22 Der Ring fordert seinen Preis

Egwene war noch nicht weit von Verins Zimmer entfernt, als sie Sheriam traf. Die Herrin der Novizinnen blickte besorgt drein.

»Falls sich nicht jemand daran erinnert hätte, daß Ihr mit Verin gesprochen habt, hätte ich Euch vielleicht gar nicht gefunden.« Die Aes Sedai klang etwas irritiert. »Kommt mit, Kind. Ihr haltet alles auf! Was sind das für Papiere?«

Egwene nahm sie noch ein wenig fester in die Hand. Sie bemühte sich, möglichst unschuldig und respektvoll zu sprechen: »Verin Sedai meint, ich solle sie studieren, Aes Sedai.« Was würde sie tun, wenn Sheriam verlangte, sie zu sehen? Welche Entschuldigung hätte sie dafür, sich zu weigern, und welche Erklärung für seitenlange Berichte über dreizehn Frauen, die zu den Schwarzen Ajah gehörten und einige Ter'Angreal gestohlen hatten?

Aber Sheriam schien die Papiere bereits wieder vergessen zu haben. »Na ja, egal. Ihr werdet gebraucht, und alle warten.« Sie nahm Egwene am Arm und zwang sie, schneller zu gehen.

»Gebraucht, Sheriam Sedai? Worauf warten sie?«

Sheriam schüttelte den Kopf resignierend. »Habt Ihr vergessen, daß Ihr zu einer Aufgenommenen erhoben werden sollt? Wenn Ihr morgen in mein Arbeitszimmer kommt, tragt Ihr den Ring, obwohl ich nicht glaube, er wird Euch den Schmerz leichter ertragen lassen.«

Egwene wollte auf der Stelle stehenbleiben, doch die Aes Sedai schob sie weiter. Sie gingen eine enge Wendeltreppe hinunter, die sich durch die Bibliothek zog. »Heute abend? Schon? Aber ich schlafe halb, Aes Sedai, und ich bin schmutzig und... Ich dachte, ich hätte noch tagelang Zeit. Um bereit zu sein. Um mich vorzubereiten.«

»Diese besondere Stunde wartet nicht auf eine Frau«, sagte Sheriam. »Das Rad webt, wie das Rad es wünscht und wann es will. Außerdem, wie könntet Ihr euch vorbereiten? Ihr wißt bereits alles, was Ihr wissen müßt. Mehr als Eure Freundin Nynaeve damals.« Sie schubste Egwene durch eine winzige Tür am Fuß der Treppe und eilte dann mit ihr durch einen weiteren Korridor zu einer Rampe, die sich immer weiter hinunterschlängelte.

»Ich habe im Unterricht genau aufgepaßt«, protestierte Egwene, »und ich erinnere mich gut daran, aber... kann ich nicht erst einmal schlafen?« Die gewundene Rampe schien kein Ende zu nehmen.

»Die Amyrlin entschied, daß es keinen Sinn habe, damit zu warten.« Sheriam lächelte Egwene von der Seite her an. »Ihre genauen Worte waren: ›Sobald man sich entscheidet, einen Fisch auszunehmen, hat es keinen Sinn mehr, darauf zu warten, daß er verdirbt.‹ Zu dieser Zeit dürfte Elayne bereits die Torbögen durchschritten haben, und die Amyrlin will, daß auch Ihr heute abend noch hindurchschreitet. Nicht, daß ich diese Eile verstünde«, fügte sie hinzu, mehr zu sich selbst gewandt, »aber wenn die Amyrlin befiehlt, gehorchen wir.«

Egwene ließ sich schweigend die Rampe weiter hinunterziehen. Ihr Magen verkrampfte sich dabei. Nynaeve war nicht gerade gesprächig gewesen in bezug auf das, was sie erlebt hatte, als sie zur Aufgenommenen erhoben wurde. Sie hatte überhaupt nichts gesagt, nur eine Grimasse geschnitten und schließlich herausgepreßt: »Ich hasse die Aes Sedai!« Als sie endlich das Ende der Rampe und damit einen breiten Korridor erreichten, zitterte sie. Sie befanden sich weit unter der Burg im Felsengrund der Insel.

Der Korridor war kahl und schmucklos. Der blasse Fels, durch den er gehauen war, war wohl abgeschliffen worden, aber ansonsten unberührt. Es gab nur ein großes Holztor, genauso hoch und breit wie das äußere Burgtor und genauso schmucklos. Die Balken waren geschliffen und lackiert und fugenlos zusammengefügt. Die mächtigen Torflügel waren so perfekt ausbalanciert, daß Sheriam einen davon mühelos mit einer Hand öffnen konnte. Sie zog Egwene mit sich hinein in einen riesigen Saal mit Kuppeldecke.

»Nicht gerade schnell!« fauchte Elaida. Sie stand auf einer Seite mit ihrer rotgefransten Stola neben einem Tisch mit drei großen Silberschalen darauf.

Lampen auf hohen Standern beleuchteten den Raum und das, was im Mittelpunkt stand. Drei abgerundete, silberne Torbögen, gerade hoch genug, um darunter hindurchzulaufen, die auf einem dicken Silberring festgemacht waren, wo sich ihre Enden berührten. Vor jedem der Punkte, an denen die Bögen am Ring festgemacht waren, saß eine Aes Sedai auf dem blanken Felsboden. Alle drei trugen ihre Stolen. Die Grüne Schwester war Alanna, aber die Gelbe und die Weiße Schwester kannte sie nicht.

Die drei Aes Sedai waren vom Glühen Saidars umgeben und starrten unverwandt auf die Bögen. Innerhalb des silbernen Gebildes flackerte und glühte es wie eine Antwort auf. Dieses Gebilde war ein Ter'Angreal, und wofür er im Zeitalter der Legenden auch gebaut worden sein mochte, jetzt schritten Novizinnen hindurch und aus ihnen wurden Aufgenommene. Drinnen würde Egwene mit ihren eigenen Ängsten konfrontiert werden. Dreimal. Das weiße Glühen innerhalb der Bögen flackerte nun nicht mehr, sondern füllte den gesamten Innenraum gleichmäßig und durchscheinend aus.

»Beruhige dich, Elaida«, sagte Sheriam gelassen. »Wir sind bald soweit.« Sie wandte sich Egwene zu. »Man gibt den Novizinnen hier dreimal eine Chance. Ihr könnt Euch zweimal weigern, hineinzugehen, aber bei der dritten Weigerung werdet Ihr für immer aus der Burg gewiesen. So macht man das normalerweise, und Ihr habt ganz sicher das Recht, Euch zu weigern, wenn ich auch glaube, die Amyrlin wäre nicht gerade erfreut darüber.«

»Sie sollte diese Chance nicht erhalten.« Elaidas Stimme klang eisenhart, und ihr Gesicht machte auch nicht gerade einen sanfteren Eindruck. »Es ist mir gleich, welches Potential sie besitzt. Sie müßte von Rechts wegen aus der Burg gewiesen werden. Oder zumindest müßte sie die nächsten zehn Jahre über die Böden schrubben.«

Sheriam warf der Roten Schwester einen scharfen Blick zu. »Bei Elayne wart Ihr nicht so streng. Ihr wolltet daran teilnehmen, Elaida — vielleicht Elaynes wegen —, und Ihr werdet auch für dieses Mädchen Eure Pflicht tun, wie man es von Euch erwartet, oder Ihr verlaßt diesen Raum, und ich suche mir eine andere.«

Die beiden Aes Sedai funkelten sich an, daß Egwene kaum überrascht gewesen wäre, das Glühen der Einen Macht um sie herum zu entdecken. Schließlich schleuderte Elaida mit einer Kopfbewegung ihr Haar zurück und schnaubte laut.

