37 Es brennt in Cairhien

Egwene erwiderte die respektvolle Verbeugung des Besatzungsmitglieds, das barfuß an ihr vorbeipatschte, mit einem graziösen Kopfnicken. Er zog an einem Tau, das sowieso schon straff gespannt schien, und verschob damit vielleicht die Stellung eines der großen, quadratischen Segel um ein Weniges. Als er dann zurücktrabte, dorthin, wo der Kapitän neben dem Rudergänger stand, verbeugte er sich noch mal, und sie nickte noch einmal. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem bewaldeten Ufer Cairhiens zu, das weniger als zwanzig Spannen entfernt an dem Blauen Kranich vorbeiglitt.

Sie kamen an einem Dorf vorbei, oder dem, was einmal ein Dorf gewesen war. Die Hälfte aller Häuser bestand nur noch aus qualmenden Schutthaufen, aus denen höchstens noch die Schornsteine wie kahle Bäume herausragten. An den anderen Häusern standen die Türen offen und wurden vom Wind hin- und hergeschlagen, während einzelne Möbelstücke, Kleider und Haushaltsgegenstände auf der Straße herumlagen. Der Wind packte auch sie und warf sie umher. Nichts Lebendiges rührte sich im Dorf bis auf einen halbverhungerten Hund, der das vorübergleitende Schiff nicht weiter beachtete und hinter den eingestürzten Mauern eines Gebäudes verschwand, das wohl eine Schenke gewesen war. So etwas konnte sie nicht sehen, ohne ein flaues Gefühl im Magen zu spüren, doch sie bemühte sich, die leidenschaftslose Würde zu wahren, die sie sich bei einer Aes Sedai vorstellte. Es half nicht viel.

Jenseits des Dorfes stieg eine dicke Qualmwolke in den Himmel. Drei oder vier Meilen weiter, schätzte sie.

Das war nicht die erste solche Qualmwolke, die sie gesehen hatte, seit der Erinin an der Grenze nach Cairhien entlanggeflossen war, und es war nicht das erste zerstörte Dorf. Wenigstens sah man diesmal keine Leichen herumliegen. Kapitän Ellisor mußte manchmal der sich verschiebenden Schlammbänke im Fluß wegen ganz nahe am Ufer Cairhiens entlangsteuern. Trotzdem hatten sie bisher keinen einzigen lebenden Menschen gesehen.

Dorf und Rauchwolke entschwanden hinter dem Schiff, doch da kam bereits eine weitere Rauchwolke voraus in Sicht, etwas weiter vom Fluß entfernt. Der Wald wurde hier spärlicher. Eschen und Lederblattbäume und Schwarzer Holunder machten Weiden Platz und Birken und Wassereichen. Ein paar der anderen Bäume kannte sie nicht.

Der Wind packte ihren Umhang, aber sie ließ ihn ruhig flattern. Sie spürte die kalte Reinheit der Luft, die Freiheit, die ihr die braune Kleidung verlieh anstatt der weißen, auch wenn es nicht das war, was sie eigentlich tragen wollte. Doch Kleid und Umhang waren aus feinster Wolle, gut geschnitten und gut verarbeitet.

Ein anderer Matrose trabte an ihr vorüber und verbeugte sich dabei. Sie gelobte sich, wenigstens ein bißchen darüber in Erfahrung zu bringen, was sie arbeiteten. Es paßte ihr nicht, sich so unwissend zu fühlen. Ihren Ring der Großen Schlange an der rechten Hand zu tragen brachte ihr eine ganze Menge Verbeugungen vom Kapitän bis hinunter zu den Matrosen ein. Die meisten davon waren in Tar Valon geboren.

Sie hatte in der Auseinandersetzung mit Nynaeve den Sieg davongetragen. Nynaeve war sicher gewesen, daß nur sie allein alt genug sei, um von den Leuten für eine Aes Sedai gehalten zu werden. Doch da hatte sie sich geirrt. Egwene gab ja zu, daß sie genau wie Elayne einige überraschte Blicke abbekommen hatte, als sie an jenem Nachmittag im Südhafen an Bord des Blauen Kranich gegangen waren. Kapitän Ellisor hatte die Augenbrauen so weit hochgezogen, daß sie seinen Haaransatz erreicht hätten, doch Haare besaß er keine mehr. Trotzdem hatte er gelächelt und sich viele Male verbeugt.

