8 Jarra

Graue Steingebäude mit Schieferdächern umgaben die wenigen, engen Straßen von Jarra, das an den Abhang eines Hügels geklebt schien. Unterhalb floß ein kleines Flüßchen, über das sich eine niedrige Holzbrücke schwang. Die schlammigen Straßen waren leer, genau wie der am Abhang gelegene Dorfanger. Nur ein Mann war zu sehen, der die Treppe vor der einzigen Schenke des Dorfs fegte. Daneben stand das aus Stein gemauerte Stallgebäude. Es sah aber so aus, als hätten sich noch kurz zuvor viele Menschen auf dem Anger getummelt Ein halbes Dutzend aus grünen Zweigen zusammengebundener und mit Frühlingsblumen bekränzter Torbögen stand im Kreis in der Mitte. Das Gras sah niedergetrampelt aus, und es gab noch weitere Anzeichen für ein Fest: einen roten Frauenschal, der an einem der Bögen unten hängengeblieben war, die Wollmütze eines Kindes, einen umgekippten Krug und ein paar Speisereste.

Über dem Anger lag noch der Duft nach neuem Wein und Gewürzkuchen, der sich mit dem Rauch aus Dutzenden von Schornsteinen und dem Geruch nach Abendessen vermischt hatte. Einen Moment lang witterte Perrin einen anderen Geruch, den er nicht identifizieren konnte — eine schwache Witterung nur, die so ekelhaft war, daß ihm die Haare zu Berge standen. Dann war sie weg. Doch er war sicher, daß hier etwas durchgekommen war, etwas — Gemeines. Er rieb sich die Nase, als wolle er die Erinnerung daran wegreiben. Das kann nicht Rand sein. Licht, selbst wenn er wahnsinnig geworden ist, kann er das nicht gewesen sein, oder?

Über dem Eingang der Schenke hing ein gemaltes Schild, auf dem ein Mann zu sehen war, der auf einem Bein stand und die Arme nach vorn geworfen hatte: ›Harilins Sprung‹ nannte sich das Ganze. Als sie ihre Pferde vor dem quadratischen Steingebäude anhielten, richtete sich der kehrende Mann gähnend auf. Er zuckte beim Anblick von Perrins Augen zusammen, aber als er dann noch Loial erblickte, fielen ihm die Augen fast aus dem Kopf. Bei seinem breiten Mund und fliehenden Kinn wirkte er ein wenig wie ein Frosch. Er roch nach saurem Wein, den er vor einiger Zeit getrunken haben mußte, fand jedenfalls Perrin. Der Bursche hatte garantiert kräftig mitgefeiert.

Der Mann riß sich zusammen und verbeugte sich. Dabei hielt er eine Hand auf der Doppelreihe von Knöpfen an der Vorderseite seines Mantels. Sein Blick wanderte von einem zum anderen, und jedesmal, wenn er auf Loial traf, wurden die Augen noch großer. »Willkommen, gute Frau, und das Licht leuchte Euch auf allen Wegen. Willkommen, gute Herren. Ihr braucht vielleicht etwas zu essen, Zimmer, ein Bad? Hier im ›Sprung‹ könnt ihr alles haben. Meister Harod, der Wirt, führt ein gutes Haus. Ich heiße Simion. Wenn ihr etwas braucht, dann fragt nur Simion, und er besorgt es für euch.« Er gähnte wieder, hielt sich die Hand vor den Mund und verbeugte sich verlegen. »Entschuldigung, gute Frau. Ihr seid von weit her? Habt Ihr Neuigkeiten von der Großen Jagd? Der Jagd nach dem Horn von Valere? Oder von dem falschen Drachen? Man sagt, in Tarabon sei ein falscher Drache. Oder vielleicht in Arad Doman.«

»Von so weit her kommen wir nicht«, sagte Lan, und er schwang sich aus dem Sattel. »Zweifellos wißt Ihr mehr als ich.« Alle stiegen nun ab.

»Habt ihr hier eine Hochzeit gefeiert?« fragte Moiraine.

»Eine Hochzeit, gute Frau? Wir hatten eine wahre Hochzeitenschwemme! Alles in den letzten zwei Tagen. Es gibt keine Frau, die alt genug ist, um den Eheschwur abzulegen, im ganzen Dorf und auf eine Meile Umkreis, die nicht verheiratet wäre! Also, sogar die Wittfrau Jorath hat den alten Banas durch die Bögen gezerrt, und dabei hatten beide geschworen, nie wieder zu heiraten. Es war wie ein Wirbelsturm, der alle mitriß. Rilith, die Tochter des Webers, begann damit, als sie den Schmied Jon fragte, ob er sie heiraten wolle, obwohl er alt genug ist, um ihr Vater zu sein. Der alte Narr nahm einfach die Schürze ab und sagte ja, und sie verlangte, daß man die Bögen sofort aufstellt! Wollte nichts von der üblichen Wartezeit hören, und die anderen Frauen gaben ihr alle auch noch recht. Seitdem hatten wir Tag und Nacht Hochzeiten. Hier hat wohl kaum einer Zeit zum Schlafen gehabt.«

»Das ist ja sehr interessant«, sagte Perrin, als Simion einen Moment lang schwieg und wieder gähnte, »aber habt Ihr auch einen jungen... «

»Es ist wirklich sehr interessant«, sagte Moiraine und schnitt ihm rechtzeitig das Wort ab, »und ich würde gern später mehr davon hören. Aber jetzt brauchen wir Zimmer und eine Mahlzeit.« Lan bewegte die Hand nach unten und gab damit Perrin ein Zeichen, als wolle er ihm sagen, er solle den Mund halten.