»Wenn es sein muß, dann laßt es uns hinter uns bringen. Gebt diesem erbärmlichen Mädchen hier ihre Möglichkeit, sich zu weigern und macht ein Ende. Es ist schon spät.«

»Ich werde mich nicht weigern.« Egwenes Stimme bebte, doch dann hatte sie sie unter Kontrolle und den Kopf stolz erhoben. »Ich will hineingehen.«

»Gut«, sagte Sheriam. »Gut. Nun werde ich Euch zwei Dinge sagen, die keine Frau zu hören bekommt, bevor sie hier steht, wo Ihr jetzt seid. Wenn Ihr einmal beginnt, müßt Ihr auch bis zum Ende weitermachen. Wenn Ihr an irgendeiner Stelle nicht mehr weitergeht, werdet Ihr genauso aus der Burg gewiesen, als hättet Ihr euch zum drittenmal geweigert. Zweitens: Zu suchen, zu streben, bedeutet auch Gefahr.« Es klang, als habe sie das schon viele Male gesagt. In ihrem Blick lag viel Anteilnahme, doch ihr Gesichtsausdruck war beinahe so ernst wie der Elaidas. Die Zuneigung jagte Egwene mehr Angst ein als die Strenge. »Manche Frauen sind hineingegangen und nie wieder herausgekommen. Wenn der Ter'Angreal nicht mehr angeregt wurde, waren-sie-einfach-nicht-mehr-da. Und man hat sie nie wieder gesehen. Wenn Ihr überleben wollt, müßt Ihr standhaft sein. Zögert, versagt, und... « Sheriams Gesichtsausdruck ließ über das Unausgesprochene keine Zweifel zu. Egwene schauderte. »Das ist Eure letzte Gelegenheit. Weigert Euch jetzt, und es wird nur als das erste Mal angerechnet. Ihr könnt es dann immer noch zweimal probieren. Wenn Ihr aber jetzt beginnt, gibt es kein Zurück mehr. Es ist keine Schande, sich zu weigern. Ich brachte es beim erstenmal auch nicht fertig, hineinzugehen. Wählt!«

Sie kamen nie mehr heraus? Egwene mußte schwer schlucken. Ich will eine Aes Sedai werden. Und deshalb muß ich zuerst Aufgenommene sein. »Ich gehe.«

Sheriam nickte. »Dann bereitet Euch vor.«

Egwene blinzelte, und dann erinnerte sie sich: Sie mußte unbekleidet hineingehen. Sie beugte sich hinunter und wollte das Bündel Papiere hinlegen, das ihr Verin gegeben hatte. Dann zögerte sie. Wenn sie das hierließ, könnten Sheriam oder Elaida alles durchstöbern, während sie sich innerhalb des Ter'Angreal befand. Sie könnten sogar den kleineren Ter'Angreal in ihrer Gürteltasche finden. Wenn sie sich weigerte, hineinzugehen, könnte sie alles verstecken oder vielleicht Nynaeve geben. Ihr stockte der Atem. Ich kann mich jetzt nicht weigern. Ich habe bereits begonnen.

»Habt Ihr Euch doch entschlossen, Euch zu weigern, Kind?« fragte Sheriam mit gerunzelter Stirn. »Obwohl Ihr wißt, was das nun für Folgen hätte?«

»Nein, Aes Sedai«, sagte Egwene schnell. Hastig entkleidete sie sich und faltete ihre Kleider sorgfältig. Dann legte sie alles oben auf die Gürteltasche und die Papiere. Das mußte reichen.

Neben dem Ter'Angreal sprach Alanna plötzlich: »Es gibt da eine Art von... Rückkoppelung.« Sie nahm den Blick nicht von den Bögen. »Beinahe ein Echo. Ich weiß nicht, aus welcher Richtung.«

»Gibt es ein Problem?« fragte Sheriam in scharfem Ton. Auch sie klang überrascht. »Ich werde keine Frau hineinschicken, wenn es Schwierigkeiten gibt.«

Egwene blickte ihre aufgeschichteten Kleider sehnsuchtsvoll an. Bitte, ja, Licht, laß ein Problem auftauchen. Etwas, damit ich diese Papiere verstecken kann, ohne mich weigern zu müssen, hineinzugehen.

»Nein«, sagte Alanna. »Es ist so, als summe ein Beißmich um deinen Kopf, wenn du nachdenken willst, aber es stört nicht wirklich. Ich hätte es gar nicht erwähnt, aber so etwas ist noch nie geschehen, soweit ich weiß.« Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt ist es weg.«

»Vielleicht«, sagte Elaida trocken, »hielten andere eine solche Kleinigkeit für nicht erwähnenswert.«

»Laßt uns fortfahren.« Sheriam ließ nun nichts mehr aufkommen. »Kommt.«

Nach einem letzten Blick auf ihre Kleider und die versteckten Papiere folgte ihr Egwene zu den Bögen. Der Steinboden unter ihren bloßen Füßen war kalt wie Eis.

»Wen bringt Ihr mit Euch, Schwester?« begann Elaida zu singen.

Ohne ihren gemessenen Schritt zu unterbrechen, antwortete Sheriam: »Eine, die als Kandidatin kommt, um Aufgenommen zu werden, Schwester.« Die drei Aes Sedai, die um den Ter'Angreal saßen, rührten sich nicht.

»Ist sie bereit?«

»Sie ist bereit, hinter sich zu lassen, was sie war, ihre eigenen Ängste zu durchwandern und so Aufgenommen zu werden.«

»Kennt sie ihre Ängste?«

»Sie ist noch nie mit ihnen konfrontiert worden, doch sie ist willens dazu.«

»Dann laßt sie dem gegenübertreten, was sie fürchtet.« Selbst bei diesen Formalitäten schwang in Elaidas Stimme eine gewisse Befriedigung mit.

»Das erste Mal«, sagte Sheriam, »ist für das, was war. Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft.«

Egwene atmete tief durch und trat vor, durch den Torbogen und in das Glühen hinein. Das Licht verschluckte sie.

»Jaim Dawry ist vorbeigekommen. Der Händler hat eigenartige Sachen aus Baerlon berichtet.«

Egwene hob den Kopf und blickte über die Wiege hinweg, die sie gerade schaukelte, zu Rand, der in der Tür stand. Einen Moment lang wirbelte alles in ihrem Kopf durcheinander. Sie blickte von Rand — mein Mann — zu dem Kind in der Wiege — meine Tochter — und staunend wieder zurück.

Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft. Das war nicht ihr eigener Gedanke, sondern eine körperlose Stimme, die sich in ihrem Kopf oder auch außerhalb befinden mochte, männlich oder weiblich und frei von Emotionen — unbekannt. Und doch war sie ihr nicht fremd.

Der Augenblick des Staunens ging vorüber, und dann war das einzige, worüber sie sich wunderte, daß sie das Gefühl gehabt hatte, etwas stimme nicht. Natürlich war Rand ihr Mann — ihr gutaussehender, liebevoller Mann —, und Joiya war ihre Tochter — das hübscheste, süßeste kleine Mädchen der Zwei Flüsse. Tam, Rands Vater, war mit den Schafen draußen, angeblich, damit Rand in der Scheune aufräumen konnte, aber in Wirklichkeit, um ihm mehr Zeit zu geben, mit Joiya zu spielen. Heute nachmittag würden Egwenes Vater und Mutter aus dem Dorf herüberkommen. Und vielleicht auch Nynaeve, um nachzuprüfen, ob Egwenes Rolle als Mutter sie vom Lernen abhielt. Schließlich sollte sie eines Tages Nynaeve als Seherin ablösen.

»Was für Neuigkeiten?« fragte sie. Sie fing wieder an, die Wiege zu schaukeln, und Rand kam herüber. Er grinste das winzige Kind an, das in Windeln darinnen lag. Egwene lachte in sich hinein. Er war die halbe Zeit über so mit seinem Kind beschäftigt, daß er nicht hörte, was man zu ihm sagte. »Rand? Was für Neuigkeiten? Rand?«

»Was?« Sein Grinsen verflog. »Seltsame Sachen. Krieg. Es gibt irgendeinen großen Krieg, der den größten Teil der Welt erfaßt hat, wie Jaim behauptet.« Das waren allerdings seltsame Neuigkeiten. Berichte über Kriege irgendwo erreichten gewöhnlich die Zwei Flüsse erst, wenn der betreffende Krieg längst vorbei war. »Er sagt, jeder kämpft gegen irgendein Volk namens Schakin oder Schanschan oder so ähnlich. Ich habe noch nie von ihnen gehört.«

Egwene kannte sie — glaubte, sie zu kennen — und dann war alles weg.

