22

Anfang Dezember beschloß Leonie Channukka zu feiern, das jüdische Fest des Lichts. Licht, fand sie, würde jetzt guttun. Kurt war immer noch in Manchester, und er fehlte ihr; die Nachrichten vom Kontinent wurden immer bedrückender, und das Wetter – feucht und neblig, nicht das klare, frische Winterwetter, das sie aus Wien in Erinnerung hatte – schlug einem aufs Gemüt.

Und dann noch Heini. Heini schlief seit einem Monat auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer und übte jeden Tag acht Stunden auf dem Klavier. Leonie sah natürlich ein, daß das sein mußte, aber während sie mit dem Staubtuch um ihn herumschlich, ertappte sie sich dabei, daß sie sich über die Freunde und Verwandten früherer Klaviervirtuosen Gedanken machte. Gab es vielleicht irgendwo in einer Mansarde in Budapest eine alte Dame, deren Mutter einst schreiend auf die Straße hinausgestürzt war, weil sie sich von Liszts brillanten Arpeggios gefoltert fühlte? War es den Bewohnern des Hauses in der Rue de Rivoli gelungen, sich auf Chopins Übungsstunden einzustellen? Was hatten diese Wiener Zimmerwirtinnen damals wirklich empfunden, wenn Beethoven wieder einmal ein Klavier in Grund und Boden gespielt hatte?

Auch die Essensfrage spielte eine Rolle. Heini hatte aus Ungarn etwas Geld mitgebracht, aber das brauchte er, um seine Hände versichern zu lassen; auch das sah sie ein. Den Rest gab er für die öffentlichen Verkehrsmittel aus, wenn er seine Fahrten zu Agenten und Impresarios machte, von denen er hoffte, daß sie ihm helfen würden.

«Es ist für Ruth», pflegte Heini mit seinem süßen Lächeln zu sagen. «Alles, was ich tue, tue ich für Ruth.»

Und alle akzeptierten das. Heini hatte seine Absicht kundgetan, Ruth zu heiraten und ihr ein angenehmes Leben zu bereiten, sobald er sich etabliert hatte; man konnte also unmöglich an ihm herumkritisieren. Wenn er eine Stunde im Badezimmer verbrachte, so deshalb, weil er bei den geschäftlichen Besprechungen einen guten Eindruck machen mußte; wenn er seine Sachen herumwarf und Leonie hinter sich aufräumen ließ, so deshalb, weil er mit seiner Musik so beschäftigt war, daß für anderes keine Zeit blieb. Ohne Klage also paßten sich die Bewohner von Nummer 27 den neuen Umständen seiner Anwesenheit an.

Mishak war nicht musikalisch. Er liebte die Stille, die sanften Geräusche: den Gesang einer Drossel vor dem Fenster; das Rauschen des Regens; das Sirren einer Sense, wenn der Rasen gemäht wurde. Wenn Heini jetzt auf sein Klavier einhieb, war er von alledem abgeschnitten. Er machte es sich zur Gewohnheit, noch früher aufzustehen, und arbeitete im Garten, bis Heini aufstand, dann ging er auf lange Streifzüge. Aber die Tage wurden kürzer, Mishak war vierundsechzig, immer häufiger trieb es auch ihn, obwohl von Natur aus kein geselliger Mensch, ins Willow.

Paul Ziller hatte bei Heinis Ankunft gehofft, sie würden Duette spielen, denn für Geige und Klavier gibt es sehr vielfältige und sehr schöne Kompositionen. Doch Heini wollte sich verständlicherweise auf eine Solokarriere konzentrieren, und da die Schallisolierung des Hauses nicht solide genug war, um zwei übende Musiker zu verkraften, marschierte Ziller von nun an wieder täglich mit seiner Guarneri ins Jewish Day Center.

Auch Hilda änderte ihren Tageslauf. Der Kustos der anthropologischen Abteilung hatte ihr mittlerweile sogar einen Schlüssel anvertraut. Sie nahm sich Brote mit ins Museum und richtete es so ein, daß sie immer erst nach Hause kam, wenn Fräulein Lutzenholler auf ihren Schlafzimmerstuhl kletterte.

Daß sie der finsteren Psychoanalytikerin noch einmal dankbar sein würden, hätte keiner von ihnen ahnen können, aber so war es. Jeden Abend nämlich, punkt einundzwanzig Uhr dreißig, pflegte sie mit einem langen Besen bewaffnet auf einen Stuhl zu klettern und an die Decke ihres Schlafzimmers zu klopfen, über dem sich das Wohnzimmer der Bergers befand, um wissen zu lassen, daß sie nun zu Bett gehen würde und die Musik aufhören mußte.

Aber das bedeutete, daß Leonie sich nicht über den Zustand des Herds beklagen konnte; ein Fest des Lichts war also alles in allem dringend vonnöten, und da sie selbst nicht genau wußte, was der Brauch vorschrieb, trug sie ihr Problem ins Willow.


«Darf ich Sie zu einem Stück Kuchen einladen?» fragte Mrs. Weiss. Leonie nahm an und fragte die alte Dame um Rat.