»Selbstverständlich, gute Frau. Eine Mahlzeit. Zimmer.« Simion zögerte und beäugte Loial. »Wir werden zwei Betten zusammenrücken müssen für... « Er beugte sich zu Moiraine vor und senkte die Stimme. »Verzeiht, gute Frau, aber... äh... was genau... ist er eigentlich? Bei allem Respekt«, fügte er hastig hinzu.

Er hatte nicht leise genug gesprochen, denn Loials Ohren zuckten verärgert. »Ich bin ein Ogier! Was dachtet Ihr denn? Ein Trolloc?«

Simion trat einen Schritt zurück, als die dröhnende Stimme erklang. »Trolloc, guter... äh... Herr? Ich bin doch ein erwachsener Mann. Ich glaube nicht an Kindergeschichten. Äh, habt Ihr Ogier gesagt? Aber Ogier sind doch auch Kind... ich meine... das heißt... « Verzweifelt wandte er sich um und brüllte in Richtung des Stalles, der neben der Schenke stand: »Nico! Patrim! Gäste! Kommt her und kümmert Euch um ihre Pferde!« Einen Augenblick später torkelten zwei Jungen mit Heu im Haar aus dem Stall, gähnten und rieben sich die Augen. Simion deutete auf die Treppe und verbeugte sich, als die Jungen die Zügel ergriffen.

Perrin hängte sich die Satteltaschen und die Deckenrolle über die Schulter und trug seinen Bogen in der Hand. So folgte er Moiraine und Lan hinein. Simion verbeugte sich immer wieder und hüpfte ihnen voraus. Loial mußte sich tief ducken, und die Decke innen befand sich auch nur einen Fuß hoch über seinem Kopf. Er grollte in sich hinein, daß er nicht verstehen könne, warum sich so wenige Menschen an die Ogier erinnerten. Seine Stimme klang wie ferner Donner. Selbst Perrin, der direkt vor ihm hineingegangen war, konnte nicht die Hälfte davon verstehen.

In der Schenke roch es nach Bier und Wein, Käse und Erschöpfung. Der Duft von brutzelndem Lammbraten drang von irgendwoher weiter hinten herein. Die wenigen Männer im Schankraum hingen über ihren Krügen, als würden sie sich am liebsten auf die Bänke legen und schlafen. Eine mollige Dienerin schenkte gerade einen Krug Bier an einem der Fässer ganz hinten im Raum ein. Der Wirt selbst, in einer langen, weißen Schürze, saß auf einem hohen Hocker in einer Ecke und lehnte sich an die Wand. Als die Neuankömmlinge eintraten, hob er den Kopf. Seine Augen waren verschwollen. Beim Anblick von Loial fiel ihm die Kinnlade herunter.

»Gäste, Meister Harod«, verkündete Simion. »Sie möchten Zimmer. Meister Harod? Er ist ein Ogier, Meister Harod.« Die Dienerin drehte sich um und sah Loial. Sie ließ den Krug zu Boden fallen, wo er klirrend zerbrach. Keiner der trägen Männer an den Tischen blickte auf. Einer hatte mittlerweile den Kopf auf den Tisch gelegt und schnarchte.

Loials Ohren zuckten gewaltig.

Meister Harod stand langsam auf, den Blick auf Loial gerichtet, und glättete seine Schürze. »Wenigstens ist er kein Weißmantel«, sagte er schließlich, und dann fuhr er zusammen, als habe er sich gerade dabei ertappt, seine Gedanken laut ausgesprochen zu haben. »Also dann, willkommen, gute Frau, gute Herren. Vergebt mir meine schlechten Manieren. Ich kann mich nur auf meine Müdigkeit berufen, gute Frau.« Er warf Loial einen weiteren kurzen Blick zu und formte mit den Lippen das Wort ›Ogier‹. Er wirkte ungläubig.

Loial öffnete den Mund, doch Moiraine kam ihm zuvor: »Wie Euer Mann schon sagte, guter Wirt, brauche ich Zimmer für meine Gesellschaft diese Nacht und eine Mahlzeit.«

»Oh! Natürlich, gute Frau. Natürlich. Simion, bringe diese guten Leute auf meine besten Zimmer, damit sie ihr Gepäck abstellen können. Ich werde ein gutes Mahl für Euch richten, bis Ihr zurückkehrt, gute Frau. Ein feines Mahl.«

»Wenn Ihr mir bitte folgen würdet, gute Frau«, sagte Simion. »Gute Herren.« Er verbeugte sich in Richtung der Treppe auf einer Seite des Schankraums. Hinter ihnen rief einer der Männer an den Tischen plötzlich: »Was im Namen des Lichts ist das?« Meister Harod begann, die Anwesenheit des Ogiers zu erklären. Es klang, als ob das für ihn völlig selbstverständlich sei. Das meiste von dem, was Perrin noch verstand, bis sie draußen waren, war unrichtig. Loials Ohren zuckten ohne Unterlaß.