»Geht es dir gut?« fragte er. »Das ist nichts, was uns hier betrifft, mein Herz. Kriege kommen nie bis zu den Zwei Flüssen. Wir sind zu weit von allem entfernt, und niemand kümmert sich um uns.«

»Ich rege mich deshalb nicht auf. Hat Jaim sonst noch etwas berichtet?«

»Nichts Glaubhaftes. Es klang wie von einem Coplin. Er sagte, der Händler habe ihm berichtet, daß diese Leute in der Schlacht Aes Sedai einsetzen, und dann wieder behauptet er, sie hätten eine Belohnung von tausend Goldmark für jeden ausgesetzt, der ihnen eine Aes Sedai ausliefert. Und sie töten jeden, der eine davon versteckt und ihr hilft. Das ergibt doch keinen Sinn. Na ja, das soll uns nicht kümmern. Das ist alles weit weg von hier.«

Aes Sedai. Egwene faßte sich an den Kopf. Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft. Sie bemerkte, daß auch Rand mit einer Hand nach seinem Kopf faßte. »Wieder Kopfschmerzen?« fragte sie.

Er nickte und verzog sein Gesicht. »Dieses Pulver von Nynaeve hat in den letzten Tagen nichts mehr genützt.«

Sie zögerte. Seine Kopfschmerzen machten ihr große Sorgen. Sie wurden ständig schlimmer. Und das Schlimmste daran war etwas, das sie zunächst gar nicht bemerkt hatte und von dem sie sich nun wünschte, sie hätte es nicht bemerkt. Wenn Rands Kopf schmerzte, geschahen anschließend immer ungewöhnliche Dinge. Ein Blitz aus heiterem Himmel zum Beispiel, der diesen riesigen Eichenstumpf zerschmetterte, an dem er schon zwei Tage gearbeitet hatte, denn er wollte ihn entfernen, damit er mit Tam ein neues Feld anlegen konnte. Gewitterstürme, die Nynaeve nicht vorhergesehen hatte, als sie dem Wind lauschte. Waldbrände. Und je schlimmer die Schmerzen waren, desto schlimmer waren auch die Folgen. Niemand sonst brachte all das mit Rand in Verbindung, nicht einmal Nynaeve, und dafür war Egwene dankbar. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was das bedeuten könne.

Das ist doch alles zu dumm, sagte sie sich. Ich muß wissen, was los ist, wenn ich ihm helfen will. Denn sie hatte ihr eigenes Geheimnis, das ihr Angst einflößte. Trotzdem versuchte sie, herauszufinden, was es zu bedeuten hatte. Nynaeve brachte ihr den Umgang mit Kräutern bei, lehrte sie, eine gute Seherin zu werden, damit sie sie eines Tages ablösen konnte. Nynaeves Heilmittel wirkten oft auf wunderbare Weise. Wunden heilten fast ohne Narbe, Kranke wurden gesund, die schon am Rande des Grabes gestanden hatten. Doch nun hatte Egwene bereits zum drittenmal jemanden geheilt, den Nynaeve aufgegeben hatte! Dreimal hatte sie sich an ein Krankenbett gesetzt, um in der letzten Stunde des Todkranken seine Hand zu halten, und dreimal war diese Person geheilt aufgestanden. Nynaeve hatte sie eingehend verhört, was sie angestellt habe, welche Kräuter sie benützt habe und in welcher Zusammenstellung. Bisher hatte sie nicht den Mut aufgebracht, ihr zu gestehen, daß sie gar nichts getan hatte. Ich muß doch aber etwas getan haben. Beim erstenmal kann es Zufall gewesen sein, aber dreimal hintereinander... Ich muß es herausfinden. Ich muß das lernen. Das ließ ihren Kopf klingen, als fanden die Worte ein Echo in ihrem Schädel. Wenn ich etwas für sie tun konnte, kann ich auch meinem Mann helfen.

»Laß mich mal versuchen, Rand«, sagte sie. Und als sie aufstand, sah sie durch die geöffnete Tür hindurch einen silbernen Bogen vor dem Haus, einen mit weißem Licht gefüllten Torbogen. Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft. Sie tat unwillkürlich zwei Schritte auf die Tür zu, bevor sie stehenblieb.

Sie stand da, blickte auf Joiya zurück, die in ihrer Wiege fröhlich quietschte, und auf Rand, der sich den Kopf hielt und sie anschaute, als frage er sich, wohin sie wohl wolle. »Nein«, sagte sie. »Nein, das ist doch, was ich wollte. Ich will dieses Leben! Warum kann ich es nicht so haben?« Sie verstand ihre eigenen Worte nicht. Sicher, sie wollte dieses Leben führen, und das tat sie ja auch.

»Was willst du denn, Egwene?« fragte Rand. »Wenn ich dir etwas besorgen kann, dann tue ich das doch sofort. Und wenn ich es nicht bekomme, mache ich es selbst.«

Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft.

Sie trat wieder einen Schritt auf den Ausgang zu. Der silberne Bogen lockte sie an. Etwas wartete auf der anderen Seite. Etwas, das sie mehr als alles andere auf der Welt begehrte. Etwas, das sie tun mußte.

»Egwene, ich... «

Hinter ihr ertönte ein dumpfer Aufschlag. Sie sah sich um und erblickte Rand, der auf den Knien lag und den Kopf in beiden Armen geborgen hatte. Der Schmerz hatte ihn noch nie derart mitgenommen. Und was kommt danach?

»Ach, Licht«, keuchte er. »Licht! Es tut so weh! Licht, es ist schlimmer als je zuvor! Egwene?«

Seid standhaft. Es wartete. Etwas, das sie tun mußte. Mußte. Sie trat einen weiteren Schritt vor. Es war schwer, schwieriger als alles, was sie je in ihrem Leben getan hatte. Nach draußen, auf den Torbogen zu. Hinter ihr lachte Joiya.

»Egwene? Egwene, ich kann nicht... « Er brach unter lautem Stöhnen ab. Standhaft.

Sie versteifte ihren Rücken und ging weiter, doch sie konnte die Tränen nicht aufhalten, die ihr über die Wangen rannen. Rands Stöhnen wurde zum gequälten Aufschrei, der Joiyas Lachen übertönte. Aus dem Augenwinkel sah Egwene, wie Tam, so schnell er nur konnte, heranstürmte. Er kann ihm nicht helfen, dachte sie und schluchzte, daß es ihren ganzen Körper durchschüttelte. Er kann gar nichts tun. Aber ich könnte. Ich könnte. Sie trat in das Licht und wurde von ihm aufgenommen.

Zitternd und schluchzend trat Egwene aus dem Bogen heraus, dem gleichen, durch den sie zu Anfang geschritten war, und alle ihre Erinnerungen kehrten mit einem Schlag zurück, vor dem Hintergrund von Sheriams Gesicht. Kaltes, klares Wasser wusch ihre Tränen weg, als Elaida langsam eine Silberschale über ihrem Kopf ausleerte. Ihr Weinen hörte nicht auf. Sie glaubte, sie könne niemals mehr damit aufhören.

»Ihr seid reingewaschen«, verkündete Elaida, »von allen Sunden, die Ihr begangen haben mögt und die an Euch begangen wurden. Ihr seid reingewaschen von jedem Verbrechen, das Ihr begangen haben mögt und von jedem, das an Euch begangen wurde. Ihr kommt reingewaschen und unschuldig in Herz und in Seele zu uns.«

Licht, dachte Egwene, als das Wasser an ihrem Körper herabrann, laß es so sein. Kann Wasser wegwaschen, was ich tat? »Sie hieß Joiya«, sagte sie unter Schluchzen zu Sheriam. »Joiya. Nichts kann doch das wert sein, was ich gerade... was ich...«

»Es fordert einen Preis, eine Aes Sedai zu werden«, antwortete Sheriam, und da lag wieder dieses Mitgefühl in ihrem Blick, stärker noch als zuvor. »Es fordert immer seinen Preis.«

»War es Wirklichkeit? Habe ich alles nur geträumt?« Die Tränen erstickten, was sie noch hatte sagen wollen. Habe ich ihn sterbend zurückgelassen? Habe ich mein Kind im Stich gelassen?

