«Also ehrlich, manchmal wünsche ich mir, das menschliche Herz wäre wirklich nur eine dickwandige Gummibirne, du nicht?» sagte Ruth zu Janet, mit der zusammen sie zurückgeblieben war, um ein Modell des Kreislaufsystems abzuzeichnen, das Dr. Fitzsimmons freundlicherweise für sie konstruiert hatte.
Fast zwei Monate waren seit Weihnachten vergangen, und Heinis leidenschaftliches Flehen um die Erfüllung ihrer Liebe sollte endlich erhört werden. Ruth hatte es nicht absichtlich so lange hinausgezögert. Sie wollte es der Heldin von La Traviata gleichtun, die davon sang, daß sie das Leben bis zur Neige auskosten und dann sterben wolle; und Ruth wußte, daß sie, indem sie sich Heini hingab, der Musik diente. Heini, der für den bevorstehenden Klavierwettbewerb die Dante-Sonate einstudierte, hatte sich eingehend mit dem Privatleben des Komponisten befaßt und festgestellt, daß Liszt (der berühmt war für seine dämonische Art) zu der Zeit, als er in Heinis Alter gewesen war, bereits mehrere Gräfinnen beglückt hatte; es war daher völlig verständlich, daß Heini meinte, Liszts Kompositionen nicht gerecht werden zu können, solange er sich in einem Zustand körperlicher Frustration befand.
Dennoch war es nicht einfach gewesen. Gelegenheiten zu dämonischem Treiben gab es in Nummer 27 ganz einfach nicht, und ein Hotel konnten sie sich nicht leisten. Ruth hatte sich schließlich an Janet gewandt, die ihre Rolle als Pfarrerstochter so gänzlich überwunden hatte, und Janet hatte geholfen.
«Ihr könnt meine Wohnung haben», hatte sie gesagt. «Wir müssen nur sehen, wann die anderen weg sind. Aber Corinne fährt fast jedes Wochenende nach Hause, und Hilary arbeitet oft den ganzen Samstag. Ich geb dir Bescheid, wenn es klappt.»
Gestern nun hatte Janet ihr Bescheid gegeben. Schon am kommenden Samstag konnten Ruth und Heini die Wohnung den ganzen Nachmittag für sich haben.
Jetzt sagte Janet mit einem forschenden Blick zu Ruth: «Du mußt es nicht tun, das weißt du wohl. Kein Mensch muß es tun. Manche Leute schaffen es gar nicht, wenn sie nicht verheiratet sind, und ich glaube, du bist vielleicht so jemand.»
«Unsinn, es ist nichts als Feigheit», erwiderte Ruth und radierte ein Kapillargefäß aus, das ihr mißraten war. «Wenn du's kannst, dann kann ich es auch.»
Janets Antwort war nicht unbedingt beruhigend. «Ja, ich kann es und ich tu es. Mit sechzehn hab ich angefangen. Ich hab mich geschämt, weil mein Vater Pfarrer war, und ich wollte allen zeigen, daß ich nicht prüde bin. Und wenn man einmal anfängt, dann macht man eben weiter. Aber jetzt bin ich einundzwanzig und habe es eigentlich schon ein bißchen satt. Manchmal frag ich mich, wozu das alles.»
Als sie später ihre Sachen zusammenpackten, sagte Ruth: «Meinst du, ich sollte vorher was darüber lesen?»
«Großer Gott, Ruth, du liest doch sowieso ständig! Ich glaube, du weißt mehr über die Physiologie des Fortpflanzungssystems als sonst jemand auf der Welt.»
«Nein, ich meinte doch – so eine Art Anleitung, wie zum Beispiel, wenn man ein Motorrad reparieren will.»
«Natürlich, wenn du willst, kannst du was lesen. Du brauchst nur zu Foyles gehen, in den zweiten Stock. Die haben da bestimmt ein ganzes Dutzend solcher Bücher. Du kannst es sogar umsonst lesen. Die Verkäufer lassen einen in Frieden, die sind das gewöhnt.»
Am folgenden Tag fuhr Ruth also in der Mittagspause nach Charing Cross. Pilly bestand darauf, sie zu begleiten. Ruth hatte eigentlich nicht vorgehabt, Pilly in ihr Vorhaben einzuweihen, aber Pilly war über Ruths heimliche Gespräche mit Janet so gekränkt gewesen, daß sie ihr dann doch gesagt hatte, welch ekstatischer Erfahrung sie sich zu unterziehen gedachte. Pilly war voller Bewunderung gewesen. «Du bist so mutig», sagte sie immer wieder, brachte aber von da an jeden Tag Lebertrankapseln mit in die Mittagspause und drängte Ruth, sie zu schlucken.
«Ich gehe nicht mit dir nach oben», sagte sie jetzt. «Ich verstehe diese Diagramme und Schaubilder ja doch nicht, und ganz bestimmt wimmelt es da nur so von Namen. Ich warte bei den Kochbüchern auf dich.»
Pilly hatte recht. Es wimmelte tatsächlich von Namen, und die Schaubilder waren ziemlich entmutigend. Es würde einem nichts anderes übrigbleiben, als einfach zu leben bis zur bitteren Neige.
«Es wird schon klappen, Ruth», meinte Janet, als sie nach ihrem Ausflug in die Buchhandlung zurückkam. «Ganz bestimmt. Ich nehme dich morgen in die Wohnung mit und zeige dir alles. Nur auf eines mußt du achten.»
Ruth schluckte. «Du meinst, daß ich nicht schwanger werde?»
«Nein, das nicht – da wird natürlich Heini aufpassen. Ich rede von seinen Socken.»
«Von seinen Socken?» fragte Ruth perplex.
Janet legte ihr die Hand auf den Arm. «Sieh zu, daß er sie gleich zu Anfang auszieht. Es gibt nichts Schlimmeres als einen nackten Mann in dunklen Socken. Da kann es einem schon vergehen. Aber du liebst ihn ja schließlich. Also brauchst du dir überhaupt keine Sorgen zu machen.»
Janets Wohnung war in Bloomsbury, in einer kleinen Straße hinter dem Britischen Museum. Wäre Ruth von der Küche aus die Feuerleiter hinuntergeklettert, so wäre sie keinen Steinwurf entfernt von dem Keller gelandet, in dem Tante Hilda arbeitete. Hilda wäre über ihr Vorhaben nicht schockiert gewesen; die Mi-Mi waren unbekümmerte Leute; in Betschuanaland nahm man die Liebe auf die leichte Schulter.
Aber ihre Eltern ... Ruth zwang sich, nicht daran zu denken, was ihre Eltern sagen würden, wenn sie wüßten, was sie vorhatte. Sie hatte so sehr gehofft, daß bis zu diesem Zeitpunkt die Nichtigkeitserklärung erfolgt sein würde; dann hätte sie sich wenigstens mit Heini verloben können. Aber ihre Ehe mit Quin bestand immer noch, und das war allein ihre Schuld und ein weiterer Grund, Heini nicht länger warten zu lassen.