«Auf jeden Fall braucht man Kerzen», erklärte Mrs. Weiss entschieden. «Das weiß ich. Man zündet acht Tage lang jeden Tag eine an, und man steckt sie in eine Menora.»

«Wie soll das gehen?» fragte Dr. Levy. «Wenn es acht Tage sind, müssen es acht Kerzen sein, und eine Menora hat nur sieben Arme. Gebete gehören übrigens auch dazu. Meine Großmutter hat immer gebetet.»

«Aber was hat sie gebetet?» fragte Leonie.

Dr. Levy zuckte die Achseln, und Ziller sagte, von Hofmann würde es sicher wissen. «Er wird gleich hier sein.»

«Wieso sollte gerade er es wissen? Er ist doch überhaupt kein Jude», sagte Mrs. Weiss wegwerfend.

«Aber er hat doch in diesem Stück von Isaac Bashevis Singer mitgespielt, wissen Sie nicht mehr? Der Nebbich. Das ist ein sehr jüdisches Stück», sagte Ziller.

Von Hofmann jedoch konnte keine klare Auskunft geben. «In dem Akt war ich nicht dabei», sagte er, «aber es ist eine wunderschöne Feier. Alle Schauspieler waren sehr bewegt, und Steffi hat hinterher auf dem Flohmarkt eine Menora gekauft. Ich könnte sie ja mal fragen – sie verkauft bei Harrod's Strümpfe.»

Aber niemand wollte Steffi bemühen, die zwar eine hervorragende Schauspielerin, aber eine äußerst langweilige Frau war, und Miss Violet und Miss Maud, die diese Diskussion mitangehört hatten, sagten jetzt, sie müßten langsam daran denken, die Weihnachtsdekorationen aus dem Keller zu holen.

Leonie, die sich hier auf vertrautem Boden fühlte, wurde munter. «Wie feiern Sie Weihnachten?» fragte sie die Damen.

«Also, wir gehen zur Abendmesse», antwortete Miss Maud. «Und wir schmücken das Tea-Room und legen auf jeden Tisch einen Stechpalmenzweig.»

«Und die Adventskränze?» fragte Leonie.

«Die gibt es bei uns nicht», antwortete Miss Maud entschieden, der das bedenklich pfäffisch roch.

«Aber einen kleinen Baum mit roten Äpfeln und einem silbernen Stern werden Sie doch haben?»

Die Damen schüttelten die Köpfe und sagten, sie hielten nichts von solchem Aufwand.

«Aber das ist doch kein Aufwand», protestierte Leonie. «Das ist einfach schön.» Und schüchtern fügte sie hinzu: «Ich könnte ja Lebkuchen backen ... mit Zuckerguß und roten Bändern.»

«Georg hat eine große Fichte in seinem Garten», bemerkte Mrs. Weiss. «Ich kann in der Nacht, wenn Moira schläft, ein paar Zweige davon abschneiden.»

«Meine Frau hat ihr kleines Glockenspiel mitgenommen», sagte der Bankier unerwartet. «Ich hielt das für blödsinnig, aber sie hat es schon seit ihrer Kindheit.»

Wieder in der Küche, sahen Miss Maud und Miss Violet einander an.

«Na ja, so schlimm wäre es wahrscheinlich gar nicht», sagte Miss Maud, «aber ich möchte nicht den ganzen Boden voller Tannennadeln haben.»

«Auf jeden Fall ist es besser als dieses Channukka. Ich meine, da werden sie nicht weit kommen, wenn sie sich nicht mal erinnern können, wie es gefeiert wird», meinte Miss Violet.

Mrs. Burtt wand ihren Spüllappen aus und hängte ihn am Spülbecken auf, über dem Ruth mit Reißzwecken ein Diagramm befestigt hatte, das den «Lebenszyklus des Pololo-Wurms» zeigte.

«Und es wird Ruth bestimmt aufmuntern, wenn hier alles so hübsch aussieht», bemerkte sie.

Miss Maud runzelte die Stirn. Sie konnte nicht ganz verstehen, wieso ihre Kellnerin Aufmunterung brauchen sollte. «Sie ist doch sehr glücklich, seit Heini da ist.»

«Ja, aber müde», entgegnete Mrs. Burtt.


Drei Tage nachdem Leonie ihre Idee mit dem Lichtfest wieder ad acta gelegt hatte, ging Ruth auf dem Weg zur Universität auf der Post vorbei und entnahm ihrem Schließfach ein Päckchen mit rotem Siegel, das sie mit klopfendem Herzen öffnete. Minuten später stand sie mitten im Getümmel eilender Menschen und blickte wie gebannt auf den dunkelblauen Reisepaß mit dem goldenen Löwen, dem sich aufbäumenden Einhorn und dem Motto Dieu et Mon Droit in ihrer Hand.

«Ich bin britische Staatsbürgerin», sagte sie laut und sah im Geist, wie der Außenminister in Cut und Zylinder ihr einen Schlagbaum nach dem anderen öffnete.

Wenn sie es doch nur allen hätte zeigen können: die Einbürgerungsurkunde, die ihren neuen Status bestätigte; den Reisepaß, der auf sie allein ausgestellt war. Ach, hätte sie doch jetzt, den Reisepaß schwenkend, ins Willow marschieren können, um ihre Eltern zu umarmen und mit Mrs. Burtt einen Freudentanz aufzuführen.