Sheriam legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie um den Bogenkreis herum. »Jede Frau, die ich je hier heraustreten sah, hat diese Frage gestellt. Die Antwort ist, daß niemand es weiß. Man hat darüber nachgedacht, daß vielleicht einige von denen, die nicht zurückkehrten, dort geblieben sind, weil sie ihr Glück dort fanden und ihr Leben dort zu Ende lebten.« Ihre Stimme verhärtete sich. »Wenn es Wirklichkeit ist und sie freiwillig dort blieben, dann hoffe ich, daß sie kein glückliches Leben führen können. Ich habe kein Mitgefühl für Menschen, die vor ihrer Verantwortung davonlaufen.« Wieder wurde ihr Tonfall etwas sanfter. »Was mich betrifft, glaube ich nicht, daß diese Welten real sind. Aber die Gefahren sind es durchaus. Denkt immer daran.« Sie blieb vor dem nächsten lichterfüllten Torbogen stehen. »Seid Ihr bereit?«

Egwene trat von einem Fuß auf den anderen, weil der Boden so kalt war, und nickte. Sheriam nahm ihren Arm weg.

»Das zweite Mal ist für das, was ist. Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft.«

Egwene zitterte. Was auch geschieht, schlimmer als das letzte kann es nicht sein. Bestimmt nicht. Sie trat in das Glühen hinein.

Sie blickte auf ihr Kleid herunter. Es war aus blauer Seide und mit Perlen bestickt. Nun war es ganz staubig und zerrissen. Sie hob den Kopf und erblickte die Ruinen eines großen Palastes, in dessen Mitte sie stand: der Königliche Palast von Andor in Caemlyn. Das wußte sie, und sie hätte gern geschrien.

Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft. Die Welt war leider nicht so, wie sie sich das wünschte. Gleich, woran sie dachte, immer hätte sie am liebsten geweint. Doch all ihre Tränen waren längst geweint, und die Welt war nicht zu ändern. Was sie zu sehen erwartete, waren Ruinen.

Unbesorgt darüber, daß ihr Kleid noch mehr Risse abbekommen könne, aber leise wie eine kleine Maus erkletterte sie einen Schutthügel und spähte von dort in die Straßenzüge der Innenstadt hinein. Soweit sie in jeder Richtung blicken konnte, sah sie nur Ruinen und Zerstörung, Gebäude, die wie von einem wahnsinnigen Riesen zerfetzt schienen, dicke Qualmwolken, die von den noch immer brennenden Häusern aufstiegen. Auf den Straßen befanden sich Menschen. Banden von Bewaffneten und Plünderern machte die Straßen unsicher. Und Trollocs. Die Menschen mieden die Trollocs, wichen ihnen aus, und die Trollocs fauchten sie an und lachten hart und kehlig. Doch sie kannten sich gegenseitig und arbeiteten zusammen.

Ein Myrddraal kam die Straße herunter. Sein schwarzer Umhang schwankte lediglich ein wenig im Rhythmus seiner Schritte, aber selbst der böige Wind, der Staub und Abfälle mitriß, konnte ihn ansonsten nicht zum Flattern bringen. Menschen wie Trollocs duckten sich unter seinem augenlosen Blick. »Sucht!« Seine Stimme klang, als ob etwas schon lange Totes zerbröckle. »Steht nicht zitternd herum! Findet ihn!«

Egwene glitt genauso leise wie zuvor den Trümmerberg herunter. Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft.

Sie blieb stehen, weil sie einen Moment lang fürchtete, es sei das Flüstern eines Schattenwesens gewesen. Aber auf gewisse Art war ihr klar, daß das nicht sein konnte. Sie blickte hinter sich aus Angst, der Myrddraal könne dort stehen, wo sie sich vorher befunden hatte. Dann eilte sie vorwärts in den zerstörten Palast hinein, kletterte über umgestürzte Balken, zwängte sich zwischen schweren Steinblöcken hindurch, aber sie kam voran. Einmal trat sie auf den Arm einer Frau, der unter einem Berg von Verputz und Klinkersteinen herausragte. Hier war eine Innenwand eingestürzt und vielleicht auch ein Teil des darüberliegenden Fußbodens. Sie bemerkte den Arm genausowenig wie den Ring mit der Großen Schlange an einem der Finger. Sie hatte sich darauf eingestellt, die Toten in diesem Abfallhaufen nicht zu bemerken, den die Trollocs und Schattenfreunde aus Caemlyn gemacht hatten. Sie konnte für die Toten nichts mehr tun.

Sie quetschte sich durch eine enge Lücke, wo ein Teil der Saaldecke eingestürzt war, und fand sich in einem halb von Schutt ausgefüllten Raum wieder. Dort lag Rand. Ein schwerer Balken hatte sich über seiner Hüfte verklemmt, und seine Beine steckten unter Steinblöcken. Sein Gesicht war mit Staub und Schweiß verkrustet. Als sie sich ihm näherte, öffnete er die Augen. »Du bist zurückgekommen.« Er preßte die Worte als heiseres Flüstern aus sich heraus. »Ich hatte gefürchtet... Spielt keine Rolle. Du mußt mir helfen.«

Sie sank erschöpft zu Boden. »Ich könnte diesen Balken mit Hilfe der verdichteten Luft leicht anheben, aber dann stürzt alles über dir zusammen. Über uns beiden. Ich kann nicht alles auf einmal schaffen, Rand.«

Sein Lachen klang bitter und schmerzerfüllt und brach so schnell ab, wie es begonnen hatte. Frischer Schweiß glänzte auf seiner Stirn, und Egwene sah, wie ihm das Sprechen Mühe machte. »Ich könnte den Balken selbst verschieben. Das weißt du. Ich könnte ihn verschieben und auch die Steine darüber — alles auf einmal. Aber um das zu tun, muß ich mich Saidin öffnen, und das kann ich nicht. Ich kann nicht darauf vertrauen...« Er hielt inne und holte ächzend Luft.

»Ich verstehe nicht«, sagte sie langsam. »Wem vertraust du nicht?« Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft. Sie rieb sich heftig die Ohren.

»Der Wahnsinn, Egwene. Ich-halte-ihn-nur-mit-Mühe-zurück.« Sein keuchendes Lachen ließ sie erschauern. »Aber ich brauche alle Kraft dazu, das zu bewerkstelligen. Wenn ich nur ein wenig lockerlasse, auch nur einen Augenblick lang, dann packt mich der Wahnsinn. Dann ist mir alles gleich. Deshalb mußt du mir helfen.«

»Wie denn, Rand? Ich habe alles versucht, was mir eingefallen ist. Sag mir, wie, und ich tue es.«

Er streckte eine schlaffe Hand nach dem Dolch aus, der mit blanker Klinge im Staub lag. »Der Dolch«, flüsterte er. Seine Hand kroch unter Schmerzen auf seine Brust zurück. »Hier hinein. Ins Herz. Töte mich.«

Sie starrte ihn und den Dolch an, als seien beide Giftschlangen. »Nein! Rand, das tue ich nicht! Ich kann nicht! Wie kannst du nur so etwas von mir verlangen?«

Langsam bewegte sich seine Hand wieder auf den Dolch zu. Seine Finger erreichten ihn aber nicht. Er strengte sich an, stöhnte auf und berührte ihn mit einer Fingerspitze. Bevor er es noch mal versuchen konnte, schleuderte sie den Dolch mit einem Fußtritt von ihm weg. Er sackte schluchzend in sich zusammen.

»Sag mir, warum«, verlangte sie. »Warum verlangst du von mir, ich solle dich... ermorden? Ich werde dich heilen, ich werde alles tun, um dich hier herauszubringen, aber ich kann dich nicht töten. Warum?«

»Sie können mich umdrehen, Egwene.« Sein Atmen klang so gequält, daß sie am liebsten geweint hätte. »Wenn sie mich fangen — die Myrddraal, die Schattenlords —, können sie mich für den Schatten einsetzen. Wenn mich der Wahnsinn in den Klauen hat, kann ich mich nicht dagegen wehren. Ich weiß dann überhaupt nicht, was sie machen, bis es zu spät ist. Wenn auch nur ein Funke Leben in mir ist, schaffen sie das. Bitte, Egwene. Um der Liebe des Lichts willen — töte mich!«

»Ich... ich kann nicht, Rand. Licht, hilf mir, ich kann nicht!«

Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft. Sie blickte hinter sich, und dort stand ein silberner, von weißem Licht erfüllter Torbogen auf all dem Schutt. »Egwene, hilf mir.«

Seid standhaft. Sie stand auf und trat einen Schritt auf den Bogen zu. Er befand sich geradewegs vor ihr. Noch ein Schritt, und...

