja alles so lustig. Zum Kaputtlachen ...
Der Stein lag in ihrer Hand, noch ehe sie sich bewußt war, ihn aufgehoben zu haben. Sie mußte ihn schon früher bemerkt haben, denn er hatte genau die richtige Größe, schwer genug, um Wirkung zu haben, leicht genug, um von ihr mit Kraft geworfen zu werden. Der Akt des Werfens selbst war wie eine Katharsis; dann das Klirren des zersprungenen Glases. Ihr schien, daß sie Sekunden, beinahe Minuten wartete, aber es war nicht so, denn als Quin, von einer ärgerlichen Gruppe junger Leute verfolgt, auf die Terrasse herauskam, rannte sie schon über den Rasen in die Dunkelheit, auf dem Weg zur Straße.
«Da ist sie!»
«Es ist ein Mädchen! Komm, die schnappen wir uns!»
Dann Quins Stimme, ruhig, aber scharf wie ein Peitschenknall. «Nein. Sie gehen jetzt alle wieder hinein. Ich kenne das Mädchen, sie ist aus dem Dorf, und ich werde das mit ihr erledigen.»
Sie gehorchten ihm. Er hatte gesehen, in welche Richtung sie gelaufen war, aber es bestand die Gefahr, daß sie versuchen würde, sich im Wäldchen zu verstecken. Er wußte, daß sie nicht entkommen konnte, denn das Wäldchen endete an einem hohen Zaun, aber es gab dort manchmal Fallen, die die Wilderer stellten. Dennoch zwang er sich, nicht zu laufen, solange er noch im Blickfeld des Hauses war.
Er holte sie leicht ein. Sie hatte genau das getan, was er erwartet hatte.
«Warten Sie!» rief er. «Da im Wald sind manchmal Fallen! Seien Sie vorsichtig!» Er sprach Deutsch, weil er hoffte, sie dadurch zu beruhigen, und näherte sich ihr langsam. «Bleiben Sie stehen.»
Sie war schon stehengeblieben. Sie lehnte an einer jungen Tanne, und ihre Haltung im wechselnden Mondlicht erinnerte an einen jungen Sankt Sebastian, der auf die Pfeile wartet.
«Ich habe für schlechte Manieren nichts übrig», sagte Quin ruhig. «Diese Leute sind meine Gäste.»
Sie hob ruckartig den Kopf und richtete sich auf. «Ja, genau solche Gäste, wie man sie bei Ihnen erwarten würde – bei einem Mann, dem das ganze Meer gehört. Grölende, dumme Lackaffen, die sich über Musik lustig machen. Wissen sie, was vorgeht? Können sie überhaupt lesen? Haben sie gesehen, was in den Zeitungen steht? Nein, natürlich nicht, denn sie lesen ja nur den Sportteil; welches Pferd schneller war als die anderen. Und den Gesellschaftsklatsch, damit sie genau wissen, wer wieder mal vor dem König geknickst hat.» Sie zitterte so heftig, daß sie nur stoßweise sprechen konnte. «Heute – jetzt – während die da drinnen sich betrinken und amüsieren, werden die Menschen meines Volkes zusammengetrieben und in Viehwagen verladen und abtransportiert. Während hier der Champagner in Strömen fließt und die da drinnen sich vor Trunkenheit kaum noch auf den Beinen halten können, werden junge Männer, die an Gleichheit und Brüderlichkeit geglaubt haben, auf den Straßen zusammengeschlagen.»
Quin machte keinen Versuch, sie zu trösten. Er war so zornig wie sie, aber seine Stimme war völlig beherrscht. «Ich will Sie nicht darauf hinweisen, daß die Menschen Ihres Volkes – wenn wir das Wort einmal in einem anderen Sinn gebrauchen – zu Tausenden auf dem Heldenplatz standen und Hitler entgegenjubelten. Aber dies eine will ich Ihnen doch sagen: Wenn Sie die jungen Leute verhöhnen, die Sie hier gesehen haben, begehen Sie nicht nur eine Ungezogenheit; Sie begehen eine Ungerechtigkeit, derer Sie sich noch zutiefst schämen werden – und sehr bald schon. Denn genau diese dummen Lackaffen sind es, die in den Kampf ziehen werden, wenn es zum Krieg kommen sollte. Sie werden sich dem Bösen entgegenstellen, das Hitler ist, wenn auch nur aus Jux und Tollerei. Der Junge, der zuviel getrunken hat und hingefallen ist, hat gerade Sandhurst absolviert. Er ist Ann Rothieys einziger Sohn, und wenn es zum Krieg kommt, werden ihm wahrscheinlich keine sechs Monate gegönnt sein. Sein Freund – der, der ihm den Champagner ins Gesicht gekippt hat – ist Leutnant bei der Marineinfanterie. Er ist mit dem Mädchen in dem blauen Kleid verlobt, und sie haben die Hochzeit vorverlegt, weil er nach Übersee versetzt wird. Die Bainbridge-Zwillinge – die beiden, die keinen Walzer mögen – sind bei der Air Force. Alle beide. Ich würde ihnen vielleicht ein Jahr geben, weil sie hervorragende Piloten sind, aber mehr ganz gewiß nicht. Wenn Sie nächstes Jahr oder das Jahr danach in dieses Zimmer schauen, werden Sie ein Zimmer voller Gespenster sehen – voll toter Männer und weinender Frauen. Während Ihr Heini, vermute ich, immer noch seine Arpeggios üben wird.»
«Nein!» Ihre Stimme war kaum zu hören. Sie schaffte es nicht, den Schutz des Baums zu verlassen. «Ich habe heute abend einen Anruf bekommen. Sie haben ihn gefangen. Heini ist in einem Lager.»