Aber sie konnte die Papiere natürlich niemandem zeigen. Sie waren auf Ruth Somerville ausgestellt, nicht auf Ruth Berger, und darum würden Reisepaß und Einbürgerungsurkunde dort verschwinden müssen, wo schon die anderen Papiere lagen, in dem geheimen Versteck, in dem sich die nicht totzukriegenden Mäuse tummelten.

Sie war sehr früh auf dem Weg zur Universität. Seit Heini da war, stellte Ruth den Wecker unter ihrem Kopfkissen immer auf halb sechs, damit sie zwei Stunden arbeiten konnte, solange es noch ruhig war. Als sie jetzt in der Untergrundbahn saß, überkam sie der Wunsch, diesen Tag irgendwie zu feiern, und impulsiv stieg sie an der nächsten Haltestelle aus und eilte die Stufen zur National Gallery hinauf, um auf den Trafalgar Square hinunterzublicken.

Sie hatte recht getan, dies war das Herz ihrer neuen Heimatstadt. Die Brunnen glitzerten, die Löwen lächelten ... Durch den Admiralty Arch auf der anderen Seite konnte sie die Mall sehen, die zum Buckingham-Palast führte, wo der schüchterne König lebte und die Königin mit der sanften Stimme sich um die Prinzessinnen auf ihrer Keksdose kümmerte.

Sie neigte den Kopf nach hinten, um zu Nelson hoch oben auf seiner Säule hinaufzuschauen, zu diesem kleinen Mann, dem Lieblingshelden der Engländer. Er war ungeheuer tapfer gewesen ... Aber die Briten waren alle tapfer. Ihre jungen Mädchen schlugen einander mit Hockeystöcken grün und blau und weinten keine Träne; ihre Frauen waren in früheren Zeiten in wollenen Röcken durch die Urwälder marschiert, um die Heiden zum Wort Gottes zu bekehren.

Auch sie würde stark und tapfer sein. Sie würde die Prüfungen zu Weihnachten bestehen und abends wach bleiben, damit Heini reden konnte, wenn er das brauchte. Es war lächerlich zu glauben, daß ein Mensch mehr brauchte als vier Stunden Schlaf. Sie konnte alles schaffen, wenn sie nur wollte. «Der Wille muß nur geboren werden, damit er triumphieren kann.» Das hatte Ruth in einem Kalender gelesen und war sehr beeindruckt gewesen. Daran wollte sie sich halten.

Erst jetzt wandte sie sich dem Schreiben zu, das Mr. Proudfoot dem Paß beigelegt hatte, und sah, daß er sie am folgenden Nachmittag in seiner Kanzlei erwartete.


Proudfoot hatte es für das einfachste gehalten, mit Ruth persönlich zu sprechen, und hatte das Quin auch gesagt. «Es wäre am vernünftigsten, wenn ihr zusammen kämt, aber wir können wohl nicht vorsichtig genug sein.»

Denn auf die Einbürgerung folgte der nächste Schritt – die Nichtigkeitserklärung. Zu diesem Zweck war ein umfangreiches Dokument vorbereitet worden, das von beiden Parteien vor einem Notar unterzeichnet werden mußte. Diese eidesstattliche Erklärung sollte dann dem Gericht in der Hoffnung vorgelegt werden, daß sie in die Hände eines Richters gelangte, dem sie genügen würde, um die Ehe für nichtig zu erklären, ohne weitere Beweise zu verlangen. Ob es sich tatsächlich so entwickeln würde, war nicht vorauszusehen, da die Verfahrensordnung für die Nichtigkeitserklärung von Ehen mit im Ausland geborenen Staatsbürgern derzeit revidiert wurde.

Als Mr. Proudfoot Ruth zum erstenmal sah, stand sie mit dem Rücken zu ihm in seinem Vorzimmer und betrachtete ein kleines Aquarell, das dort an der Wand hing. Das Sonnenlicht fiel schräg durch das Fenster direkt auf ihr Haar, so daß er als erstes diese flammende Pracht sah und sich augenblicklich wappnete. Mr. Proudfoot war für weibliche Reize äußerst empfänglich und hatte einmal in der Great Portland Street seinen Wagen mitten in eine Telefonzelle gefahren, weil er nur Augen für ein Mädchen gehabt hatte, das gerade aus einem der Häuser kam. Er wußte, daß Enttäuschung wartet, wenn Frauen mit flammendem blonden Haar sich umdrehen. Bestenfalls bekam man Mittelmäßigkeit zu sehen, schlimmstenfalls eine scharfe, mißvergnügte Nase, einen verkniffenen Mund, denn Gott geht mit seiner Fülle haushälterisch um.

«Miss Berger?»

Ruth drehte sich um – und eine riesige Welle der Dankbarkeit überschwemmte Mr. Proudfoot, während gleichzeitig seine Bewunderung für Quin als hochherzigen Retter der vom Schicksal Geschlagenen deutlich zurückging. Es blieb nur Verwunderung darüber, daß Quin es so eilig hatte, eine Frau loszuwerden, auf die die meisten Männer sich gestürzt hätten.