»Bitte, Egwene. Hilf mir. Ich kann ihn nicht erreichen. Um der Liebe des Lichts willen, Egwene, hilf mir!«

»Ich kann dich nicht töten«, flüsterte sie. »Ich kann nicht. Vergib mir.« Sie trat vor.

»HILF MIR, EGWENE!« Das Licht verbrannte sie zu Asche.

Taumelnd trat sie aus dem Bogen heraus. Sie bemerkte die eigene Nacktheit nicht, und es interessierte sie auch nicht. Ein Schaudern durchlief sie und sie schlug beide Hände vor den Mund. »Ich konnte nicht, Rand«, flüsterte sie. »Ich konnte nicht. Bitte vergib mir.« Licht, hilf mir. Bitte, Licht, hilf Rand! Kaltes Wasser ergoß sich über ihren Kopf.

»Ihr seid von falschem Stolz reingewaschen«, sang Elaida. »Ihr seid reingewaschen von falschem Ehrgeiz. Ihr kommt gewaschen und rein in Herz und Seele zu uns.«

Als sich die Rote Schwester abwandte, nahm Sheriam Egwene sanft bei den Schultern und führte sie zum letzten Bogen. »Noch einer, Kind. Noch einer, und es ist geschafft.«

»Er sagte, sie könnten ihn für den Schatten einsetzen«, murmelte Egwene. »Er sagte, die Myrddraal und die Schattenlords könnten ihn dazu zwingen.«

Sheriam wäre beinahe gestolpert und sah sich schnell um. Elaida war beinahe wieder hinten am Tisch. Die Aes Sedai am Bogenring des Ter'Angreal sahen nur den und nahmen sonst wohl nichts wahr. »Eine unangenehme Sache, über die Ihr nicht reden solltet, Kind«, sagte Sheriam schließlich, und dann noch leiser: »Kommt. Einmal noch.«

»Können sie das fertigbringen?« fragte Egwene.

»Es ist Sitte«, sagte Sheriam, »nicht über das zu sprechen, was innerhalb des Ter'Angreals geschieht. Die Ängste einer Frau gehören ihr selbst.«

»Aber können sie?«

Sheriam seufzte, sah sich wieder nach den anderen Aes Sedai um, senkte die Stimme zum Flüsterton und sprach schnell: »Das wissen nur ganz wenige, Kind, selbst hier in der Burg. Eigentlich solltet Ihr jetzt nicht gerade davon erfahren, am besten überhaupt nicht, aber ich sage es Euch doch. Es gibt eine Schwäche, wenn man die Macht lenken kann. Wir lernen, uns der Wahren Quelle zu öffnen, aber damit öffnen wir uns auch — anderen Dingen.« Egwene schauderte. »Beruhigt Euch, Kind. Das geht nicht so einfach. Es ist, soweit ich weiß, Licht, laß es wahr sein, seit den Trolloc-Kriegen nicht mehr geschehen. Sie brauchten dazu dreizehn Schattenlords — Schattenfreunde, die die Macht benützen können —, die wiederum den Fluß der Macht durch dreizehn Myrddraal lenkten. Seht Ihr? Das geht wirklich nicht so einfach. Heutzutage gibt es keine Schattenlords mehr. Das ist ein Geheimnis der Burg, Kind. Wenn andere das wüßten, könnten wir sie bestimmt nicht mehr davon überzeugen, daß sie bei uns sicher sind. Nur eine, die die Macht lenken kann, kann auf diese Art umgedreht werden. Die eine Schwäche bei all unserer Stärke. Alle anderen sind so sicher wie eine Festung; nur ihre eigenen Taten oder ihr Wille können sie zum Schatten hinführen.«

»Dreizehn«, sagte Egwene mit ganz kleiner Stimme. »Die gleiche Anzahl hat die Burg verlassen. Liandrin und zwölf andere.«

Sheriams Gesichtszüge verhärteten sich. »Das ist nichts, was Ihr jetzt im Kopf haben solltet. Ihr werdet das wieder vergessen!« Ihre Stimme normalisierte sich. »Das dritte Mal ist für das, was sein wird. Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft.«

Egwene sah den glühenden Bogen an und blickte hindurch in die Ferne. Liandrin und zwölf andere. Dreizehn Schattenfreunde, die mit der Macht umgehen können. Licht, hilf uns allen. Sie trat in das Licht hinein. Es erfüllte sie. Es schien durch sie hindurch. Es verbrannte sie bis auf die Knochen, sengte hinein bis zu ihrer Seele. Brennend flammte sie auf in diesem Licht. Licht, hilf mir! Es gab nichts als das Licht. Und den Schmerz.

Egwene blickte in den hohen Standspiegel und war nicht sicher, worüber sie mehr überrascht sei: die alterslose Glätte ihrer Gesichtshaut oder die gestreifte Stola, die um ihren Hals hing. Die Stola der Amyrlin.

Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft. Dreizehn.

Sie schwankte, griff hilfesuchend nach dem Spiegel und hätte ihn beinahe noch mitgerissen auf den blau gekachelten Boden ihres Ankleideraums. Etwas stimmt nicht, dachte sie. Das hatte aber nichts mit ihrem plötzlichen Schwindelgefühl zu tun, oder zumindest war es nicht das, was sie so beunruhigte. Es war etwas anderes. Doch sie hatte keine Ahnung, was es sein könnte.

An ihrer Seite stand eine Aes Sedai, eine Frau mit Sheriams hohen Backenknochen, aber dunklem Haar und besorgten braunen Augen. Sie trug die handbreite Stola der Behüterin auf den Schultern. Es war aber nicht Sheriam. Egwene hatte sie noch nie zuvor gesehen, doch sie war sicher, sie genausogut zu kernen wie sich selbst. Zögernd verlieh sie der Frau einen Namen: Beldeine.

»Seid Ihr krank, Mutter?«

Ihre Stola ist grün. Das bedeutet, sie wurde aus den Reihen der Grünen Ajah erhoben. Die Behüterin der Chronik kommt immer aus der gleichen Ajah wie die Amyrlin, der sie dient. Das bedeutet: Wenn ich die Amyrlin bin — falls? — dann war ich auch eine Grüne Ajah. Der Gedanke rüttelte sie auf. Nicht, daß sie eine Grüne gewesen war, sondern, daß sie das erst herausfinden mußte. Licht, mit mir stimmt wirklich etwas nicht.

Der Weg zurück erscheint nur... Die Stimme in ihrem Kopf verklang zu einem bloßen Summen.

Dreizehn Schattenfreunde. »Mir geht es gut, Beldeine«, sagte Egwene. Der Name klang eigenartig aus ihrem Mund. Es war, als habe sie ihn schon jahrelang benützt. »Wir dürfen sie nicht warten lassen.« Wen warten lassen? Sie wußte es nicht, nur daß sie unendlich traurig darüber war, das Warten zu beenden, unendlich widerwillig.

»Sie werden bestimmt ungeduldig, Mutter.« In Beldeines Stimme lag ein gewisses Zögern, als habe sie die gleichen Hemmungen wie Egwene, aber aus einem anderen Grund. Wenn sich Egwene nicht gewaltig irrte, hatte Beldeine trotz all ihrer äußerlichen Ruhe furchtbare Angst.

»In diesem Fall sollten wir uns beeilen.«

Beldeine nickte und atmete dann tief durch, bevor sie über den Teppich hin zu der Stelle schritt, wo sie ihren Amtsstab mit der schneetropfenförmigen Flamme von Tar Valon neben die Tür gelehnt hatte. »Ich glaube auch, es muß sein, Mutter.« Sie nahm den Stab in die Hand und öffnete die Tür für Egwene. Dann eilte sie voran. Es war wie eine Prozession von zweien. Die Behüterin der Chronik führte die Amyrlin.

Egwene sah nicht viel von den Gängen, die sie durchschritten. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war nach innen gerichtet. Was ist mit mir los? Warum kann ich mich an nichts erinnern? Warum stimmt so vieles an dem nicht, woran ich mich... beinahe erinnere? Sie berührte die Stola mit den sieben Streifen auf ihren Schultern.

Wieso bin ich beinahe sicher, noch Novizin zu sein?

Der Weg zurück erscheint nur... Diesmal endete es mit einem Schlag.

Dreizehn Schwarze Ajah.