Die Wohnung war recht bohemehaft; die Möbel wirkten provisorisch, und es waren auch nicht viele, und alles war sehr staubig. Aber das war gut so. Mimi mit ihrem eiskalten Händchen hatte auch zur Boheme gehört und war nicht verheiratet gewesen ...
Heini mußte jeden Moment kommen. Sie hatte den Spülstein gesäubert und den Küchenboden gefegt und den Wein ausgepackt, den Janet ihr als Glücksbringer geschenkt hatte. Ruth hatte deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt – Janet war mit dem Geld furchtbar knapp –, aber Janet hatte ihre Proteste nicht gelten lassen.
«Es war ein Sonderangebot im Coop», sagte sie.
Der Wein würde sicher eine große Hilfe sein, dachte Ruth, die sich erinnerte, wie der Wein im Orientexpreß auf sie gewirkt hatte. Sie kämpfte ihre Nervosität nieder und öffnete die Tür zu Corinnes Zimmer, das Janet als das für ihre Zwecke am besten geeignete bezeichnet hatte. Es hatte ein Doppelbett – genauer gesagt eine Doppelmatratze –, die mit interessant gefärbter Sackleinwand zugedeckt war. Corinne studierte Kunst; überall an den Wänden hingen Zeichnungen, die sie im Aktkurs angefertigt hatte. Die Frauen hatten alle himmelwärts strebende Brüste und Oberschenkel wie dorische Säulen. Heini würde sehr enttäuscht sein, vielleicht war es am besten, das Zimmer zu verdunkeln. Aber als sie die Vorhänge zuziehen wollte, stürzte die Bambusstange scheppernd herab, und sie hatte gerade noch Zeit, sie wieder festzumachen, ehe es läutete.
«Heini! Liebster!» Aber obwohl Heini sie umarmte, sah er nicht glücklich aus. «Ist alles in Ordnung? Hast du sie?»
«Ja, aber du hast keine Ahnung, was ich mitgemacht habe. Die Automaten standen direkt nebeneinander, und die Anweisungen waren abgerissen, und als ich das erstemal sechs Pence hineingeworfen habe, kam eine Tafel Schokolade heraus – diese widerliche Cremeschokolade.»
«Ach, Heini, so ein Pech!» Heini aß niemals Schokolade, weil er fürchtete, er würde davon Akne bekommen.
«Dann habe ich es bei dem anderen Automaten versucht, und da ist die Münze steckengeblieben. Ich mußte erst mit dem Fuß dagegentreten, und genau da kam natürlich irgendein Idiot vorbei und feixte. Wirklich, so etwas möchte ich mir nie wieder antun.»
Schuldgefühle packten Ruth. Heini hatte sie gebeten, in die Apotheke zu gehen, und «das alles» zu erledigen; es stimmte, daß ihr Englisch weit besser war als seines, aber gewisser Wörter war man sich dennoch nicht absolut sicher, selbst dann nicht, wenn man sie im Lexikon nachschlug. Besonders dann nicht, wenn man sie im Lexikon nachschlug. Gleichzeitig allerdings hätte sie gern gewußt, ob er die Schokolade mitgebracht hatte. Sie hatte ihr Mittagessen versäumt, aber es war wahrscheinlich besser, nicht zu fragen.
«Aber jetzt sind wir hier», sagte sie möglichst munter und half ihm aus dem Mantel. Dann fragte sie mutig: «Möchtest du ein Bad nehmen?»
Heini nickte – er mußte das gleiche Buch gelesen haben wie sie – und folgte ihr ins Badezimmer, wo sie den Boiler anzündete und den Hahn aufdrehte. Der Erfolg war hochdramatisch: Es knallte, zischende Dampfwolken stiegen auf, und eine blaue Stichflamme schoß in die Höhe.
«Um Gottes willen, da lassen wir lieber die Finger davon!» rief Heini. «Das ist ja schlimmer als in Belsize Park.»
«Meinst du nicht, es wird sich beruhigen?»
«Nein.» Heini hatte ein Handtuch gepackt und drückte es an seine Nase. «Emile Zola ist an einem undichten Ofen gestorben.»
«Na schön», sagte Ruth und drehte den Wasserhahn zu. Nicht alle Bücher hatten heiße Bäder empfohlen. Manche waren mehr für das Natürliche. «Komm, trinken wir erst ein Glas Wein.»
Sie kehrten in die Küche zurück, und sie schenkte Heini und sich ein Glas Wein ein. «Worauf wollen wir trinken?»
Heini lächelte. «Auf unsere Liebe.»
Genau in diesem Moment hörten sie draußen auf der Feuerleiter eine ganze Serie schriller Piepstöne. Ruth öffnete die Tür, und eine schwarze Katze sauste in die Küche, im Maul einen Vogel, einen Spatz, der noch nicht tot war.
«O Gott!»
«Jag sie raus, Ruth!»
«Ich glaube, sie wohnt hier. Janet hat irgend etwas von einer Katze gesagt.»
«Es ist doch egal, ob sie hier wohnt oder nicht.» Heini sprang auf, scheuchte die Katze hinaus und verriegelte die Tür.
«Wir hätten ihn töten sollen», sagte Ruth.
«Ohne Gewehr kann ich keine Katzen töten.»
«Doch nicht die Katze. Den Vogel!»
Mit einem leichten Gefühl von Übelkeit hob sie ihr Glas und trank. Sauer und kalt rann der Wein in ihren Magen. Es gab da bei Weinen anscheinend beachtliche Unterschiede ...
«Komm, Ruth! Gehen wir ins Schlafzimmer.»
«Ja, gleich, Heini. Ich möchte gern erst etwas in Stimmung kommen. Wollen wir nicht ein bißchen Musik machen?»
«Ich bin in Stimmung», sagte Heini unwirsch. Aber er folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sich auf einem niedrigen Tisch ein Stapel Schallplatten türmte.
«Ach, schau!» sagte sie entzückt. «Sie haben Glanzlichter aus La Traviata.»
Aber wahre Musiker hören sich natürlich niemals Glanzlichter an – das kann man nicht erwarten –, und Heini machte ein ziemlich beleidigtes Gesicht.
«Du liebst mich doch?»
«Aber Heini, das weißt du doch!»
Er streckte ihr in einer jungenhaften, rührenden Geste beide Hände hin. Sie legte die ihren hinein. Sie gingen ins Schlafzimmer. Und er zog seine Socken aus – da mußte ihn jemand gewarnt haben. Es würde alles gut werden.