Im zweiten Stock streifte der Kopf des Ogiers wirklich fast die Decke. In dem engen Flur war es dunkel. Die einzige Beleuchtung kam vom letzten Abendsonnenschein durch ein Fenster neben der Tür am Ende des Ganges. »In den Zimmern haben wir Kerzen, gute Frau«, sagte Simion. »Ich hätte eine Lampe mitnehmen sollen, aber mir dreht sich immer noch alles im Kopf von den vielen Hochzeiten. Ich schicke jemanden herauf zum Feuermachen, wenn Ihr wünscht. Und dann braucht Ihr natürlich Waschwasser.« Er öffnete eine Tür. »Unser bestes Zimmer, gute Frau. Wir haben nicht viele — es kommen ja nur selten Fremde her —, aber dies ist das beste.«

»Ich nehme das daneben«, sagte Lan. Er trug Moiraines Satteltaschen und Deckenrolle neben den eigenen auf der Schulter, und dazu noch das Bündel mit dem Drachenbanner.

»Oh, guter Herr, das ist aber kein schönes Zimmer. Ein enges Bett. Eng. Für einen Diener gedacht, schätze ich, als ob wir irgendwann jemanden mit Diener hier hätten! Entschuldigung, gute Frau.«

»Ich nehme es trotzdem«, sagte Lan energisch.

»Simion«, sagte Moiraine, »kann Meister Harod die Kinder des Lichts nicht leiden?«

»Allerdings, gute Frau. Früher war das nicht so, aber jetzt schon. Es ist nicht vorteilhaft, wenn man die Kinder des Lichts haßt, besonders so nahe an der Grenze, wie wir uns hier befinden. Sie kommen die ganze Zeit über durch Jarra, als gäbe es überhaupt keine Grenze. Aber gestern gab es Probleme. Eine ganze Menge Probleme. Und das, obwohl die Hochzeiten stattfanden und so.«

»Was ist geschehen, Simion?«

Der Mann blickte sie forschend an, bevor er antwortete. Perrin glaubte nicht, daß die anderen diesen Blick bemerkt hatten, weil es im Flur zu düster war. »Es waren so ungefähr zwanzig von ihnen. Sie waren vorgestern angekommen. Da war alles in Ordnung. Aber gestern... Also, drei von ihnen kamen und sagten, sie seien keine Kinder des Lichts mehr. Sie warfen ihre Umhänge fort und ritten weg.«

Lan knurrte: »Weißmäntel legen einen Eid fürs ganze Leben ab. Was hat ihr Kommandant getan?«

»Also, er hätte bestimmt etwas unternommen, da könnt Ihr sicher sein, guter Herr, aber dann kam ein anderer von ihnen und sagte, er werde jetzt wegreiten und das Horn von Valere suchen. Noch ein anderer meinte, sie sollten den Drachen jagen. Derjenige sagte auch, er werde zur Ebene von Almoth reiten. Dann haben ein paar von ihnen angefangen, Frauen auf der Straße zu belästigen. Die Frauen kreischten, und die Kinder schrien die an, die ihre Mütter belästigten. Ich habe noch nie solch ein Durcheinander erlebt.«

»Hat keiner von euch versucht, sie zurückzuhalten?« fragte Perrin.

»Guter Herr, Ihr tragt diese Axt, als könntet Ihr damit umgehen, aber es ist nicht so leicht, sich Männern mit Schwertern und Rüstungen entgegenzustellen, wenn alles, womit man selbst umgehen kann, der Besen oder die Harke sind. Der Rest der Weißmäntel, die nicht weggeritten waren, hat dem Ganzen ein Ende bereitet. Beinahe hätten sie die Schwerter gezogen. Und das war nicht das Schlimmste. Zwei weitere haben einfach durchgedreht, als wären die anderen nicht schon verrückt genug gewesen. Die zwei haben angefangen, über Jarra herzuziehen, daß es hier vor Schattenfreunden wimmle. Sie versuchten, das Dorf niederzubrennen — sie haben gesagt, daß sie das wollten — und mit dem ›Sprung‹ anzufangen. Ihr könnt die Brandspuren an der Rückseite sehen, wo sie angefangen haben. Haben sich gegen die anderen Weißmäntel gewehrt, die sie aufhalten wollten. Die übrigen Weißmäntel haben uns beim Löschen geholfen, die zwei gefesselt und sind dann weggeritten, zurück nach Amadicia. Ein Glück, würde ich sagen, und wenn sie niemals zurückkommen, ist das immer noch zu früh!«

»Schlimmes Benehmen«, sagte Lan, »selbst für Weißmäntel.«

Simion nickte heftig. »Wie Ihr sagt, guter Herr. Sie haben sich noch nie so benommen. Angeben, ja, schon. Einen anschauen, als ob man ein Stück Dreck sei, und ihre Nasen in alles hineinstecken, was sie nichts angeht. Aber sie haben noch nie zuvor solche Unannehmlichkeiten verursacht. Jedenfalls nicht auf diese Art.«

»Jetzt sind sie aber weg«, meinte Moiraine, »und damit auch die Probleme. Ich bin sicher, wir werden eine ruhige Nacht haben.«

Perrin hielt den Mund, aber innerlich war er alles andere als ruhig. All diese Hochzeiten und die Weißmäntel sind ja schön und gut, aber ich will lieber wissen, ob Rand hier haltmachte und in welcher Richtung er weiterritt.