Darüber stolperte sie. Es war an sich schon ein furchteinflößender Gedanke, doch er ließ sie bis ins Mark hinein vor Angst erstarren. Das war mehr. Es war — persönlich. Sie wollte schreien, wegrennen, sich verstecken. Sie hatte das Gefühl, alle seien hinter ihr her. Unsinn. Die Schwarzen Ajah wurden vernichtet. Auch das erschien ihr eigenartig. Ein Teil von ihr erinnerte sich an etwas, das man die Große Säuberung nannte. Ein anderer Teil ihrer selbst war sicher, daß es so etwas nie gegeben hatte.

Mit starr nach vorn gerichtetem Blick ging Beldeine voran. Sie hatte ihr Stolpern nicht bemerkt. Egwene machte längere Schritte, um wieder aufzuholen. Diese Frau ist durch und durch verängstigt. Licht, wohin bringt sie mich?

Beldeine blieb vor einer großen Doppeltür stehen, die auf jeder Seite im dunklen Holz eingelassen die große, silberne Flamme von Tar Valon aufwies. Sie wischte sich die Hände am Kleid ab, als schwitze sie mit einem Mal, und dann öffnete sie den einen Türflügel und führte Egwene eine gerade Rampe hinauf, die aus dem gleichen silbergeäderten Stein bestand wie die Mauer von Tar Valon. Selbst hier drinnen schien er zu leuchten.

Die Rampe führte hinauf in einen großen, kreisförmigen Saal unter einer mindestens dreißig Schritt hohen Kuppeldecke. An der Außenseite entlang zog sich ein Podest, zu dem Stufen von innen hinaufführten. Die Stufen wurden nur in gleichmäßigem Abstand von drei solchen Rampen unterbrochen. Die Flamme von Tar Valon war im Mittelpunkt im Boden eingelassen und wurde von spiralförmigen Farbstreifen in den Farben der sieben Ajahs umspannt. Gegenüber der Rampe stand ein Stuhl mit hoher Lehne, schwer und mit Ranken und Blättern reich beschnitzt und in den Farben aller Ajahs bemalt.

Beldeine klopfte mit ihrem Stab hart auf den Boden. Ihre Stimme bebte ein wenig. »Sie kommt. Die Hüterin der Siegel. Die Flamme von Tar Valon. Der Amyrlin-Sitz. Sie kommt.«

Unter dem Rascheln der Kleider standen die Frauen auf dem Podest von ihren Stühlen auf. Einundzwanzig Stühle waren es, die in drei Gruppen dort standen, immer drei davon in den gleichen Farben bemalt und gepolstert wie die Farben der Fransen an den Stolen der Frauen, die nun davor standen.

Der Saal des Turmrats, dachte Egwene, als sie den Innenkreis überquerte und sich zu ihrem Stuhl begab. Dem Stuhl der Amyrlin. Das ist alles. Der Turmrat und die Sitzenden der Ajahs. Ich bin schon Tausende von Malen hier gewesen. Aber sie konnte sich an nichts erinnern. Was mache ich im Saal des Rats? Licht, sie werden mir die Haut bei lebendigem Leib abziehen, wenn sie merken, daß ich... Ihr war nicht klar, was sie merken würden, nur flehte sie das Licht an, daß sie nichts bemerkten.

Der Weg zurück erscheint nur...

Der Weg zurück erscheint...

Der Weg...

Die Schwarzen Ajah warten. Der Gedanke zumindest war vollständig. Er kam von überall her. Warum schien sonst niemand ihn zu hören?

Sie setzte sich auf den Stuhl des Amyrlin-Sitzes — den Stuhl, der selbst der Amyrlin-Sitz war —, und ihr wurde klar, daß sie keine Ahnung hatte, was sie nun tun sollte. Die anderen Aes Sedai hatten sich gleichzeitig mit ihr hingesetzt, bis auf Beldeine, die neben ihrem Stab stand und nervös schluckte. Alle schienen auf sie zu warten. »Beginnt«, sagte sie schließlich.

Das schien auszureichen. Eine der Sitzenden für die Roten stand auf. Egwene war erschrocken, als sie in ihr Elaida erkannte. Zugleich wußte sie auch, daß Elaida die Anführerin der Roten und ihre erbittertste Feindin war. Der Blick, mit dem Elaida sie über den Saal hinweg ansah, ließ Egwene erzittern. Er war streng und kalt und — triumphierend. Er versprach Dinge, an die sie lieber nicht dachte.

»Bringt ihn herein«, sagte Elaida laut.

Von einer der Rampen her — nicht der, über die Egwene hereingekommen war — ertönte das Knirschen von Stiefeln auf Steinboden: Menschen erschienen dort. Ein Dutzend Aes Sedai umgab drei Männer. Zwei davon waren kräftige Wachsoldaten mit der weißen Träne der Flamme von Tar Valon auf der Brust, und sie zogen an Ketten den dritten Mann stolpernd hinter sich her. Er wirkte wie betäubt.

Egwene riß es auf ihrem Stuhl nach vorn. Der Mann in Ketten war Rand. Mit halb geschlossenen Augen und gesenktem Kopf schien er beinahe zu schlafen. Er bewegte sich nur auf den Druck der Ketten hin.

»Dieser Mann«, verkündete Elaida, »hat sich zum Wiedergeborenen Drachen erklärt.« Ein Murmeln des Abscheus erklang vom Podest her. Nicht, daß die Zuhörerinnen überrascht schienen, aber es war wohl etwas, das sie nicht hören wollten. »Dieser Mann hat die Eine Macht benutzt.« Das Gemurmel wurde nun lauter, angeekelt und von Angst gefärbt. »Es gibt dafür nur eine Strafe, die in jedem Land bekannt und anerkannt ist, aber nur hier in Tar Valon verhängt wird, im Saal des Turmrats. Ich stelle den Antrag an den Amyrlin-Sitz, diesen Mann zu verurteilen und ihn einer Dämpfung zu unterziehen.«

Elaidas Augen glitzerten Egwene an. Rand. Was soll ich tun? Licht, was soll ich nur tun?

»Warum zögert Ihr?« wollte Elaida wissen. »Das Urteil wird seit dreitausend Jahren vollstreckt. Warum zögert Ihr, Egwene al'Vere?«

Eine der Grünen Sitzenden sprang auf. Der Zorn glühte auf ihrem sonst so ruhigen Gesicht. »Das ist eine Schande, Elaida! Zeigt dem Amyrlin-Sitz gefälligst Respekt. Respekt vor der Mutter!«

»Respekt«, antwortete Elaida kalt, »kann sowohl verloren wie auch gewonnen werden. Also, Egwene? Kann es sein, daß du nun endlich deine Schwäche zeigst, zeigst, daß du unfähig für dieses Amt bist? Kann es sein, daß du diesen Mann nicht verurteilen willst?«

Rand versuchte, den Kopf zu heben, scheiterte aber.

Egwene stand mühsam auf. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, daß sie die Amyrlin war und die Macht besaß, all diesen Frauen Befehle zu erteilen. Etwas anderes in ihr schrie ihr zu, sie sei eine Novizin, sie gehöre nicht hierher, etwas sei hier auf schreckliche Weise verdreht. »Nein«, sagte sie bebend. »Nein, ich kann nicht! Ich werde ihn nicht... «

»So verrät sie sich!« Elaidas Schrei übertönte Egwenes Versuch, weiterzusprechen. »Sie verurteilt sich selbst! Nehmt sie gefangen!«

Als Egwene den Mund erneut öffnete, war Beldeine an ihrer Seite. Dann traf der Stab der Behüterin Egwenes Kopf.

Schwärze.

Zuerst war da der Schmerz in ihrem Kopf. Unter ihrem Rücken befand sich etwas Hartes und Kaltes. Dann kamen die Stimmen durch. Gemurmel.

»Ist sie noch bewußtlos?« Es klang rauh wie eine Feile auf Knochen.

»Keine Sorge«, sagte eine Frau von weit, weit her. Sie klang nervös, ängstlich, und bemühte sich, beides nicht zu zeigen. »Sie wird behandelt, bevor sie weiß, was geschieht. Dann gehört sie uns, und wir können mit ihr machen, was wir wollen. Vielleicht übergeben wir sie Euch als Spielzeug.«

»Nachdem Ihr sie für Eure Zwecke benützt habt.«

»Natürlich.«

Die fernen Stimmen wurden schwächer.