«Ach, verdammt! Diese Wohnung ist die reinste Müllkippe! Jetzt hab ich einen Reißnagel im Fuß.»
Er hatte sich aufs Bett fallen lassen und hielt mit beiden Händen seinen linken Fuß umklammert, aus dessen Sohle tatsächlich ein Tröpfchen Blut quoll.
«Na, wenigstens ist es nicht der Teil, mit dem du auf die Pedale trittst», sagte Ruth, die immer seine Gedanken lesen konnte. «Es ist rechts auf der Seite. Aber warte, ich hole ein Pflaster.»
«Und Jod», rief Heini ihr hinterher, als sie zur Tür lief. «Der Boden wimmelt bestimmt von Bakterien.»
Im Badezimmer fand sie ein Fläschchen Jod und eine Rolle Heftpflaster, aber keine Schere. Sie durchsuchte die Schubladen in der Küche, aber ohne Erfolg. Schließlich nahm sie ein Küchenmesser und versuchte damit, ein Stück Pflaster abzuschneiden.
«Es hat aufgehört zu bluten», rief Heini aus dem Schlafzimmer. «Es reicht, wenn du die Wunde desinfizierst.»
Sie nahm das Jod mit ins Schlafzimmer und rieb Heinis Fuß damit ein. Heini war tapfer, zuckte nicht einmal mit der Wimper. «Jetzt müssen wir warten, bis es trocken ist.»
«Das dauert nicht lang», sagte er. «Zieh dich doch inzwischen aus.»
«Ich bring nur erst das Jod zurück. Es wär doch zu peinlich, wenn wir es ausschütten würden.»
Sie ging an den Aktzeichnungen vorüber, trat auf eine kleine graue Feder, die von der Brust des kleinen Vogels herabgefallen war, und stellte die Jodflasche wieder ins Schränkchen. Als sie zurückkam, sah sie, daß Heini schon im Bett war.
Es ließ sich also nicht mehr länger aufschieben – das Leben bis zur bitteren Neige. Ruth kreuzte die Arme und zog ihren Pullover über den Kopf.
Am selben Nachmittag, als Heini sich in Bloomsbury als dämonischer Liebhaber übte, fuhr Quin ins Naturhistorische Museum, um mit seinem Assistenten die bevorstehende Reise zu besprechen.
«Ich habe leider schlechte Nachricht für Sie», sagte Milner und kletterte von dem Gerüst herunter, auf dem er bis jetzt, mit den Halswirbeln eines Brontosaurus beschäftigt, gestanden hatte. Aber er lächelte dabei. Seit Quin ihm eröffnet hatte, daß sie im Juni abreisen würden, war er glänzender Stimmung.
«Was für schlechte Nachricht?» fragte Quin.
«Das sag ich Ihnen unter vier Augen», antwortete Milner geheimnisvoll und führte Quin in sein kleines Büro im Souterrain. «Es handelt sich um Brille-Lamartaine», fuhr er fort. «Er hat anscheinend von unserer geplanten Reise Wind bekommen und möchte mit. Seit Tagen lauert er mir auf, macht mir Andeutungen und geht mir ganz generell fürchterlich auf die Nerven. Ich habe ihm kein Wort gesagt, aber es scheint etwas durchgesickert zu sein.»
«Ach, du lieber Gott! Ich dachte, er sei in Brüssel.»
Brille-Lamartaine war der belgische Biologe, dessen Brille von einem Yak zertrampelt worden war. Es kommt selten vor, daß ein Mitglied einer Expedition die reine Katastrophe ist und nicht wenigstens ein paar Züge aufweist, die mit ihm versöhnen; BrilleLamartaine jedoch war ein solcher Fall.
«Wo er wohl davon gehört hat?»
«Er war viel bei der Geographischen Gesellschaft. Hillborough ist ja absolut diskret, aber vielleicht ist eben doch etwas durchgesikkert.»
«Passen Sie auf», sagte Quin, «Wenn er das Thema wieder aufs Tapet bringt, dann sagen Sie ihm, daß ich eine Frau mitnehme. Eine meiner Studentinnen. Eine junge, lebenshungrige Person, die für Männer eine große Schwäche hat.»
Milner lachte. Er wußte, daß Brille-Lamartaine vor Frauen eine Heidenangst hatte und überzeugt war, jede von ihnen habe es sowohl auf seinen rundlichen Körper als auch auf seine Erbschaft von einer unverheirateten Tante abgesehen.
«Mit Vergnügen», sagte er.
Quin jedoch war klar, als er das Museum verließ, daß er seinen Mitarbeitern seinen Entschluß zu gehen nicht länger verheimlichen durfte. Wenn er sich Plackest gegenüber an die gesetzliche Frist hielt und bis Ostern wartete, so reichte das, aber auf keinen Fall sollten Roger, Elke und Humphrey die Nachricht von anderen erfahren.
Roger Felton war im Labor, als er ins Fakultätsgebäude kam, nutzte das Wochenende, um liegengebliebene Arbeit zu erledigen. Der Ausdruck seines Gesichts, als Quin ihn einweihte, war kaum zu ertragen.
«Ohne Sie werde ich mir hier wie in der Wüste vorkommen», sagte er und wandte sich ab, um seine Bestürzung zu verbergen. «Elke dachte schon, daß so etwas passieren würde, aber ich hoffte–ach, so ein Mist!»
«Es ist Ihnen vielleicht kein Trost, aber ich fürchte, schon im nächsten Jahr werden wir alle in sämtliche Winde verstreut sein», sagte Quin. «Wenn dieser Krieg wirklich kommt, dann wird er ganz anders werden als der letzte. Ich glaube, dann werden auch wir Wissenschaftler an die Front müssen.» Als Roger auch darauf nichts sagte, legte ihm Quin die Hand auf den Arm und fügte hinzu: «Ich nehme Sie mit nach Afrika, Roger, wenn Sie hier wegkönnen. Es wäre mir eine Freude.»
«Danke – Sie wissen, wie gern ich mitkäme, aber ich kann Lillian nicht allein lassen. Ende Mai werden wir ein Adoptivkind übernehmen, einen Säugling, das Kind einer kanadischen Tänzerin. Lillian ist unheimlich aufgeregt.»
«Das freut mich», sagte Quin mit Wärme. «Und falls Sie einen Paten brauchen, dann denken Sie vielleicht an mich.»
Rogers Gesicht hellte sich auf. «Sie haben den Job, Professor.»
Als Quin nach diesem Gespräch mit Roger durch den Hof ging, begegnete er Verena in Begleitung von Kenneth Easton. Sie hatte einen Squashschläger in der Hand und war offensichtlich bester Stimmung.
«Sie sehen sehr fit aus», sagte Quin, als er merkte, daß sie ihn nicht einfach vorübergehen lassen würde.