Dieser Geruch kann nicht von ihm stammen. Er ließ sich von Simion den Flur hinunter zu einem anderen Zimmer führen, das zwei Betten und einen Waschtisch, ein paar Hocker und sonst praktisch nichts enthielt. Loial bückte sich und steckte den Kopf durch die Tür. Durch die engen Fenster drang nur wenig Licht. Die Betten waren groß genug, aber die Matratzen sahen klumpig aus. Decken und Überbett lagen zusammengefaltet am Fuß. Simion fummelte auf dem Sims über dem Kamin herum, bis er eine Kerze fand und die Zunderbüchse, um sie zu entzünden.

»Ich werde dafür sorgen, daß man für Euch ein paar Betten zusammenrückt, guter... äh... Ogier. Ja, nur einen Moment noch.« Er schien sich aber nicht weiter zu beeilen und rückte die Kerze hin und her, als wolle er genau den perfekten Standort dafür finden. Perrin hielt ihn für äußerst nervös.

Na ja, ich wäre auch verdammt nervös, wenn sich in Emondsfeld Weißmantel so benommen hätten. »Simion, ist hier in den letzten ein oder zwei Tagen ein anderer Fremder durchgekommen? Ein junger Mann, groß, mit grauen Augen und rötlichem Haar? Er hat vielleicht Flöte gespielt, um sich ein Nachtlager und ein Essen zu verdienen.«

»Ich erinnere mich an ihn, guter Herr«, sagte Simion. Er rückte immer noch an der Kerze herum. »Kam früh am gestrigen Morgen an. Sah hungrig aus, ziemlich sogar. Er hat gestern bei den Hochzeiten Flöte gespielt. Gut aussehender junger Bursche. Zuerst haben ein paar der Frauen ein Auge auf ihn geworfen, aber... « Er schwieg und sah Perrin von der Seite her an. »Ist er ein Freund von Euch, guter Herr?«

»Ich kenne ihn«, antwortete Perrin. »Warum?«

Simion zögerte. »Kein besonderer Grund, guter Herr. Er war ein eigenartiger Bursche, das ist alles. Manchmal führte er Selbstgespräche, und manchmal lachte er sogar, obwohl überhaupt niemand etwas gesagt hatte. Hat letzte Nacht in diesem Zimmer geschlafen — oder jedenfalls einen Teil der Nacht über. Hat uns mitten in der Nacht mit seinem Schreien aufgeweckt. Es war nur ein Alptraum, aber er wollte nicht länger dableiben. Meister Harod hat nach all dieser Aufregung auch nicht weiter versucht, ihn zum Bleiben zu überreden.« Simion unterbrach sich wieder. »Er sagte etwas Seltsames, als er fortritt.«

»Was denn?« wollte Perrin wissen.

»Er sagte, es sei jemand hinter ihm her. Er sagte... « Der fast kinnlose Mann schluckte und fuhr dann bedächtiger fort: »Sagte, sie würden ihn töten, wenn er nicht weiterritte. ›Einer von uns muß sterben, und ich will, daß er es ist.‹ Das waren seine Worte.«

»Uns hat er nicht gemeint«, grollte Loial. »Wir sind seine Freunde.«

»Natürlich, guter... äh... Ogier. Natürlich, er hat Euch nicht gemeint. Ich... äh... ich will ja nichts von einem Eurer Freunde behaupten, aber ich... äh... ich glaube, es stimmt bei ihm nicht — er ist krank — im Kopf, meine ich.«

»Wir werden uns um ihn kümmern«, sagte Perrin. »Deswegen folgen wir ihm ja. Wohin ist er geritten?«

»Ich habe es geahnt«, sagte Simion. Er hüpfte fast auf den Zehenspitzen dabei. »Ich wußte, daß sie helfen kann, sobald ich Euch gesehen hatte. Wohin? Nach Osten, guter Herr. Nach Osten, als sei der Dunkle König selbst ihm auf den Fersen. Glaubt Ihr, sie hilft mir? Vielmehr meinem Bruder? Noam ist schwer krank, und Mutter Roon sagt, sie könne nichts tun.«

Perrin machte ein ausdrucksloses Gesicht und versuchte, Zeit zu gewinnen, indem er erst einmal seinen Bogen in eine Ecke stellte und seine Deckenrolle und die Satteltaschen auf ein Bett legte. Das Problem war nur: Zeit gewinnen und Nachdenken halfen nichts. Er sah Loial an und fand auch bei ihm keine Hilfe. Die Ohren des Ogiers hingen konsterniert herunter, und die langen Augenbrauen lagen auf seinen Wangen. »Warum glaubt Ihr, sie könne Eurem Bruder helfen?« Dumme Frage. Die richtige Frage wäre: Was wird er deswegen unternehmen?

»Aber, ich bin einmal nach Jehannah gereist, guter Herr. Dort sah ich zwei... zwei Frauen wie sie. Deshalb konnte ich mich in ihr nicht täuschen.« Er senkte seine Stimme, bis er nur noch flüsterte. »Man sagt, sie könnten Tote zum Leben erwecken, guter Herr.«

»Wer weiß noch davon?« fragte Perrin in scharfem Ton, und beinahe gleichzeitig sagte Loial: »Wenn Euer Bruder tot ist, kann niemand mehr etwas für ihn tun.«

Der Mann mit dem Froschgesicht blickte ängstlich von einem zum anderen, und seine Worte überstürzten sich: »Keiner außer mir, guter Herr. Noam ist nicht tot, guter Ogier, nur krank. Ich schwöre, daß sonst niemand sie erkennen würde. Selbst Meister Harod ist in seinem ganzen Leben niemals weiter als zwanzig Meilen von hier fortgewesen. Er ist so krank. Ich würde sie selbst fragen, nur daß dann meine Knie so zittern und ich nicht richtig sprechen könnte. Was ist, wenn sie sich ärgert und einen Blitz auf mich schleudert? Und was, wenn ich mich irre? Es ist nicht gerade etwas, dessen man eine Frau beschuldigt, ohne... ich meine... äh...« Er hob bittend und abwehrend zugleich die Hände.