Eine Hand berührte ihr Bein, ihre bloße, wabbeligschlaffe Haut. Sie öffnete die Augen ein ganz klein wenig. Sie lag nackt und geschunden auf einem rauhen Holztisch in einem offensichtlich unbenutzten Lagerraum. Splitter stachen in ihren Rücken. Im Mund hatte sie den metallischen Geschmack von Blut.

Eine Gruppe von Aes Sedai stand auf einer Seite des Raums und unterhielt sich leise und eindringlich. Die Kopfschmerzen machten ihr das Denken schwer, aber es erschien ihr wichtig, sie zu zählen. Dreizehn.

Eine Gruppe von schwarzgekleideten Kapuzenmännern kam herbei und schloß sich den Aes Sedai an. Die schienen zwischen Furcht und dem Wunsch, stärker als die Schwarzen zu sein, hin- und hergerissen. Einer der Männer wandte den Kopf und sah sich nach dem Tisch um. Das tote, weiße Gesicht unter der Kapuze hatte keine Augen.

Egwene mußte die Myrddraal nicht erst zählen. Sie kannte ihre Anzahl. Dreizehn Myrddraal und dreizehn Aes Sedai. Ohne nachzudenken, schrie sie vor Angst auf. Doch selbst inmitten dieser markerschütternden Angst griff sie nach der Wahren Quelle und versuchte verzweifelt, Saidar zu berühren. »Sie ist wach!«

»Das kann nicht sein! Noch nicht!« »Schirmt sie ab! Schnell! Schnell! Schneidet sie von der Quelle ab!«

»Es ist zu spät! Sie ist zu stark!« »Packt sie! Schnell!«

Hände streckten sich nach ihren Armen und Beinen aus. Leichenblasse Hände, wie Larven unter einem Stein, unter ebenso blassen, augenlosen Gesichtern. Wenn diese Hände ihre Haut berührten, würde sie wahnsinnig werden, das war ihr klar. Die Macht erfüllte sie.

Flammen barsten aus der Haut des Myrddraal und fetzten wie feste, feurige Dolche durch den schwarzen Stoff. Schreiende Halbmenschen färbten sich schwarz und verbrannten wie Ölpapier. Faustgroße Steinbrocken lösten sich aus den Wanden und zischten durch den Raum. Wo sie auf Haut trafen, ertönten Schreie und Stöhnen. Die Luft bewegte sich, drehte sich, heulte als Wirbelsturm durch den Raum.

Langsam und schmerzerfüllt drückte sich Egwene von der Tischfläche hoch. Der Wind peitschte ihre Haare und ließ sie schwanken, doch sie trieb ihn weiter an, während sie zur Tür stolperte. Eine Aes Sedai ragte vor ihr auf, eine verschrammte und blutende Frau, die vom Glühen der Macht umgeben war. Eine Frau, in deren dunklen Augen der Tod geschrieben stand.

Egwenes Verstand fand den Namen der Frau: Gyldan. Elaidas engste Vertraute, die immer mit ihr in Ecken herumstand und flüsterte und die sich mit ihr in der Nacht einschloß. Egwene verzog den Mund. Sie mißachtete Steine und Wind, ballte die Hand zur Faust und schlug sie Gyldan, so hart sie konnte, zwischen die Augen. Die Rote Schwester — die Schwarze Schwester — sackte zusammen, als seien ihre Knochen geschmolzen.

Egwene rieb sich den Knöchel und taumelte auf den Gang hinaus. Danke, Perrin, dachte sie, daß du mir gezeigt hast, wie ich das anstellen muß. Aber du hast mir nicht gesagt, wie weh einem das selber tut.

Sie schob die Tür gegen den Druck des Windes zu und gebrauchte erneut die Macht. Steine rund um die Tür herum erzitterten, krachten heraus und schichteten sich vor der Tür auf. Das würde sie nicht lange aufhalten, aber alles, was ihr auch nur eine Minute mehr einbrachte, war es wert. Minuten konnten über Leben und Tod entscheiden. Sie raffte sich auf und rannte los. Es war ein unsicheres, schwankendes Rennen, doch immerhin...

Sie entschloß sich, zunächst Kleidung zu suchen. Eine bekleidete Frau besaß mehr Autorität als eine nackte, und sie würde jedes bißchen Autorität brauchen. Sie würden zuerst in ihren Räumen nach ihr suchen, doch sie hatte im Arbeitszimmer ein Kleid für den Notfall hängen und auch ein Paar Schuhe stehen — und eine weitere Stola —, und das war nicht weit entfernt.

Dieses Laufen durch leere Gänge kostete sie Nerven. In der Weißen Burg lebten nicht mehr so viele wie früher, aber trotzdem traf man sonst immer jemanden. Das lauteste Geräusch jetzt war das Klatschen ihrer nackten Fußsohlen auf den Steinplatten.

Sie eilte durch das Vorzimmer zum inneren Arbeitszimmer, und hier fand sie endlich jemanden vor. Beldeine saß auf dem Boden, hatte den Kopf in die Hände gestützt und weinte.

Egwene blieb mißtrauisch stehen, als Beldeine den Kopf hob und ihre rotgeränderten Augen in die ihren blickten. Die Behüterin war nicht vom Glühen Saidars umgeben, doch Egwene war lieber vorsichtig. Und selbstbewußt. Sie konnte ihr eigenes Glühen natürlich nicht wahrnehmen, aber die Kraft — die Macht —, die sie durchströmte, reichte aus. Besonders, wenn man ihr Geheimnis hinzuzählte.

Beldeine rieb sich mit einer Hand über die tränenüberströmten Wangen. »Ich mußte. Ihr müßt das verstehen. Ich mußte. Sie... sie... « Sie atmete tief und bebend ein, und dann brach alles aus ihr heraus: »Vor drei Nächten haben sie mich im Schlaf überfallen und einer Dämpfung unterzogen.« Ihre Worte wurden zum Aufschrei: »Sie haben an mir eine Dämpfung vorgenommen! Ich kann die Macht nicht mehr lenken und fühlen!«

»Licht«, hauchte Egwene. Der Strom von Saidar dämpfte ihren Schock. »Das Licht helfe dir und tröste dich, Tochter. Warum hast du mir nichts gesagt? Ich hätte dann...« Sie ließ die Worte verklingen, denn sie wußte, sie hätte ihr nicht mehr helfen können.

»Was hättet Ihr denn tun können? Was? Nichts! Ihr könnt nichts tun! Aber sie sagten, Ihr könntet mir die Gabe zurückgeben, mit Hilfe der Macht des... der Macht des Dunklen Königs.« Sie preßte die Augen zusammen, doch aus den Winkeln drangen Tränen. »Sie haben mir weh getan, Mutter, und ich mußte... O Licht, sie haben mir so weh getan! Elaida sagte mir, sie würden mich wieder heilen und wieder fähig machen, die Macht zu lenken, wenn ich nur gehorchte. Deshalb habe ich... Ich mußte!«

»Also ist Elaida tatsächlich eine Schwarze Ajah«, stellte Egwene grimmig fest. An der Wand stand ein schmaler Kleiderschrank, und darin hing ein grünseidenes Kleid, das sie hier aufbewahrte, falls sie einmal keine Zeit fand, in ihre Räume zurückzukehren. Neben dem Kleid hing eine gestreifte Stola. Sie zog sich schnell an. »Was haben sie mit Rand gemacht? Wo haben sie ihn hingebracht? Antworte mir, Beldeine! Wo ist Rand al'Thor?«

Beldeine kauerte da mit zitternden Lippen, den traurigen Blick nach innen gewandt, aber schließlich riß sie sich doch zusammen und sagte: »Im Hof der Verräter, Mutter. Sie haben ihn zum Hof der Verräter gebracht.«

Egwene wurde von einem Anfall des Zitterns erfaßt. Angstzittern. Elaida hatte nicht gewartet, noch nicht einmal eine einzige Stunde. Man benützte den Hof der Verräter nur für drei Zwecke: Hinrichtungen, die Dämpfung einer Aes Sedai oder die eines Mannes, der die Macht lenken konnte. Doch alles konnte nur auf Befehl der Amyrlin geschehen! Wer trägt dort draußen die Stola? Ganz bestimmt Elaida. Aber wie hat sie es angestellt, daß sie so schnell gewählt wurde, ohne daß ich angeklagt oder gar verurteilt wurde? Es kann keine andere Amyrlin geben, solange man mir nicht offiziell Stola und Stab aberkannt hat Und das wird ihnen nicht leichtfallen. Licht! Rand! Sie ging zur Tür.