«Oh, das bin ich auch, Professor!» erwiderte Verena mit einem spitzbübischen Lächeln. Sie forderte ihn nicht gerade auf, ihren Bizeps zu fühlen, aber das war auch nicht nötig. Dank ihrem Sportdreß, kurzärmlige Bluse und Shorts konnte jeder, der Augen im Kopf hatte, den kernigen Zustand ihrer Muskeln sehen. Dann sagte sie: «Ach, was halten Sie eigentlich von dem Armee- und Marine-Ausstattungsgeschäft? Würden Sie es empfehlen, wenn man eine Expedition plant?»
«Absolut. Das Geschäft ist ausgezeichnet sortiert – ich decke mich immer dort ein; Sie bekommen alles, was Sie brauchen. Beziehen Sie sich bei Mr. Collins auf mich, dann werden Sie gut bedient.»
«Danke, das werde ich tun. Und wie ist es mit Flohpuder? Würden Sie da Coopers oder Smythsons empfehlen?»
Quin, der eine vage Vorstellung hatte, Verena plane eine längere Reise mit ihren Verwandten, plädierte für Coopers, ehe er sich höflich verabschiedete und weiterging. Kenneth war schlagartig in ein Loch tiefster Depression gestürzt. Die Opfer, die er für Verena gebracht hatte, waren erheblich. Er fuhr vierzehn Haltestellen mit der Untergrundbahn, um mit ihr zusammen Squash spielen zu können; er hatte sich unter großen Mühen seinen Cockney-Akzent abgewöhnt; er sagte «Pardon», weil «Entschuldigung» angeblich gewöhnlich war. Aber jedesmal, wenn der Professor auftauchte, schmolz Verena dahin und kokettierte wie ein Schulmädchen. Manchmal fragte sich Kenneth, ob das alles die ganze Sache wert war.
«Ich ziehe aus», verkündete Heini. «Ich suche mir ein anderes Zimmer.»
Leonie starrte den Jungen entgeistert an, der mit wild abstehenden Haaren und in grenzenloser Wut von seinem Samstagnachmittag in der Stadt zurückgekehrt war.
«Aber warum denn, Heini? Was ist passiert?»
«Ich kann nicht darüber sprechen, aber ich muß weg. Ich kann hier nicht bleiben. Ich kann ja nicht einmal spielen.»
Das stimmte nicht ganz. Heini war seit einer halben Stunde schon zu Hause und hatte die Lebenserwartung des gemieteten Klaviers um ein beträchtliches gemindert, indem er durch die Busoni-Variationen hindurchgedonnert war, daß die Teller in der Kredenz klapperten.
«Weiß Ruth das schon?» fragte Leonie nervös.
«Nein, noch nicht. Aber es wird sie nicht wundern», versetzte Heini finster.
«Du meine Güte! Wenn ihr gestritten habt ... ich meine, so was kommt doch mal vor.»
«Nein, so etwas nicht», entgegnete Heini rätselhaft. «So etwas kommt nicht vor. Ich ziehe aus, sobald ich etwas anderes gefunden habe.»
Leonie war in einem Widerstreit der Gefühle. Ruth würde niedergeschmettert sein, wenn sie von Heinis Entschluß hörte, und Leonie hätte alles getan, um ihrer Tochter Schmerz zu ersparen. Gleichzeitig jedoch hatte der Gedanke, daß Heini ausziehen würde, etwas Paradiesisches. Im Wohnzimmer wieder schalten und walten zu können, wie sie wollte, sich mittags ein Stündchen aufs Sofa legen zu können ... ins Bad hineinzukönnen, wann man wollte!
Da sie nicht wußte, was sie sagen sollte, zog sie sich in die Küche zurück, wo Mishak im Katalog einer Großgärtnerei blätterte, den ihm eine Nachbarin geliehen hatte.
«Heini sagte gerade, er wolle ausziehen. Ich glaube, er und Ruth haben sich fürchterlich gestritten.»
Mishak sah auf. «Und wohin will er?»
«Keine Ahnung. Er sagt, er will sich ein anderes Zimmer suchen.»
«Und wie will er das bezahlen?»
Heini wohnte bei den Bergers natürlich mietfrei; das Geld, das er aus Budapest mitgebracht hatte, war längst verbraucht.
«Ich weiß es nicht. Aber er ist sehr entschlossen.»
Mishak ging es wie Leonie: paradiesische Visionen eines Lebens ohne Heini stiegen vor seinem inneren Auge auf. Schon glaubte er, den Morgengesang der Amseln wieder zu hören, das Rascheln des Windes in den Bäumen.
«Meinst du, er wird etwas essen wollen?» fragte Leonie und begann den Teig für die Pfannkuchen zu bereiten, mit denen man, wenn man sie mit diversen Resten füllte, viele Esser für wenig Geld verköstigen konnte. «Er war ganz außer sich.»
«Essen wird er bestimmt», prophezeite Mishak und behielt recht.
Ruth war diejenige, die kein Abendessen wollte. Sie rief an, um Bescheid zu geben, daß sie später kommen würde. Sie streifte ziellos durch die Straßen und rang die Hände wie eine viktorianische Romanheldin. Sie schämte sich zu Tode und wünschte, die Erde würde sich auftun und sie verschlucken ...
Denn es war genau das eingetreten, was sie in jener Nacht im Orientexpreß gefürchtet hatte. All die Bücher, die sie am Grundlsee gelesen hatte – als hätte sie es vorausgeahnt. Sie hatten sich ganz unverblümt geäußert, diese Fachleute mit ihren dreibändigen Werken: Havelock Ellis und Krafft-Ebing und ein besonders beunruhigender Mann namens Eugene Feuermann. Nicht umsonst hatten sie unzählige Kapitel dem großen Leiden jener gewidmet, die im Liebesakt die Erfüllung suchen.
Alles wäre besser gewesen als das, was tatsächlich geschehen war. Es gab auch Kapitel über Nymphomanie, nicht einmal das hätte Ruth geschreckt. Nymphomanie nahm vielleicht ein böses Ende, aber es klang generös und hingebungsvoll. Eine Nymphomanin konnte vielleicht erwarten, das Leben bis zur bitteren Neige auszukosten und dann zu sterben, hingegen ...
Warum gerade ich? dachte Ruth, wo ich mich doch so sehr darauf gefreut habe, endlich mit ihm zusammensein zu können. Und was wird Janet sagen? Konnte man Janet, die auf den Rücksitzen von Automobilen so freigebig war, so etwas überhaupt erzählen?
Das Wort dröhnte in ihren Ohren – das grauenvolle Wort, das sie als eiskalt brandmarkte, als wäre sie ein Geschöpf der Schneekönigin. Es hatte angefangen zu regnen, und sie zog ihre Kapuze über den Kopf; aber das schlechte Wetter paßte zu ihrer Stimmung. Weshalb sollte für eine Frau, der zwei ganze Kapitel und eine Serie von Tabellen in Feuermanns Sexual Psychopathology gewidmet waren, je wieder die Sonne scheinen?