«Ich finde dieses Bild wunderschön», sagte sie, nachdem sie ihm die Hand gegeben hatte. «Es hat etwas so Freundliches – es erinnert mich an die Gegend, in der wir immer den Sommer verbracht haben, an den Grundlsee.»

«Ah, ja. Das ist der Lake District; die Landschaft ist wahrscheinlich ähnlich.»

«Wer hat das Bild gemalt?»

«Ich. Als Student. Ich habe mich damals im Aquarellieren versucht. Ziemlich stümperhaft, wie Sie sehen», sagte er, sich in britische Bescheidenheit zurückziehend.

Ruth gefiel das nicht. «Von stümperhaft kann keine Rede sein», sagte sie vorwurfsvoll. «Das Bild ist wirklich schön. Aber jetzt malen Sie wohl mehr die hiesige Gegend?»

«Nein. Ich habe seit Jahren keinen Pinsel mehr in der Hand gehabt.»

«Aber warum denn nicht? Haben Sie hier soviel zu tun?» fragte sie, während sie ihm in sein Zimmer folgte.

«Äh, ja – aber es ließe sich wahrscheinlich schon Zeit finden. Man ist nur als Amateur so leicht entmutigt.»

Ruth runzelte die Stirn. «Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber ich halte das für ganz verkehrt. Ein Amateur ist jemand, der eine Tätigkeit liebt. In allen Haydn-Quartetten gibt es eine Stimme für einen Amateur – meistens die zweite Geige oder das Cello – und sie ist genausoschön wie die anderen.»

Der Anblick des Dokuments jedoch, das Mr. Proudfoot vorbereitet hatte, brachte Ruth jetzt zum Schweigen. Sie brauchte ihre ganze Konzentration, um sich durch mehrere Seiten gotischer Schrift und juristischen Jargons hindurchzukämpfen, aus denen hervorging, daß sie niemals von Quinton Alexander St. John Somerville berührt worden war und den Mann ihrerseits niemals berührt hatte.

«Ich weiß nicht, ob das klappen wird, Miss Berger – manche Richter akzeptieren eine eidesstattliche Versicherung ohne ärztliches Zeugnis nicht, und Quin möchte Ihnen so etwas unbedingt ersparen.» Er wurde ein wenig rot.

«Ja, er ist so aufmerksam und rücksichtsvoll. Gerade deshalb müssen wir alles tun, um diese Nichtigkeitserklärung so schnell wie möglich durchzusetzen. Damit er jemand anders heiraten kann.»

Proudfoot, der den Eindruck erhalten hatte, Ruth sei diejenige, die es eilig hatte, war erstaunt.

«Möchte er denn jemand anders heiraten?»

«Er vielleicht nicht, aber andere Leute wollen es. Verena Plackett zum Beispiel.»

«Ich weiß nicht, wer Verena Plackett ist, aber ich kann Ihnen versichern, daß Quinton sich sehr gut um sich selbst kümmern kann. Die Leute versuchen schon seit Jahren, ihn zu verheiraten.» Er zog das imposante Dokument näher zu sich heran. «Jetzt hören Sie mir zu, Miss Berger, damit ich Ihnen erklären kann, worauf es ankommt. Sie müssen dieses Papier genau an der Stelle unterzeichnen, die ich gekennzeichnet habe – hier und hier und dann noch einmal auf der anderen Seite –, und zwar mit Ihrem vollen Namen und im Beisein eines Notars. Der wird dafür etwas verlangen, und Quin hat mir aufgetragen, Ihnen fünf Pfund zu geben, damit Sie die Gebühr bezahlen können. Jeder Notar kann das machen, Sie werden sicher in Hampstead einen finden. Wenn Sie das erledigt haben, bringen Sie mir das Papier zurück – schicken Sie es lieber nicht mit der Post; wenn es verlorengeht, verpassen wir den nächsten Gerichtstermin, und das wäre ungut. Wenn Sie irgend etwas nicht verstehen, dann sagen Sie es mir.»

«Ich glaube, ich verstehe alles», sagte Ruth. «Aber vielleicht könnten Sie es mir einwickeln?» In ihrem Strohkorb lagen nämlich neben Heften und Büchern die Überreste von Pillys Mittagbrot, das sie jetzt, da Heini bei ihnen aß, immer mit nach Hause nahm, anstatt die Enten damit zu füttern.

«Keine Sorge. Und ich erwarte Sie dann in ein paar Tagen. Alles Gute.»


«Na, was halten Sie davon?» Milner sah Quin mit schräg geneigtem Kopf und einem kaum verhohlenen Blitzen im Auge an.

Quin blickte in die Schublade mit den Versteinerungen, die Milner aufgezogen hatte. «Sie haben natürlich recht. Das ist ein Teil eines Pterosauriers. Und ich hätte geschworen, daß er aus Tendaguru stammt. Die Deutschen haben von der Expedition 1908 zwei solche Abdrücke in Berlin. Ich habe sie gesehen.»

«Tja, aber daher kommt er nicht. Möchten Sie wissen, wo der hier gefunden wurde?»

Quin zeichnete die Umrisse des mit einem langen Schnabel versehenen Schädels nach. Ein Flugsaurier, alt wie die Vorzeit und sehr selten. Er nickte.