»Ich will nichts versprechen«, sagte Perrin, »aber ich rede mit ihr. Loial, warum bleibst du nicht bei Simion, bis ich mit Moiraine gesprochen habe?«

»Natürlich«, dröhnte die Stimme des Ogiers. Simion fuhr zusammen, als Loials riesige Hand seine Schulter verschlang. »Er zeigt mir mein Zimmer und wir unterhalten uns. Simion, was wißt Ihr über Bäume?«

»B-b-bäume, g-g-guter Ogier?«

Perrin wartete nicht mehr. Er eilte durch den dunklen Flur zurück und klopfte an Moiraines Tür. Er wartete kaum auf ihr »Herein«, da war er auch schon drin.

Ein halbes Dutzend Kerzen zeigte ihm, daß auch das beste Zimmer im ›Sprung‹ nicht gerade vornehm war, auch wenn das einzige Bett einen auf vier Pfosten befestigten Himmel aufwies und die Matratze nicht so schlecht aussah wie die in seinem Zimmer. Auf dem Boden lag ein Fetzen, der nach Teppich aussah, und statt der Hocker standen hier zwei Polsterstühle. Abgesehen davon sah es nicht anders aus als sein Zimmer. Moiraine und Lan standen vor dem kalten Kamin, als hätten sie ein Gespräch geführt, und die Aes Sedai wirkte nicht sehr glücklich über die Unterbrechung. Das Gesicht des Behüters war so unbeweglich wie ein Holzschnitt.

»Rand war tatsächlich hier«, begann Perrin. »Dieser Bursche Simion erinnert sich an ihn.« Moiraine zischte durch die Zähne.

»Man hat dir doch gesagt, du solltest den Mund halten«, grollte Lan.

Perrin versteifte sich und sah den Behüter an. Das war einfacher, als Moiraines wütenden Blick zu ertragen. »Wie konnten wir herausfinden, ob er hier war, ohne Fragen zu stellen? Vielleicht verratet Ihr mir das einmal. Falls es Euch interessiert: Er ritt letzte Nacht hier los und zwar nach Osten. Und er quatschte etwas von jemandem, der ihn verfolgt und versucht, ihn umzubringen.«

»Nach Osten.« Moiraine nickte. Die vollkommene Ruhe in ihrer Stimme widersprach dem Tadel in ihrem Blick. »Es ist gut, das zu wissen, obwohl es ja eigentlich klar ist, wenn er nach Tear will. Aber ich war ziemlich sicher, daß er hier war, bevor ich noch von den Weißmänteln hörte. Danach war es sowieso klar. Rand hat auf jeden Fall recht im Hinblick auf eine Sache, Perrin. Ich kann nicht glauben, daß wir die einzigen sind, die ihn verfolgen. Und falls sie etwas von uns ahnen sollten, werden sie vielleicht versuchen, uns aufzuhalten. Wir haben schon genug damit zu tun, Rand aufzuspüren. Ihr müßt lernen, Eure Zunge zu hüten, bis ich Euch sage, daß Ihr sprechen dürft.«

»Die Weißmäntel?« fragte Perrin ungläubig. Meine Zunge hüten? Seng mich, wenn ich das tue! »Wie konnten sie Euch das...? Rands Wahnsinn. Ist das ansteckend?«

»Nicht sein Wahnsinn«, sagte Moiraine, »falls er schon so weit ist, daß man ihn überhaupt verrückt nennen kann. Perrin, er ist ein stärkerer TaVeren als jeder seit dem Zeitalter der Legenden! Gestern hat sich in diesem Dorf das Muster... bewegt, sich ihm angepaßt wie Ton, den man auf eine Form preßt. Die Hochzeiten, die Weißmäntel, das war genug, um mir zu sagen: Rand war hier. Jeder hätte das gewußt, der zuhören kann.«

Perrin atmete tief ein. »Und so etwas werden wir überall vorfinden, wo er sich aufgehalten hat? Licht, wenn er Geschöpfe des Schattens auf den Fersen hat, können sie ihn dadurch genauso leicht aufspüren wie wir.«

»Vielleicht«, sagte Moiraine. »Vielleicht aber auch nicht. Niemand weiß etwas über TaVeren von Rands Ausmaßen.« Einen kurzen Moment lang schien sie sich darüber zu ärgern, daß sie etwas nicht einschätzen konnte. »Artur Falkenflügel war der stärkste Ta'veren, über den es Aufzeichnungen gibt. Und Falkenflügel war keineswegs so stark wie Rand.«

»Man sagt«, warf Lan ein, »daß es Zeiten gab, wenn Menschen, die sich im gleichen Raum wie Falkenflügel befanden, die Wahrheit sagten, obwohl sie lügen wollten, und daß sie Entschlüsse faßten, von denen sie noch nicht einmal selbst wußten, daß sie so etwas vorhatten. Zeiten, wenn jeder Würfel, jede Spielkarte zu seinen Gunsten entschied. Aber nur manchmal natürlich.«