Eine Stunde, zwei wanderte Ruth durch die Straßen, dann machte sie sich, unnormal oder nicht, auf den Heimweg. Früher oder später würde sie Heini gegenübertreten müssen, Feigheit löste gar nichts.
«Herein!»
Fräulein Lutzenholler saß im Morgenrock in ihrem Zimmer und trank eine Tasse Kakao mit runzliger Haut. Über ihr hing ein Bild der Couch, auf der sie ihre Patienten in Breslau therapiert hatte, in der Gasheizung zischte ein kleines blaues Flämmchen, und sie war nicht im geringsten erfreut, Ruth zu sehen.
«Ich wollte gerade zu Bett gehen», erklärte sie.
Ruth trat ein, das Haar zerzaust, die Augen verschwollen. «Ich weiß. Entschuldigen Sie. Und ich weiß auch, daß Sie mir nicht helfen können, weil ich Sie ja nicht bezahlen kann, und Psychoanalyse wirkt nur, wenn man dafür bezahlt.»
«Außerdem darf ich in England gar nicht praktizieren», sagte Fräulein Lutzenholler abschließend.
«Aber ich dachte, Sie wüßten vielleicht, ob ich irgend etwas tun kann.» Es war Ruth schwergefallen, die Analytikerin in ihrem ungastlichen Zimmer aufzusuchen, zumal sie sich nach ihren Bemerkungen über die im Bus verlorenen Papiere geschworen hatte, ihr nie wieder etwas zu erzählen. Aber man konnte anscheinend seinem Schicksal nicht entkommen. «Ich bin so unglücklich, wissen Sie, und ich dachte, es gibt vielleicht in meiner Kindheit irgend etwas, das ich nicht verstanden habe. Etwas, das ich verdrängt habe.»
Fräulein Lutzenholler stellte seufzend ihre Tasse nieder. «Ist es wahr, daß Heini auszieht?» fragte sie.
Ruth nickte, und etwas wie ein Lächeln flog über das Gesicht der Analytikerin und erhellte den Schnurrbart auf ihrer Oberlippe.
«Mit der Verdrängung ist das nicht so einfach», sagte sie.
«Nein, sicher nicht. Aber ich weiß, wenn man irgend etwas Schlimmes mitansieht, solange man noch klein ist ... wenn man die eigenen Eltern – ach, Sie wissen schon, wenn man sie beim Liebesakt überrascht. Aber das war bei mir nie der Fall. Wenn mein Vater seinen Mittagsschlaf hielt, sind alle auf Zehenspitzen herum geschlichen, und meine Mutter saß mit ihrer Stickerei im Salon wie ein Wachposten und ermahnte dauernd alle zur Ruhe. Und sowieso hatte unsere Wohnung Doppeltüren, da konnte man gar nichts hören. Und am Grundlsee bin ich nach der vielen frischen Luft immer sofort eingeschlafen. Ich glaube deshalb nicht, daß ich ein Trauma habe, und ich kann nicht verstehen, was los ist.»
Fräulein Lutzenholler runzelte die Stirn. Die gute Laune, die die Nachricht von Heinis beabsichtigtem Auszug hervorgerufen hatte, war schon wieder vergangen, und sie sorgte sich jetzt um ihre Wärmflasche. Sie hatte sie vor einer halben Stunde gefüllt und stieg gern in ihr Bett, solange sie noch richtig heiß war.
«Wovon sprechen Sie eigentlich?» fragte sie, während sie die Haut mit dem Löffel vom Kakao schöpfte und in den Mund schob. «Ich verstehe Sie nicht.»
Ruth, die den ganzen Tag vor dem Wort zurückgeschreckt war, sprach es jetzt aus.
Es folgte eine Pause. Fräulein Lutzenholler sah auf die Uhr. «Ruth, es ist Viertel vor elf. Ich kann das jetzt nicht mit Ihnen diskutieren. Es ist ein technisches Problem, das viele Ursachen haben kann; physiologische, psychologische ...»
«Ach, bitte, bitte helfen Sie mir doch!»
Fräulein Lutzenholler unterdrückte ein Gähnen.
«Also gut, dann erzählen Sie mir, was geschehen ist.»
Ruth begann zu sprechen. Ihre Worte überschlugen sich, Tränen schossen ihr in die Augen, das Haar fiel ihr ins Gesicht und wurde ungeduldig zurückgestrichen.
Fräulein Lutzenholler hörte sich diese Ergüsse einer gequälten Seele mit wachsendem und unverhohlenem Mißvergnügen an. Sie stellte ihre schmutzige Tasse wieder auf die Untertasse.
«Ich glaube, Sie müssen erst einmal begreifen, Ruth, daß Fachausdrücke keine Spielzeuge für Amateure sind. Ich kann Ihnen leider nicht helfen, und ich möchte jetzt zu Bett gehen.»
«Ja, natürlich ... entschuldigen Sie vielmals.»
Ruth wischte sich die Augen und stand auf. Sie war schon an der Tür, als Fräulein Lutzenholler einen einzigen Satz sagte. «Vielleicht», sagte sie, «lieben Sie ihn nicht.»
Ein paar Tage später gab Heini bekannt, daß er nun doch bleiben werde. Seine Bemühungen, ein Zimmer zu finden, hatten ihn tief erschüttert: Die Mieten waren unerschwinglich, üben durfte man praktisch überhaupt nicht, und natürlich gab es niemanden, der für einen kochte. Da der erste Durchgang des Klavierwettbewerbs nur noch sechs Wochen entfernt war, schuldete er es allen, sich die besten Arbeitsbedingungen zu sichern. Und auf Mantella mußte man ja auch noch Rücksicht nehmen. Heinis Agent hatte ein Presseinterview geplant, bei dem Ruth zugegen sein sollte. Wenn Heini ihr auch nicht ganz vergeben konnte, so war er doch entschlossen, ihr nichts nachzutragen, und so wurde dann in Belsize Park, während sich das Osterfest näherte, eine Art stillschweigender Waffenstillstand geschlossen.
Zu Verenas vielen ausgezeichneten Eigenschaften gehörte eine leidenschaftliche Begierde, an den Zusammenkünften gelehrter Geister teilzunehmen, insbesondere an solchen mit nachfolgenden Empfängen, bei denen sie, als Tochter des Vizekanzlers der Universität Thameside, mit den Teilnehmern bekannt gemacht wurde. Den Vortrag in der Geophysikalischen Gesellschaft jedoch besuchte sie aus persönlichen Gründen. Das Thema, «Vulkane der Kreidezeit», glaubte sie, würde Quin interessieren, und es war jetzt ihr vordringlichstes Ziel, außerhalb des schulischen Rahmens mit ihm zusammenzutreffen.