«Auf der anderen Seite der Kulamali-Schlucht, achthundert Meilen entfernt. Er hat mir die Stelle auf der Karte gezeigt. Farquarson mag nur ein weißer Jäger sein, aber er ist kein Lügner, und er kennt Afrika wie seine Westentasche. Ich habe mir den genauen Fundort aufgeschrieben.»

«Ist das Ihr Ernst?» fragte Quin. «Südlich der Schlucht?»

«Ganz recht. Er hatte keine Ahnung, wie wichtig dieser Fund ist, und ich habe es ihm auch nicht gesagt. Ein Glück, daß er kein Paläontologe ist, sonst säße uns jetzt schon die ganze Meute im Nacken. So aber ...»

Quin hob abwehrend eine Hand. Milner war in den sechs Monaten, seit er wieder in England war, in Verwaltungsarbeit, die er als reine Zeitverschwendung betrachtete, fast erstickt. Daß er wieder los wollte, war klar.

«Ich kann dem jetzt nicht nachgehen. Ich war den größten Teil des vergangenen Jahres auf Reisen; das ist meinen Kollegen gegenüber nicht fair.» Er stieß die Schublade zu und wandte sich ab. «Trotzdem würde ich gern Farquarsons Bericht sehen. Es gibt ja dort diese Sandsteinplateaus – ausgeschlossen ist es also nicht. Ach, verflixt, Jack, ich muß gehen. Ich muß mich um die Abschlußprüfungen kümmern. Ich bin jetzt ein braver Angestellter.»

Milner sagte nichts mehr, es genügte ihm, den Keim gelegt zu haben. Früher oder später würde Quin weich werden. Milner hatte andere Möglichkeiten zu reisen, aber er würde warten. Ohne Somerville war es nicht dasselbe – und es würde Quin guttun, wegzukommen. Er war ja in den letzten Wochen gar nicht er selbst gewesen.


Verena war hochzufrieden aus Bowmont zurückgekehrt. Zwar hatte Quin ihr keinen Antrag gemacht, aber bei ihrem Fest war er höchst aufmerksam gewesen, und wenn nicht diese Verrückte den Stein geworfen und damit den Abend verpatzt hätte, wäre alles vielleicht viel weiter gediehen. Quin war hinterher völlig verändert gewesen, in sich gekehrt und geistesabwesend. Kein Wunder, es war sicher kein Vergnügen, eine Verrückte auf dem eigenen Grund und Boden zu haben.

Zurück in London, konzentrierte sie sich ganz auf ihre Arbeit. Am leichtesten war es, Quin über sein wissenschaftliches Interesse nahezukommen, und je näher die Prüfungen rückten, desto verbissener lernte Verena.

Ihre Eltern unterstützten sie natürlich nach Kräften. Im Flur vor dem Arbeitszimmer waren Unterhaltungen streng verboten; ebenso das Staubsaugen, wenn Verena über ihrem Aufsatz saß; von der Bibliothek wurde ein ganzer Stapel Fachbücher geliefert, darunter auch Nachschlagewerke, die von anderen Studenten gebraucht wurden.

Aber Verena strengte nicht nur ihren Kopf an, sie stählte auch ihren Körper, und das noch energischer als zuvor, denn sie hatte ihr Ziel nie aus den Augen verloren: Quin auf seinen Auslandsreisen zu begleiten. Sie hatte nur in einem Punkt gewisse Zweifel gehabt, aber Quin selbst lieferte ihr nun die beruhigende Gewißheit, die ihr noch gefehlt hatte.

Es geschah bei einem Abendessen, zu dem ihre Mutter Colonel Hillborough von der königlichen geographischen Gesellschaft eingeladen hatte. Hillborough war ein berühmter Weltreisender und ein bescheidener Mann, der selbstlos für die Gesellschaft arbeitete. Er hatte der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß Professor Somerville, den er kannte, bei dem Essen anwesend sein würde.

Was auch immer Quin von den intimen Abendessen der Plakketts halten mochte, er konnte nicht ablehnen, und drei Tage nach seinem Gespräch mit Milner im Museum fand er sich wieder einmal zu Verenas Rechter sitzend.

Es wurde ein gelungener Abend. Hillborough war gerade aus der Antarktis zurück und hatte Shackletons Hütte genau in dem Zustand gesehen, in dem dieser sie zurückgelassen hatte: Von der Decke hing ein gefrorener Schinken herab, der noch eßbar war; auf dem Feldbett lagen seine Filzstiefel. Als er und Quin sich über die großen Forschungsreisen der Vergangenheit unterhielten, verstummten die meisten anderen Gäste, um ihnen interessiert zuzuhören.

«Und Sie?» fragte Hillborough, als die Damen Anstalten machten, das Zimmer zu verlassen. «Werden Sie nicht auch bald wieder auf Reisen gehen?»

Quin hob lächelnd eine Hand. «Führen Sie mich nicht in Versuchung, Sir.»