»Das heißt, Ihr wißt es nicht«, sagte Perrin. »Er könnte eine ganze Spur von Hochzeiten und verrückt gewordenen Weißmänteln von hier bis Tear hinterlassen.«

»Ich meine, ich weiß soviel, wie man überhaupt wissen kann«, sagte Moiraine in scharfem Ton. Der Blick aus ihren dunklen Augen traf Perrin wie eine Peitsche. »Das Muster formt sich um einen Ta'veren, und andere können der Gestalt dieser Fäden folgen, wenn sie wissen, wonach sie suchen müssen. Nehmt Euch in acht, daß Eure Zunge nicht mehr zerstört, als Ihr wissen könnt.«

Unwillkürlich zog Perrin den Kopf ein, als beziehe er von ihr wirkliche Prügel. »Na ja, diesmal solltet Ihr froh sein, daß ich den Mund rechtzeitig aufgemacht habe. Simion weiß, daß Ihr eine Aes Sedai seid. Er möchte, daß Ihr seinen Bruder Noam von irgendeiner Krankheit heilt. Wenn ich nicht mit ihm gesprochen hätte, hätte er nie den Mut aufgebracht, mich darum zu bitten, sondern hätte vielleicht statt dessen herumgeklatscht.«

Lan lenkte Moiraines Aufmerksamkeit auf sich, und sie sahen sich einen Moment lang in die Augen. Der Behüter hatte etwas an sich, wie ein Wolf vor dem Sprung. Schließlich schüttelte Moiraine den Kopf. »Nein«, sagte sie.

»Wie Ihr wünscht. Es ist Eure Entscheidung.« Lans Stimme klang, als habe sie eine falsche Entscheidung getroffen, aber die Anspannung verschwand aus seiner Gestalt.

Perrin sah beide mit großen Augen an. »Ihr wolltet doch nicht etwa... Simion könnte niemandem etwas sagen, wenn er tot wäre, nicht wahr?«

»Er wird nicht durch mich sterben«, sagte Moiraine. »Aber ich kann und will nicht versprechen, daß es immer so ausgeht. Wir müssen Rand finden, und ich werde dabei nicht versagen. Ist Euch das klar genug?« In ihrem Blick gefangen, konnte Perrin nicht antworten. Sie nickte, als sei sein Schweigen Antwort genug. »Bringt mich jetzt zu Simion.«

Die Tür zu Loials Zimmer stand offen, und Kerzenschein fiel in den Flur. Man hatte die beiden Betten drin zusammengeschoben, und Loial und Simion saßen auf der Kante des einen. Der kinnlose Mann sah mit offenem Mund und erstauntem Gesicht zu Loial auf.

»O ja, die Stedding sind wunderbar«, sagte Loial gerade. »Es herrscht dort ein solcher Friede, unter den Großen Bäumen. Ihr Menschen habt Eure Kriege und Eure Rivalität, aber in einem Stedding herrscht immer Friede. Wir pflegen die Bäume und leben in Harmonie... « Er brach ab, als er Moiraine mit Lan und Perrin im Schlepptau sah.

Simion stand schnell auf, verbeugte sich und zog sich dabei zurück, bis er an die Wand stieß. »Äh... gute Frau... Äh... äh...« Selbst dabei hüpfte er noch auf und ab wie eine Marionette.

»Führt mich zu Eurem Bruder«, befahl Moiraine, »und ich werde tun, was in meiner Macht steht. Perrin, Ihr kommt auch mit, da dieser Mann zuerst mit Euch gesprochen hat.« Lan hob eine Augenbraue, und sie schüttelte den Kopf. »Wenn wir alle hingehen, erregen wir Aufmerksamkeit. Perrin kann mich beschützen, soweit das notwendig ist.«

Lan nickte zögernd und warf Perrin einen harten Blick zu. »Sieh zu, daß du sie beschützt, Schmied. Wenn ihr irgend etwas zustößt... « Seine kalten blauen Augen vollendeten die Drohung.

Simion nahm eine der Kerzen und huschte in den Flur hinaus. Dabei verbeugte er sich immer noch, so daß der Kerzenschein die Schatten an den Wänden tanzen ließ. »Hier entlang... äh... gute Frau. Hier entlang.«

Hinter der Tür am Ende des Flurs führte eine Außentreppe hinunter in eine enge Gasse zwischen Schenke und Stall. Die Nacht ließ die Kerze zu einem flackernden Lichtpunkt schrumpfen. Der Halbmond stand am sternübersäten Himmel und gab für Perrins Augen mehr als genug Licht. Er fragte sich, wann Moiraine Simion endlich sagen werde, er könne mit dem Verbeugen aufhören, doch sie sagte nichts. Die Aes Sedai glitt hinter Simion entlang, hob dabei den Rock an, damit er nicht im Schlamm schleifte, und sie wirkte, als sei sie eine Königin und schreite statt durch die Gasse durch einen Palast. Die Nachtluft kühlte sich bereits ab. In den Nächten schwang immer noch ein wenig Winter nach.

»Hier herüber.« Simion führte sie nach hinten zu einem kleinen Schuppen hinter dem Stall und schob hastig den Riegel weg. »Hier herein.« Simion deutete in den Schuppen. »Hier, gute Frau. Hier. Mein Bruder. Noam.«

Der hintere Teil des Schuppens war — offensichtlich überstürzt — mit Brettern abgeteilt worden. Es wirkte roh und improvisiert. Ein festes Eisenschloß hing von einem Riegel an der Brettertür. Durch die Spalten sah man einen Mann, der auf dem Bauch auf dem strohbedeckten Boden lag. Er war barfuß. Hemd und Hose waren zerfetzt, als habe er daran gerissen, weil er nicht wußte, wie man sie auszieht. Es roch nach ungewaschenem Fleisch, so daß Perrin glaubte, selbst Simion und Moiraine müßten den Geruch wahrnehmen.