Als sie im Vortragssaal ihren Platz einnahm, konnte sie Quin jedoch nirgends entdecken. Statt dessen saß zu ihrer Linken ein kleiner, adretter Mann mit einem gepflegten Oberlippenbärtchen und etwas ordinären zweifarbigen Schuhen, der sich ihr als Dr. Brille-Lamartaine vorstellte und eine Neigung zeigte, nicht von ihrer Seite zu weichen, als sie nach dem Vortrag in den Gesellschaftsraum ging, wo Getränke und Kanapees warteten.
«Ein ausgezeichneter Vortrag, nicht wahr?» sagte Brille-Lamartaine, der, wie sich herausstellte, ein belgischer Geologe war. «Ich hatte eigentlich erwartet, Professor Somerville hier zu sehen, aber er scheint nicht gekommen zu sein.»
Verena stimmte zu und fragte, woher er den Professor kenne.
«Ich war mit ihm in Indien. Auf seiner letzten Expedition», antwortete Brille-Lamartaine. Er nahm sich ein Glas Wein, verzichtete jedoch auf die Kanapees, denn in diesem Land Garnelen zu essen, war immer ein Risiko. «Ich hatte großen Anteil daran, daß wir die Höhlen entdeckten, wo wir unsere bedeutendsten Funde gemacht haben.» Er seufzte, denn Milner hatte ihm an diesem Morgen etwas erzählt, das ihn tief bekümmerte.
«Wie interessant», sagte Verena, die wirklich begierig war, mehr zu hören. «Und hat Ihnen die Reise gefallen?»
«Ja, ja, sehr. Natürlich hat es Zwischenfälle gegeben ... meine Brille ging zu Bruch ... und der Proviant war nicht das, was man hätte erwarten können. Aber Professor Somerville ist ein großartiger Mann – eigensinnig natürlich, auf vieles, was ich ihm sagte, wollte er einfach nicht hören, aber er ist ein großer Mann. Jetzt allerdings wird es ihm wohl das Genick brechen.»
«Das Genick brechen?» fragte Verena entsetzt. «Wie meinen Sie das?»
«Auf seine nächste Expedition nimmt er eine Frau mit. Eine Frau zur Kulamali-Schlucht! Eine seiner Studentinnen, in die er sich verliebt hat, anscheinend. Ich sage Ihnen, das ist das Ende. Ich werde selbstverständlich nicht mit ihm reisen – ich weiß genau, was geschehen wird.» Er nahm sich ein zweites Glas Wein und wischte sich, von gräßlichen Bildern verfolgt, die schweißnasse Stirn. Eine nackte Frau, die mit lang herabwallendem Haar, das ihren Körper nur notdürftig verdeckte, ins Zelt kroch; die ihre Unterwäsche auf einer zwischen Dornenbäumen gespannten Leine aufhängte. Bald würde sie von seinem Privatvermögen hören und Andeutungen machen. Von Somerville war ja bekannt, daß er die Ehe scheute. «Ich habe großen Respekt für den Professor», bemerkte er und rückte näher an Verena heran, die so gar keine Ähnlichkeit mit der Lilith seiner Phantasie hatte, sondern eher an seine unverheiratete Tante erinnerte, «aber das ist das Ende!»
«Wirklich, Dr. Brille-Lamartaine, sind Sie sicher, daß er eine seiner Studentinnen mitnehmen will?»
Der Belgier nickte. «Absolut. Sein Assistent hat es mir gestern erzählt – er genießt das volle Vertrauen des Professors. Der Professor hat sich in eine seiner Studentinnen verliebt, die aus sehr guter Familie kommt und angeblich eine brillante Wissenschaftlerin ist. Es ist noch ein Geheimnis, weil nicht der Anschein erweckt werden soll, daß er sie bevorzugt, aber im Juni will er sich ihr erklären. Ich sage Ihnen, Frauen darf man auf diese Expeditionen nicht mitnehmen, das ist immer eine Katastrophe, ich habe es erlebt. Da gibt es endlose Eifersüchteleien, Intrigen – und sie tragen keine Unterwäsche.» Er leerte sein Glas und wischte sich erneut die Stirn. «Ich bitte Sie, nichts zu sagen», fügte er hinzu. «Oh, da ist Sir Neville Willington – würden Sie mich entschuldigen?»
«Aber natürlich», sagte Verena. «Selbstverständlich.»
Sie konnte es kaum erwarten, allein zu sein. Wenn sie überhaupt noch eine Bestätigung gebraucht hatte, so hatte sie sie jetzt bekommen. Sie hatte ja eigentlich nie an Quin gezweifelt, aber sein fortgesetztes Schweigen hatte sie manchmal irre gemacht. Dabei hatte er so recht –wie konnte er sich erklären, solange sie noch seine Studentin war? Erst in der vergangenen Woche war in Cambridge ein Professor vor die Tür gesetzt worden, weil er sich mit einer seiner Studentinnen eingelassen hatte. Es war töricht von ihr gewesen, sich einzubilden, daß Quin sich in diesem Stadium öffentlich erklären würde. Und sie würde nicht einmal verlangen, daß er sie heiratete, bevor sie in See stachen. Die Eheschließung würde selbstverständlich von selbst folgen, wenn er sah, wie ideal sie zusammenpaßten, aber sie würde sie nicht zur Bedingung machen.
Frances kam im allgemeinen nur zweimal im Jahr nach London; im November, um Weihnachtseinkäufe zu machen, und im Mai zur Blumenschau in Chelsea. In diesem Jahr jedoch führte die Hochzeit ihrer Patentochter sie Ende März schon nach London. Sie reiste unter Protest, nur weil Martha nicht lockerließ und behauptete, sie brauche dringend ein neues Kleid und ganz besonders neue Schuhe.
«Unsinn», versetzte Frances. «Ich habe erst für die Taufe bei den Godchesters neue Schuhe gekauft.»
«Das war vor zwölf Jahren», sagte Martha.
Frances haßte es, für sich einzukaufen, aber wenn es denn sein mußte, dann ging sie zu Fortnum's beim Piccadilly Circus. Mürrisch packte sie Marthas Einkaufsliste ein und machte sich mit Harris am Steuer in dem alten Buick auf die Fahrt nach Süden. Neben ihr auf dem Rücksitz stand ein Karton, in dem in Holzwolle eingebettet ein Dutzend Blumenzwiebeln lagen, die sie nach einigem Zögern am Vortag in ihrem Garten ausgegraben hatte.