An dieser Stelle stellte Verena die Frage, die ihr schon so lange im Kopf herumging. «Ach, sagen Sie, Professor Somerville», sagte sie, ihn mit seinem Titel ansprechend, obwohl sie ihn jetzt, da sie mit ihm getanzt hatte, privat bei seinem Vornamen nannte. «Gibt es irgendeinen Grund, daß Frauen bei diesen Expeditionen, die Sie ausrichten, nicht mitmachen können?»

Quin wandte sich ihr zu. «Überhaupt keinen», antwortete er mit Entschiedenheit. «Im Gegenteil – ich bin der Meinung, man sollte den Frauen endlich eine Chance geben.»

Verena war glücklich, als sie an diesem Abend zu Bett ging. Diese Nachdrücklichkeit seiner Versicherung, diese Wärme in seinen Augen, das alles konnte nicht ohne Bedeutung sein. Sie sagte sich, daß Gymnastikübungen zu Hause nicht ausreichten. Wenn sie schnell und ausdauernd sein wollte, brauchte sie mehr Herausforderung, und der geeignete Sport war Squash. Beim Squash braucht man jedoch einen Partner, und so überwand sie tapfer ihre Bedenken – denn sie wollte ihn ja nicht so deutlich auszeichnen – und lud Kenneth Easton in den Athletic Club ein.

Sie konnte nicht ahnen, welche Wirkung diese Einladung auf den armen Kenneth haben würde, der mit seiner verwitweten Mutter in dem stillen Vorort Edgware Green lebte. Sparschweine wurden zerschlagen, Postsparbücher geplündert, um Kenneth mit einem Schläger und den richtigen Schuhen und weißen Shorts auszustatten, die seine noch weißeren Knie umflatterten.

Und schon am folgenden Dienstag machte er sich mit der Tochter des Vizekanzlers glückstrahlend auf den Weg zu einer Partie Fitneß und Gesundheit ins Squashzentrum.


«Ich hab so ein schlechtes Gewissen», sagte Ruth zu dem Schaf. «Ich schäme mich fürchterlich.» Seit ihrer Einbürgerung sprach sie Englisch mit ihm. «Ich weiß überhaupt nicht, wie ich das fertiggebracht habe.»

Das Schaf scharrte mit einem Fuß und rammte den Kopf an die Wand seines Pferchs. Es schien seine Teilnahme zeigen zu wollen.

«Ich weiß, ich sollte mich nicht gerade bei dir beklagen, wo du doch selbst so ein schlimmes Leben hast», fuhr sie fort – und in der Tat war die Zukunft des Schafs, das niemand haben wollte, ziemlich düster. «Ich würde dir so gern helfen, und ich weiß auch genau, wo du hingehörst ... Es ist das reinste Paradies, glaub mir. Es gibt da herrliche grüne Wiesen, und man riecht das Meer, und die Luft ist frisch und klar.»

Aber es war besser, nicht von Bowmont zu sprechen, nicht einmal mit dem Schaf. Noch immer träumte sie beinahe jede Nacht davon, aber das würde vergehen. Alles verging – das war eine der wenigen Erkenntnisse, über die sich alle Fachleute einig waren.

«Ich hoffe nur, er ist bei guter Laune», sagte sie und nahm ihren Korb.

Doch das war unwahrscheinlich. Quin hatte seit Heinis Ankunft kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Weshalb sollte er auch? Der beschämende Moment, als sie den Stein geworfen hatte, war nicht so leicht zu vergessen. Es gab Gerüchte über den Professor; daß er ein wildes Leben führte und sich die Nächte um die Ohren schlug.

Sie begab sich in den Hörsaal, und als er eintrat, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. «Er sieht aus, als hätte er die Nacht durchgemacht», sagte Sam. Ruth nickte. Das schmale Gesicht war blaß, die hohe Stirn gefährlich umwölkt, und irgend jemand schien stundenlang auf seiner Robe gesessen zu haben.

Doch als er seine Vorlesung begann, stellte sich der alte Zauber ein. Nur eines hatte sich geändert – sein Abgang. Mit täuschender Beiläufigkeit bewegte er sich zur Tür, während er seinen letzten Satz sprach, und war verschwunden. Er als einziger unter den Dozenten erhielt keinen Dank von Verena Plackett.


Er hatte ihr gesagt, sie könne um zwei Uhr kommen, aber er hatte sich verspätet, und sie hatte Zeit, sich die Hominidenfrau anzusehen, die ohne Frances' Schal ein wenig nackt aussah; dann ging sie hinüber zu der flachen Schale, in der sich aus dem Durcheinander von Reptilienknochen allmählich eine erkennbare Gestalt herauszubilden begann.

Als Quin ins Zimmer kam, sah er sie dort stehen und war an Wien erinnert. Ihm schien, sie sähe genauso aus wie damals: verloren und hoffnungslos. Aber ihm war nicht nach Mitleid zumute. Der vergangene Abend mit Claudine Fleury war eine unerwartete Enttäuschung gewesen. Sie kannten sich lange, sie verstanden sich. Sie war zweimal verheiratet gewesen, lebte jetzt in Mayfair, im luxuriösen Haus ihres Vaters, eines Konzertagenten, der viel auf Reisen war, eine Französin, wie jedermann sie sich erträumt: zierlich und dunkeläugig, von erlesener Eleganz.