Noam hob den Kopf und sah sie schweigend und ausdruckslos an. Es war nichts an ihm, was auf die Verwandtschaft mit Simion schließen ließ — er hatte zum einen ein richtiges Kinn und er war ein großer Mann mit breiten Schultern —, aber etwas anderes warf Perrin fast um: Noam blickte sie mit glänzendgoldenen Augen an.

»Er hat schon fast ein Jahr lang so verrückte Sachen gequatscht, gute Frau, und gesagt, daß er... mit Wölfen sprechen kann. Und seine Augen... « Simion warf Perrin einen schnellen Blick zu. »Also, er hat gequatscht, wenn er zuviel getrunken hatte. Jeder hat ihn ausgelacht. Dann, vielleicht vor einem Monat etwa, kam er nicht ins Dorf zurück. Ich bin hinausgegangen, um zu sehen, was mit ihm los war, und habe ihn so vorgefunden.«

Vorsichtig und unwillig sandte Perrin seine Gedanken zu Noam aus, wie er es bei einem Wolf gemacht hätte. Durch den Wald rennen, den kalten Wind in der Nase... Schnell aus der Deckung heraus... Die Kiefer schnappen nach den Kniesehnen. Den Geschmack von Blut auf der Zunge. Töten. Perrin zuckte wie vor einem Feuer zurück und schloß seinen Geist ab. Das waren überhaupt keine richtigen Gedanken gewesen, nur ein chaotisches Durcheinander von Wünschen und Bildern, zum Teil aus der Erinnerung, zum Teil reine Sehnsucht. Aber es war mehr Wolf als Mensch an diesem Mann. Er stützte sich mit der Hand an der Wand ab; seine Knie gaben beinahe nach. Licht, hilf mir!

Moiraine streckte ihre Hand nach dem Schloß aus.

»Meister Harod hat den Schlüssel, gute Frau. Ich weiß nicht, ob er... «

Sie zog daran und das Schloß sprang auf. Simion starrte sie mit offenem Mund an. Sie hob das Schloß aus der Haspe, und der kinnlose Mann wandte sich an Perrin.

»Ist das sicher, guter Herr? Er ist mein Bruder, aber er hat Mutter Roon gebissen, als sie zu helfen versuchte, und er... er hat eine Kuh getötet. Mit den Zähnen«, fügte er verlegen hinzu.

»Moiraine«, sagte Perrin, »der Mann ist gefährlich.«

»Alle Männer sind gefährlich«, antwortete sie mit kühler Stimme. »Jetzt seid ruhig.« Sie öffnete die Tür und ging hinein. Perrin hielt die Luft an.

Bei ihrem ersten Schritt zog Noam die Lippen hoch und begann zu knurren. Es vertiefte sich zu einem Grollen, bis sein ganzer Körper bebte. Moiraine ignorierte es. Immer noch knurrend, wand sich Noam auf dem Stroh nach hinten, als sie sich ihm näherte. Schließlich lag er in einer Ecke und konnte nicht weiter. Vielleicht hatte sie es auch gerade darauf angelegt.

Langsam und gelassen kniete sich die Aes Sedai nieder und nahm seinen Kopf in die Hände. Noams Grollen wurde zu einem wütenden Fauchen und verflog dann zu einem Winseln, bevor Perrin ihr zur Hilfe kommen konnte. Moiraine hielt seinen Kopf eine Weile lang und legte ihn dann ebenso gelassen wieder auf das Stroh zurück. Sie erhob sich. Perrins Kehle zog sich zusammen, als sie Noam den Rücken zuwandte und aus dem Käfig schritt, doch der Mann sah ihr nur einfach nach. Sie schob die Brettertür zu, hängte das Schloß wieder ein, ohne es einschnappen zu lassen — und Noam warf sich knurrend gegen die Holzbretter. Er biß hinein und drückte mit seinen Schultern dagegen, versuchte, seinen Kopf dazwischen durchzustecken, und die ganze Zeit über knurrte und schnappte er.

Moiraine wischte sich mit ruhiger Hand und vollkommen ausdruckslosem Gesicht Stroh vom Rock.

»Ihr geht schöne Risiken ein«, hauchte Perrin. Sie sah ihn mit klarem, wissendem Blick an, und er senkte die Augen. Seine gelben Augen.

Simion blickte seinen Bruder an. »Könnt Ihr ihm helfen, gute Frau?« fragte er heiser.

»Es tut mir leid, Simion«, antwortete sie.

»Könnt Ihr denn gar nichts tun, gute Frau? Irgend etwas? Eines von diesen« — seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern — »Aes-Sedai-Dingen?«

»Heilen ist keine einfache Sache, Simion, und es kommt genauso aus dem Innern des Kranken wie aus dem Heilenden. Es gibt hier nichts, was sich daran erinnert, Noam zu sein, nichts, was sich noch an eine menschliche Existenz erinnern kann. Es gibt keine Landkarten, die ihm den Weg zurück zeigen können, und es ist nichts übrig, was diesen Weg antreten könnte. Noam ist nicht mehr, Simion.«

»Er... er hat immer so komische Sachen gesagt, gute Frau, wenn er zuviel getrunken hatte. Er war nur... « Simion wischte mit der Hand über seine Augen und blinzelte Tränen weg. »Ich danke Euch, gute Frau. Ich weiß, Ihr hättet etwas getan, wenn es Euch möglich gewesen wäre.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, murmelte ein paar beruhigende Worte, und dann war sie auch schon aus dem Schuppen verschwunden.