Wenn Frances in London war, wohnte sie niemals bei Quin, dessen Wohnung für sie etwas leicht Anrüchiges hatte und wo man, wie sie meinte, stets darauf gefaßt sein mußte, französischen Schauspielerinnen oder Tänzerinnen zu begegnen. Sie pflegte mit ihm zu essen, aber sie wohnte im Brown's Hotel, wo immer alles gleichblieb. Harris schickte sie zu seiner verheirateten Schwester nach Peckham.
Sie hatte ihren Tag sorgfältig geplant, doch als sie am nächsten Morgen zu Harris in den Wagen stieg, war sie selbst überrascht von den Anweisungen, die sie ihm gab.
«Fahren Sie mich nach Belsize Close Nummer 27», sagte sie. Harris zog die Augenbrauen hoch. «Das ist in Hampstead, nicht wahr?»
«Beinahe. Es ist in der Nähe von Haverstock Hill.»
Wieso das? dachte Frances, die ihren Impuls bereits bereute. Heute abend würde sie Quin sehen – warum ließ sie die Zwiebeln nicht einfach über ihn an Ruth weiterleiten?
Je weiter sie nach Norden kamen, desto schäbiger und ärmlicher wurden die Straßen, und als Harris anhielt, um nach dem Weg zu fragen, erhielten sie ihre Anweisungen von einem wild gestikulierenden Ausländer mit einem großen schwarzen Hut, dessen Englisch kaum zu verstehen war. Das Haus Nummer 27 war alles, was sie befürchtet hatte: ein heruntergekommenes Mietshaus mit ungestrichener Haustür und morschen Fensterrahmen. Eine Katze war dabei, die Mülltonnen zu plündern; die Pflastersteine des Bürgersteigs waren gesprungen.
«Ich bin gleich wieder da», sagte sie zu Harris und ging die kurze Treppe hinauf.
Leonie, die die Ruhe ihres Wohnzimmers genoß, da Heini ausnahmsweise außer Haus war, hörte die Glocke, ging nach unten und sah eine ihr unbekannte, hagere Frau im burgunderroten Tweedkostüm und hinter ihr eine unverkennbar teure, wenn auch sehr alte Limousine mit uniformiertem Chauffeur.
«Kann ich Ihnen behilflich sein?» fragte Leonie und fügte plötzlich hinzu: «Sind Sie vielleicht die Tante von Professor Somerville?»
«Du meine Güte, woher wissen Sie denn das?»
«Da ist eine Ähnlichkeit – und Ruth hat mir von Ihnen erzählt. Bitte, kommen Sie herein.» Plötzlich geriet sie in Panik angesichts des unerwarteten Besuchs: «Es ist doch nichts passiert? Es geht dem Professor doch gut? Und Ruth auch?»
«Aber ja», antwortete Frances Somerville ungeduldig und fragte sich wieder, weshalb sie gekommen war. Das Haus war schrecklich: abgetretenes Linoleum, ein ekelhafter Geruch nach billigem Desinfektionsmittel ... «Ich habe ein paar Blumenzwiebeln für ihren Onkel mitgebracht. Sie sind doch Mrs. Berger, nicht wahr? Ruth sagte, daß er Herbstzeitlosen liebt, und ich habe mehr als genug davon. Würden Sie sie ihm bitte geben?»
«Für Mishak?» Leonie strahlte. «Ach, da wird er sich aber freuen. Er ist jetzt im Garten, Sie müssen sie ihm selbst hinausbringen – er wird Ihnen danken wollen. Und ich mache uns inzwischen eine Tasse Kaffee. Nein, Tee natürlich – das vergesse ich immer.»
«Nein, vielen Dank. Ich kann nicht bleiben.»
«Aber Sie müssen! Zuerst zeige ich Ihnen den Garten. Am besten gehen wir durchs Haus, denn die Seitentür klemmt.»
Frances folgte ihr widerstrebend. Jetzt würde sie sich einer Einladung zum Tee nicht mehr entziehen können. Ausländer hatten keine Ahnung, wie man ihn richtig zubereitete, und wahrscheinlich würde man von ihr auch noch erwarten, daß sie irgend etwas ekelhaft Süßes mit einem Löffel aß.
Mishak kniete in seinem Kartoffelbeet, und als er sich aufrichtete und ihnen zuwandte, ergriff Frances eine tiefe Enttäuschung. «Ich bin gekommen, um Sie zu holen», hatte er zu Marianne gesagt und dabei seine Aktentasche geöffnet und seinen Hut gelüftet, und sie hatte sich einen eleganten kleinen Mann in einem teuren Mantel vorgestellt, einen Mann von Welt. Dieser Mann hier jedoch war ein alter Flüchtling, ein Ausländer in einem verknitterten Jackett, mit einer Schirmmütze auf dem Kopf, schäbig, arm, fremdartig. Sie mußte sich zwingen, näher zu ihm hinzugehen.
Leonie erklärte, warum sie gekommen waren, und Mishak stand auf und lehnte seinen Spaten an den Zaun.
«Herbstzeitlosen?» wiederholte er. «Ruth hat mir erzählt, wie sie bei Ihnen unter dem Kirschbaum wachsen.»
Er nahm den Karton und teilte die Holzwolle. Seine Hände, die nach den Zwiebeln suchten, waren erdbraun, kantig, mit kurzen Fingern. Hände, die pflanzten und gruben, die hämmerten und zimmerten. Doch nicht so ausländisch; doch nicht so fremdartig …
«Ja», sagte Mishak und nahm eine der Zwiebeln zur Hand. «Ich erinnere mich ganz deutlich an sie!» Er dankte ihr nicht einmal; er lächelte nur.
Der Tee war ausgezeichnet, aber Frances konnte nicht bleiben.
«Ich muß noch einkaufen», sagte sie verdrossen.
Leonies Augen leuchteten auf. «Wohin gehen Sie?»
«Zu Fortnum's.»
«Ach, das ist ein herrliches Geschäft», sagte Leonie sehnsüchtig.
«Kaufen Sie ein Kleid?»
Frances nickte. «Und Schuhe.»
«Was für Schuhe?» Mishak hatte die Frage gestellt, und Frances sah ihn schockiert an.
«Ich kauf immer die gleichen», antwortete sie kurz. «Knopfschuhe mit niedrigem Absatz.»
«Nein», sagte Mishak.
«Pardon?» Frances wollte ihren Ohren nicht trauen.
«Keine Knopfschuhe. Keine niedrigen Absätze», erklärte Mishak. «Fortunati-Pumps mit einem kubanischen Absatz, aus Wildleder. Aus den Mailänder Werkstätten; sie arbeiten mit einem besonderen Leisten.»
Leonie nickte. «Mishak weiß Bescheid. Er hat viele Jahre im Warenhaus meines Vaters gearbeitet.»