»Was könnt Ihr tun, Mutter?« rief Beldeine. »Was könnt Ihr denn tun?« Es war nicht klar, was sie meinte: für Rand oder für sie selbst.

»Mehr, als jeder glaubt«, sagte Egwene. »Ich habe die Eidesrute nie in Händen gehalten, Beldeine.« Beldeines überraschtes Nach-Luft-Schnappen verfolgte sie aus dem Zimmer.

Egwenes Gedächtnis spielte ihr immer noch Streiche. Sie wußte, daß keine Frau Stola und Ring erringen konnte, ohne die Drei Eide zu schwören und dabei die Eidesrute fest in Händen zu halten, den Ter'Angreal, der sie so an die Eide band, als hätte man sie ihr als Kind in die Knochen eingraviert. Keine Frau wurde zur Aes Sedai, ohne an sie gebunden zu sein. Und doch wußte sie, daß gerade bei ihr irgendwie, auf irgendeine Art und Weise, die sie vergessen hatte, die Eide ausgelassen worden waren.

Ihre Schuhe klapperten beim Laufen. Zumindest wußte sie jetzt, warum die Gänge leer waren. Jede Aes Sedai außer denen, die sie in dem Lagerraum zurückgelassen hatte, jede Aufgenommene, jede Novizin, sogar alle Dienerinnen waren jetzt im Hof der Verräter versammelt, wie es der Brauch verlangte, um zuzusehen, wie der Wille Tar Valons geschah.

Und die Behüter würden den Hof umringen, um jede Möglichkeit auszuschließen, daß jemand den Mann vor der Dämpfung befreien konnte. Die Überreste des Heeres von Guaire Amalasan hatten das am Ende dessen versucht, was man den Krieg des Zweiten Drachen nannte, kurz bevor sich Tar Valon über den Aufstieg Artur Falkenflügels Gedanken machen mußte. Auch die Anhänger von Raolin Dunkelbann hatten es lange Jahre früher versucht. Sie konnte sich nicht erinnern, ob Rand irgendwelche Anhänger hatte, aber die Behüter dachten an solche Dinge und bereiteten sich darauf vor.

Falls Elaida oder eine andere tatsächlich die Stola der Amyrlin trug, könnte es sein, daß die Behüter sie nicht auf den Hof der Verräter vorließen. Sie wußte, daß sie sich den Weg erzwingen konnte. Das mußte dann aber schnell geschehen. Es hatte keinen Zweck, noch in aller Ruhe die Behüter durch verfestigte Luft zu lähmen, während Rand bereits der Dämpfung unterzogen wurde. Selbst die Behüter würden wegrennen, wenn sie die Blitze auf sie losließ und die Scheiterhaufen und den Boden unter ihren Füßen zerriß. Scheiterhaufen? fragte sie sich. Aber es wäre auch nicht gut, die Macht Tar Valons zu brechen, um Rand zu retten. Sie mußte beides erhalten.

Ein ganzes Stück, bevor sie den Weg zum Hof der Verräter erreichte, wandte sie sich seitwärts und erklomm Treppen und Rampen, die nach oben hin immer enger wurden, bis sie eine Falltür öffnete und auf ein schräges Turmdach hinauskletterte. Die Ziegel waren beinahe weiß gebleicht. Von hier aus konnte sie zwischen anderen Dächern und Türmen hindurch direkt in den weiten offenen Schlund des Hofs der Verräter hinunterblicken.

Der Hof war bis auf einen geräumten Platz in der Mitte mit Menschen angefüllt. Auch an den Fenstern drängten sich die Menschen, auf den Balkonen und sogar auf den Dächern standen welche. Trotzdem konnte sie den einzelnen Mann im Mittelpunkt der freien Fläche gut erkennen. Er sah so klein aus auf diese Entfernung und hing so schlaff in seinen Ketten. Rand. Zwölf Aes Sedai umstanden ihn, und eine weitere — von der Egwene wußte, daß sie eine mit sieben Streifen versehene Stola tragen mußte, auch wenn sie die jetzt nicht ausmachen konnte — stand vor Rand. Elaida. Egwene erinnerte sich an die Worte, die sie wohl gerade sprach.

Dieser Mann, vom Licht verlassen, hat Saidin berührt, die männliche Hälfte der Wahren Quelle. Deshalb halten wir ihn gefangen. In verabscheuungswürdigem Maße hat dieser Mann die Eine Macht gebraucht, wohl wissend, daß Saidin vom Dunklen König verdorben wurde, vom Stolz der Männer und von der Sünde der Männer gezeichnet. Deshalb legen wir ihn in Ketten.

Mit Macht unterdrückte Egwene den Rest in ihren Gedanken. Dreizehn Aes Sedai. Zwölf Schwestern und die Amyrlin, wie es der Tradition bei einer Dämpfung entspricht. Die gleiche Anzahl wie bei... Sie schob auch das beiseite. Sie hatte keine Zeit, denn sie mußte etwas unternehmen. Sie hatte nur keine Ahnung, was.

Auf diese Entfernung konnte sie ihn aber wahrscheinlich mit Hilfe verdichteter Luft anheben, ihn direkt aus dem Kreis der Aes Sedai herausholen und zu ihr schweben lassen. Vielleicht. Aber selbst, wenn sie sich zu dieser Gewaltanstrengung aufraffen konnte und ihn nicht auf halbem Weg abstürzen ließ, würde es lange dauern. Inzwischen wäre er eine hilflose Zielscheibe für die Bogenschützen, und das Glühen Saidars würde jeder Aes Sedai dort unten zeigen, wo sie sich befand. Auch jedem Myrddraal natürlich.

»Licht«, knurrte sie, »es gibt keinen anderen Weg, wenn ich nicht einen Krieg innerhalb der Weißen Burg anzetteln will. Und das könnte sowieso geschehen.« Sie ließ sich von der Macht erfüllen, splittete kleinere Ströme ab und lenkte sie.

Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft. Es war schon so lange her, daß sie diese Worte zum letztenmal gehört hatte, und so fuhr sie zusammen, rutschte auf den glatten Ziegeln aus und fing sich gerade noch vor der Dachkante. Der Boden befand sich hundert Schritt unter ihr. Sie blickte sich um.

Dort auf der Turmspitze, ein wenig gekippt, um sich den schräg nach unten verlaufenden Ziegeln anzugleichen, stand ein silberner, mit Licht gefüllter Torbogen. Der Bogen flackerte und verschwamm zwischenzeitlich etwas, und das weiße Licht wurde von zornigem Rot und Gelb durchzuckt.

Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft.

Der Bogen wurde dünn und durchscheinend, und dann verfestigte er sich wieder.

Verzweifelt sah Egwene wieder in den Hof der Verräter hinunter. Sie brauchte Zeit. Es mußte einfach gehen. Alles, was sie brauchte, waren ein paar Minuten, vielleicht zehn, und etwas Glück.

In ihrem Kopf dröhnten Stimmen, nicht die körperlose, unbekannte Stimme, die sie ermahnte, standhaft zu sein, sondern Frauenstimmen, von denen sie beinahe sicher war, daß sie sie kannte.

... kann nicht viel länger halten. Wenn sie jetzt nicht herauskommt...

Haltet durch! Durchhalten, seng Euch, oder ich nehme Euch aus wie die Fische!

... bricht aus, Mutter! Wir können nicht mehr...

Die Stimmen wurden schwächer, summten nach und machten dann Schweigen Platz, doch die unbekannte Stimme meldete sich wieder.

Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft.

Es fordert seinen Preis, Aes Sedai werden zu wollen.

Die Schwarzen Ajah warten.

Mit einem Aufschrei der Wut und des Schmerzes warf sich Egwene in den Bogen, der wie ein Hitzeschleier schimmerte. Sie wünschte sich beinahe, sie werde ihn verfehlen und zu Tode stürzen.

Licht pflückte sie Faser für Faser auseinander, zerschnitt die Fasern zu Haaren, spaltete die Haare zu dünnen Fäden des Nichts. Alles trieb auf der Oberfläche des Lichts auseinander; war für immer verloren.


Загрузка...