Der Abend war nach dem gewohnten Muster abgelaufen: Abendessen bei Rules, Tanzen im Domino und dann nach Hause zu den Wohltaten ihres intimen Himmelbetts.

Wenn man überhaupt jemandem schuld geben konnte, dann ihm, das wußte er, und er konnte nur hoffen, daß Claudine nichts gemerkt hatte. Die Wahrheit war, daß alles, was ihn zu ihr hingezogen hatte, ihre Erfahrung, ihre innere Distanziertheit, die Tatsache, daß sie die Liebe nicht allzu ernst nahm, jetzt seinen Zauber verloren hatte. Plötzlich hatte er das Zusammensein mit ihr als seelenlos empfunden und sich unglaublich einsam gefühlt.

Ruth, die sein verschlossenes Gesicht sah, machte sich auf das Schlimmste gefaßt.

«Was kann ich für Sie tun?»

Ruth holte tief Atem. «Sie können mir verzeihen», sagte sie. Quin zog die Augenbrauen hoch. «Du lieber Gott! Ist es so schlimm? Was soll ich Ihnen denn verzeihen?»

«Ich sage es Ihnen gleich – nur versprechen Sie mir bitte, nicht von Freud zu reden, denn das macht mich schrecklich wütend.»

«Das wird mir wahrscheinlich ganz leichtfallen», erwiderte er. «Ich schaffe es häufig, ihn monatelang nicht zu erwähnen. Aber was hat er Ihnen Schlimmes angetan?»

«Er selbst war es eigentlich gar nicht», antwortete Ruth. «Es war Fräulein Lutzenholler.» Und als Quin sie verständnislos ansah, erklärte sie: «Sie ist Psychoanalytikerin. Sie kommt aus Breslau, und sie macht nichts als Ärger. Sie läßt alles anbrennen – sogar harte Eier, und das ist doch wirklich schwierig –, und dauernd kocht ihre Suppe über und überschwemmt den ganzen Herd, und meine Mutter ist überzeugt, daß wir nur ihretwegen Mäuse im Haus haben. Und jeden Abend um halb zehn steigt sie auf einen Stuhl und klopft an die Zimmerdecke, damit Heini zu üben aufhört. Und dann wagt sie es noch ...» Ruth konnte vor Entrüstung nicht weitersprechen.

«Was wagt sie?»

«Sie wagt es, mich darüber aufzuklären, was Freud über das Verlieren von Dingen gesagt hat.»

«Was hat er denn gesagt?»

«Daß wir das verlieren, was wir verlieren möchten, und das vergessen, was wir vergessen möchten. Es steht alles in seiner Traumdeutung. Ich hätte ihr ja gar nicht erzählt, daß ich die Papiere im Bus liegengelassen habe, aber es war sonst niemand zu Hause, und ich war total außer mir, weil ich schon überall gewesen war, im Depot und beim Fundbüro. Ich habe ihr natürlich nicht gesagt, was ich im Bus liegengelassen hatte, nur daß es etwas Wichtiges war – und da untersteht sie sich, mir mit meinem Unbewußten zu kommen – eine Frau, die nicht mal Suppe kochen kann!»

Quin beugte sich über seinen Schreibtisch. «Ruth, würden Sie mir jetzt einfach mal in aller Ruhe sagen, worum es eigentlich geht? Was haben Sie im Bus liegengelassen?»

Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. «Die Papiere für die Nichtigkeitserklärung. Den ganzen Packen, den Mr. Proudfoot mir gegeben hatte. Sie waren alle in einer großen Pappröhre.»

Quin war aufgestanden und zum Fenster gegangen. Er stand mit dem Rücken zu ihr. Seine Schultern zuckten. Er mußte wirklich zornig sein.

«Es tut mir so leid. Es tut mir wirklich schrecklich leid.»

Quin drehte sich um, und sie sah, daß er sich bemühte, nicht zu lachen.

«Sie finden das komisch?» fragte sie perplex.

«Ja, ich muß es gestehen», antwortete er entschuldigend. Dann ging er zu ihr und blieb neben ihr stehen. «Jetzt erzählen Sie mir mal genau, wie es passiert ist. Möglichst in chronologischer Reihenfolge.»

«Also, ich war bei Mr. Proudfoot, und er hat mir diese Rolle mit den Dokumenten gegeben, und ich wollte gleich nach Hampstead fahren, mit dem Bus, um die Papiere bei einem Notar zu unterschreiben. Ich weiß, daß in der High Street einer ist. Ich hab einen von diesen altmodischen Bussen genommen, die oben offen sind, Sie wissen schon, und bin hinaufgegangen, weil es in Wien solche Doppeldecker überhaupt nicht gibt. Ich habe mich ganz vorn hingesetzt und mir einfach alles angesehen, woran wir vorüberkamen. Es war schön, so hoch oben zu sitzen und ganz im Freien. Und als wir nach Hampstead Heath kamen, habe ich plötzlich unten am Rand des Parks eine ganze Gruppe Steinpilze gesehen, Sie wissen schon, diese großen Pilze, die wir auch am Grundlsee gefunden haben. Sie standen gleich hinter der Damentoilette, und ich wußte genau, daß sie da nicht mehr lange sein würden, weil die Flüchtlinge ja immer auf der Suche sind; deshalb bin ich die Treppe hinuntergerannt, um an der nächsten Haltestelle auszusteigen und sie zu pflücken. Bei uns ist es nämlich mit dem Essen ein bißchen knapp, seit Heini gekommen ist – ich meine, meine Mutter ist immer froh, wenn jemand etwas mitbringt. Ja, und als ich dann im Park war, merkte ich, daß ich die Papiere vergessen hatte. Aber ich habe mich eigentlich nicht weiter aufgeregt, weil ich ganz sicher war, daß ich sie im Depot wiederbekommen würde. Aber da waren sie nicht, und beim Fundbüro auch nicht. Ich war in den letzten zwei Tagen mehrmals dort, aber es ist hoffnungslos. Ich weiß nicht, wie ich das Mr. Proudfoot erklären soll. Er war doch so nett und hat sich so bemüht.»