Das konnte Frances nicht beschwichtigen. «Ganz sicher kaufe ich mir keine solchen Schuhe. Es würde mir nicht im Traum einfallen. Ich trage seit Jahren immer die gleichen Schuhe und habe nicht die geringste Absicht, daran etwas zu ändern.»
«Sie haben einen hohen Rist; das ist ein Geschenk», sagte Mishak. Er griff in seine Tasche, um seine Pfeife herauszuholen, erinnerte sich, daß sie mit den Zigarrenstummeln gestopft war, die Ziller aus dem ungarischen Restaurant mit nach Hause gebracht hatte, und ließ es bleiben.
«Im übrigen sieht dort oben sowieso niemand, was ich anhabe», sagte Frances immer noch unwirsch.
«Gott sieht es», entgegnete Mishak.
Ruth, die spät von der Universität nach Hause kam, hörte von Frances Somervilles Besuch und war augenblicklich wie verwandelt. «Oh, was hat sie erzählt? Sag doch, Mishak – du mußt mir alles genau berichten. Hat sie dir von ihrem Garten erzählt?»
«Ja. Sie haben dort oben einen harten Winter gehabt, aber die Enziane kommen jetzt schon heraus, und die Magnolien blühen.»
«Hat sie etwas davon gesagt, ob sie nun dieses Stück an der Südwand bei der Sonnenuhr verglasen läßt? Sie wollte sehen, ob sie so hoch im Norden auch eine Kamelie züchten kann – alle haben natürlich gesagt, das ginge nicht, und du kannst dir vorstellen, wie sie darauf reagiert hat.»
«Ich glaube, sie hat es vor, ja.»
Er tauschte einen Blick mit Leonie. Sie hatten Ruth seit Wochen nicht mehr so lebhaft gesehen.
«Ach, Mishak, du hast keine Ahnung, wie schön es dort oben ist. Es ist so sauber, und alles hat seinen eigenen, ganz besonderen Geruch. Hat sie dir gesagt, ob Elsie sich für diesen Botanikkurs angemeldet hat, den sie besuchen wollte?»
«Nein, davon hat sie nichts gesagt. Wer ist Elsie?»
«Das Hausmädchen. Sie interessiert sich wirklich für Pflanzen und ist unheimlich nett. Und wie geht es Mrs. Ridleys Großmutter – ich hab dir von ihr erzählt –, sie hatte doch im Februar ihren hundertsten Geburtstag.» Von plötzlichen Zweifeln geplagt, sah sie auf. «Sie lebt doch noch, nicht wahr? Ganz bestimmt – sie hat sich so auf das Telegramm vom König gefreut.»
«Von ihr haben wir auch nicht gesprochen», sagte Mishak.
«Jetzt sind wahrscheinlich gerade die Lämmchen zur Welt gekommen – John Ridley sagte Ende März. Sie haben etwas Biblisches, wenn man sie dort oben in dieser Landschaft sieht. Überall gibt es Sonnenröschen; und die Vögel ...» Sie schüttelte den Kopf, aber die Bilder ließen sich nicht vertreiben. Manchmal glaubte sie, sie würden sie niemals loslassen.
«Aber von dem kleinen Hündchen hat sie mir erzählt», bemerkte Mishak. «Sie behält es und sie haben es Daniel genannt. Sie sagte, das sollte ich dir erzählen, du würdest es schon verstehen.»
«Daniel? Ach ja, natürlich. Nach Wagners Stieftochter – du weißt schon, Cosima von Bülows Tochter Daniella. Aber da das Hündchen ein Rüde ist, muß er natürlich Daniel heißen. Er sieht aber auch aus wie ein Daniel – Gott helfe den Löwen, in deren Höhle er sich wagt. Er ist wirklich verwegen.»
Leonie, die dem Gespräch mit wachsender Verwunderung zugehört hatte, sagte jetzt: «Aber Ruth, du siehst doch Professor Somerville jeden Tag. Warum fragst du nicht ihn nach diesen Dingen? Ich meine, ob die alte Großmutter tot ist oder ob die Lämmer schon zur Welt gekommen sind. Er muß es doch wissen.»
Ruth errötete. «Ich würde niemals über Bowmont mit ihm sprechen; das geht mich doch nichts an – und außerdem arbeitet er dauernd; er hat dieses Semester wahnsinnig viel zu tun.»
Beschäftigt war er und zerstreut und gar nicht freundlich ... Und es wurde gemunkelt, er habe vor zu gehen.
Sie holte sich ihre Bücher und Hefte, aber ehe sie sich an die Arbeit setzen konnte, ging die Tür auf, und Heini kam herein. Es war Viertel vor zehn, zu spät für ihn, um noch zu üben, ohne sich den ewigen Zorn Fräulein Lutzenhollers zuzuziehen; darum setzte er sich, ohne Ruth anzusehen, mißmutig aufs Sofa. Zwei Wochen waren seit dem Stelldichein in Janets Wohnung vergangen, und er hatte ihr noch immer nicht richtig verziehen, doch Ruth, die nun hinausging, um ihm eine Tasse Kakao zu machen, wußte jetzt, was sie zu tun hatte. Denn nicht nur Mishak und Leonie hatten aus Frances Somervilles Besuch gelernt. Ruth selbst hatte tieferen Einblick in ihre Seele gewonnen, als ihr lieb war – und jetzt mußte sie handeln.
Das bedeutete, daß sie ihre Denkweise ändern mußte. Das bedeutete, daß sie ihre Großmutter, die Ziegenhirtin, verstoßen und auf die Tröstungen des katholischen Glaubens ihrer Mutter verzichten mußte. Es bedeutete, daß sie dem Jesuskind in der Krippe und den holden Engeln Lebewohl sagen und sich auf ihr anderes Erbe besinnen mußte: auf den strengen, uralten und mysteriösen jüdischen Glauben, in dem das Wort des Rabbiners Gesetz war, in dem der Gott der zehn Gebote und nicht jener der Bergpredigt der Herr war. In diesem Glauben würde sie von ihrer Unfähigkeit geheilt werden und zu Heini zurückfinden. Sie hatte sich nicht recht zu ihrer Verwandtschaft mit diesen schwarzbärtigen Leuten mit ihren Käppchen bekennen wollen – den Chassidim, die in tiefer Armut die polnischen Wälder durchstreiften, bei denen schon die Dreizehnjährigen lernen und beten mußten wie alte Männer. Und doch würde sie einzig in der Tradition eben dieser Leute die Erlösung finden.
Die Gesetze Englands hatten sie im Stich gelassen – Mr. Proudfoot konnte Heini nicht geben, was er brauchte, aber es gab andere, ältere Gesetze, auf die sie zurückgreifen konnte.
Sie würde Mut dazu brauchen – sehr viel Mut –, aber sie wußte jetzt, was sie zu tun hatte.