Perrin wußte, daß er ihr folgen sollte, aber der Mann — was von einem Mann übriggeblieben war —, der nach den Brettern schnappte, ließ ihn verweilen. Er trat schnell vor und überraschte sich selbst damit, daß er das herunterhängende Schloß aus der Haspe zog. Es war ein gutes Schloß; das Werk eines echten Meisterschmieds. »Guter Herr?«

Perrin sah das Schloß in seiner Hand an und dann den Mann im Käfig. Noam hatte aufgehört, in die Bretter beißen zu wollen. Er sah Perrin mißtrauisch und schwer atmend an. Ein paar seiner Zähne waren abgebrochen.

»Ihr könnt ihn ewig hier drinnen halten«, sagte Perrin, »aber ich... ich glaube nicht, daß damit etwas besser wird.«

»Wenn er herauskommt, guter Herr, dann wird er sterben!«

»Er wird hier drinnen genauso sterben wie draußen, Simion. Draußen ist er wenigstens frei und so glücklich, wie es eben geht. Er ist nicht mehr Euer Bruder, aber es ist an Euch, zu entscheiden. Ihr könnt ihn hier drinnen halten, damit ihn die Leute anstarren und er die Bretter seines Käfigs anstarrt, bis er dahinsiecht. Ihr könnt einen Wolf nicht einsperren, Simion, und erwarten, daß er dabei glücklich ist. Oder lange lebt.«

»Ja«, sagte Simion. »Ja, das sehe ich ein.« Er zögerte und nickte in Richtung der Tür.

Das war die Antwort, auf die Perrin gewartet hatte. Er öffnete die Brettertür und trat zur Seite.

Einen Augenblick lang starrte Noam die Öffnung an. Dann schoß er mit einem Mal heraus, auf allen vieren rennend, aber überraschend beweglich dabei. Aus dem Käfig, aus dem Schuppen und in die Nacht hinein. Licht, hilf uns beiden, dachte Perrin.

»Ich denke, es ist besser für ihn, wenn er frei ist.« Simion schüttelte sich. »Aber ich weiß nicht, was Meister Harod sagen wird, wenn er die Tür offen vorfindet und Noam verschwunden ist.«

Perrin schloß die Tür zum Käfig. Das große Schloß klickte scharf, als er es wieder befestigte. »Laßt ihn daran herumrätseln.«

Simion lachte kurz auf und brach aber sofort wieder ab. »Er wird irgend etwas daraus machen. Das werden sie alle. Einige behaupten ja schon, Noam hätte sich in einen Wolf verwandelt — komplett mit Fell! —, als er Mutter Roon biß. Es stimmt zwar nicht, aber sie behaupten es.«

Schaudernd lehnte sich Perrin an die Käfigtür. Er hat vielleicht kein Fell, aber er ist ein Wolf. Er ist ein Wolf und kein Mensch. Licht, hilf mir.

»Wir haben ihn nicht die ganze Zeit über hier gehalten«, sagte Simion plötzlich. »Er war in Mutter Roons Haus, aber sie und ich brachten Meister Harod dazu, ihn hierher zu bringen, nachdem die Weißmäntel kamen. Sie haben immer eine Liste von Namen dabei, Schattenfreunde, die sie suchen. Es waren Noams Augen, wißt Ihr. Einer der Namen, den die Weißmäntel nannten, war der eines Burschen namens Perrin Aybara, eines Schmieds. Sie sagten, er habe gelbe Augen und renne mit den Wölfen herum. Dann wißt Ihr, warum ich nicht wollte, daß sie etwas von Noam erfahren.«

Perrin drehte den Kopf weit genug herum, daß er über die Schulter hinweg Simion ansehen konnte. »Glaubt Ihr, dieser Perrin Aybara ist ein Schattenfreund?«

»Einem Schattenfreund wäre es gleich, ob mein Bruder in einem Käfig stirbt. Ich schätze, sie fand Euch bald, nachdem es passiert war. Rechtzeitig genug, um zu helfen. Ich wünschte, sie wäre vor ein paar Monaten nach Jarra gekommen.«

Perrin schämte sich, daß er je diesen Mann mit einem Frosch verglichen hatte. »Und ich wünschte, sie hätte etwas für ihn tun können.« Seng mich, ich wünschte das wirklich. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß das ganze Dorf über Noam Bescheid wissen mußte. Über seine Augen. »Simion, würdet Ihr mir etwas zu essen aufs Zimmer bringen?« Meister Harod und die anderen waren bisher vielleicht zu sehr mit ihrer Überraschung über die Anwesenheit Loials beschäftigt gewesen, um seine Augen zu bemerken, doch das würden sie bestimmt, wenn er im Schankraum aß.

»Natürlich. Und auch morgen früh. Ihr müßt nicht herunterkommen, bis Ihr bereit seid, auf Euer Pferd zu steigen.«

»Ihr seid ein guter Mann, Simion. Ein guter Mann.« Simion blickte so glücklich drein, daß sich Perrin schon wieder schämte.


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