«Machen Sie sich keine Sorgen, ich spreche mit ihm. Aber etwas anderes, Ruth. Meinen Sie nicht, es wäre jetzt an der Zeit, Heini und Ihren Eltern von unserer Heirat zu erzählen? Wir haben schließlich nichts getan, dessen wir uns schämen müssen. Ich bin überzeugt, sie würden ...»

«Nein, nein, bitte!» Ruth umklammerte seinen Arm und sah ihn flehend an. «Ich bitte Sie ... meine Mutter hat viel Verständnis, sie macht Heinis ganze Wäsche, und sie verköstigt ihn mit, und sie beklagt sich auch nicht, wenn er immer so lange im Bad bleibt ... aber was es bedeutet, ein Konzertpianist zu sein, hat sie irgendwie doch nicht ganz begriffen. Als zum Beispiel Paul Ziller für Heini diese Arbeit fand – er hätte zwei Abende in der Woche im Lyons Corner House Klavier spielen sollen –, da hat sie tatsächlich erwartet, daß er sie annimmt.»

«Aber er hat es nicht getan?»

«Nein. Er hat gesagt, wenn man diesen Weg einmal einschlägt, wird man als Musiker nie wieder ernstgenommen; aber Paul Ziller tut es natürlich auch, und meine Mutter ... sie ist Ihnen sowieso schon so dankbar dafür, daß Sie meinem Vater die Arbeit besorgt haben, und sie würde Sie bestimmt aufsuchen, um Ihnen zu danken, und Sie würden das fürchterlich lästig finden.»

«Ach ja, würde ich das?» fragte Quin in einem Ton, den sie bei ihm nie vorher gehört hatte. «Na ja, kann sein. Wie dem auch sei, ich werde Dick anrufen, damit er die Papiere noch einmal aufsetzen läßt. Machen Sie sich keine Vorwürfe, wir haben wahrscheinlich nur einen oder zwei Monate verloren.»

Sie lächelte. «Vielen Dank. Ich bin so erleichtert. Jetzt kann ich mich in Ruhe über meine Hausarbeit setzen.»

Erst am Ende des Tages kam Quin, der auf geheimnisvolle Weise seine gute Laune wiedergefunden hatte, dazu, seinen Anwalt anzurufen.

«Was hat sie getan?» fragte Proudfoot ungläubig.

«Das hab ich dir doch eben gesagt. Sie hat die Papiere im Bus liegengelassen .»

«Das ist doch nicht zu fassen! Ich hatte sie ihr extra in eine Riesenpappröhre gesteckt, die mit rotem Band zugeknotet war.»

«Aber sie hat sie nun mal verloren», sagte Quin und wiederholte in aller Kürze die Geschichte von den heißumkämpften Pilzen. «Du wirst das Ganze also noch einmal schreiben lassen müssen.»

«Ja, gut, aber diese Woche geht das nicht mehr – meine Sekretärin ist krank. Und nächste Woche reise ich für vierzehn Tage nach Madeira, du kannst also die nächste Sitzungsperiode des Gerichts vergessen.»

«Tja, das läßt sich nicht ändern», sagte Quin, und Dick Proudfoot dachte sich im stillen, wenn er wirklich Verena Plackett heiraten wollte, so schien es kein sonderlich dringender Wunsch zu sein. «Was tust du denn in Madeira?»

«Ich mache Urlaub», antwortete Proudfoot. «Und ich werde ein bißchen malen. Deine Frau meinte, ich sollte wieder anfangen.»

«Meine ...» Quin brach ab. Es wäre ihm nie eingefallen, Ruth so zu bezeichnen.

«Na ja, sie ist doch deine Frau, oder etwa nicht? Ich versteh sowieso nicht, wieso du sie unbedingt loswerden möchtest – du mußt wirklich verrückt sein. Aber mich geht das ja nichts an.»

«Ganz recht», bestätigte Quin freundlich. «Und ich warne dich, wenn sie wieder zu dir in die Kanzlei kommt, dann sprich ja nicht von Sigmund Freud, sonst bekommt sie einen Tobsuchtsanfall.»

«Auf die Idee käme ich gar nicht. Ich versteh überhaupt nichts von diesem Zeug.»

«Na, dann ist es ja gut. Ich wollte dich nur warnen.»

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