»Eine Ehre, Aes Sedai. Drei Aes Sedai wollen auf meinem Schiff mitfahren? Das ist wirklich eine Ehre. Ich verspreche Euch eine schnelle Reise, soweit Ihr zu fahren wünscht. Und keine Schwierigkeiten mit Räubern aus Cairhien. Ich lege an dieser Seite des Flusses nicht mehr an. Es sei denn natürlich, Ihr wünscht es, Aes Sedai. Ein paar Städte auf der Seite Cairhiens werden von andoranischen Soldaten gehalten. Eine Ehre, Aes Sedai.«

Seine Augenbrauen waren noch einmal nach oben geschossen, als sie lediglich nach einer Kabine für alle drei verlangt hatten. Nicht einmal Nynaeve hatte nachts allein bleiben wollen, wenn sie es vermeiden konnte. Jede von ihnen hätte durchaus ohne Preisaufschlag eine eigene Kabine haben können, sagte er ihnen, denn er hatte keine anderen Passagiere an Bord, die Ladung war gestaut, und falls die Aes Sedai flußabwärts zu tun hatten, würde er auch keine Stunde mehr darauf warten, daß vielleicht noch neue Passagiere auftauchten. Sie wiederholten jedoch, daß sie nur eine Kabine benützen wollten.

Das hatte ihn überrascht und an seinem Gesichtsausdruck konnte man ablesen, daß er es nicht verstand, aber Chin Ellisor, der in Tar Valon geboren und aufgewachsen war, würde die Entscheidung einer Aes Sedai niemals in Frage stellen, wenn sie ihm ihre Absicht klargemacht hatte. Und wenn zwei von ihnen auch sehr jung wirkten — nun ja, einige Aes Sedai waren eben jung.

Die verlassenen Ruinen verschwanden hinter Egwene. Die Rauchwolke kam näher, und sie bemerkte die Andeutung einer weiteren, die aber viel weiter vom Flußufer entfernt sein mußte. Die bewaldete Landschaft änderte sich langsam und wurde zu einer grasbewachsenen, hügeligen Ebene mit vielen kleinen Dickichten dazwischen. Die Bäume trugen bereits ihre Frühlingsblüten. Winzig und weiß leuchteten sie auf den Weißdornbüschen und zwischen den hochroten Beeren der Vogelbeerbäume. Ein Baum, den sie nicht kannte, war bedeckt von runden weißen Blüten, jede größer als zwei Handspannen. In Abständen sah man die gelben oder weißen Blüten einer Kletterrose durch sattgrün belaubtes Geäst oder rote Schößlinge leuchten. Der Kontrast zu all der Asche und dem Schutt war zu hart, als daß sie den Frühling hätte genießen können.

Da wünschte sich Egwene eine Aes Sedai herbei, um ihr die vielen Fragen zu stellen, die ihr auf der Zunge brannten. Eine, der sie vertrauen konnte. Wenn sie mit den Fingern leicht über ihre Gürteltasche strich, konnte sie gerade noch den Ring des Ter'Angreal darinnen fühlen.

Sie hatte ihn jede Nacht seit ihrer Abreise aus Tar Valon benützt, mit zwei Ausnahmen, aber es war keine zweimal das gleiche herausgekommen. O ja, sie kam immer nach Tel'aran'rhiod, aber das einzig Nützliche, das sie dort sah, war wieder das Herz des Steins, jedesmal aber ohne Sylvie, die ihr Einzelheiten darüber berichtet hätte. Sie sah absolut nichts von den Schwarzen Ajah.

Ihre eigenen Träume, die nicht von dem Ter'Angreal unterstützt wurden, waren von Bildern erfüllt gewesen, die beinahe wie Szenen aus der Unsichtbaren Welt wirkten. Rand, der ein Schwert in der Hand hielt, das wie die Sonne brannte, bis sie es kaum mehr als Schwert erkennen konnte und auch kaum mehr ihn selbst als Rand. Wieder Rand, der auf unzählige Arten bedroht wurde. Keine dieser Bedrohungen erschien ihr wirklich. In einem Traum hatte er sich auf einem riesigen Spielbrett befunden. Die schwarzen und weißen Spielfiguren waren so groß wie Felsblöcke gewesen, und er duckte sich unter den monströsen Händen weg, die sie führten und die ihn zu zerquetschen drohten. Es konnte durchaus eine Bedeutung haben. Das war auch wahrscheinlich, doch bis auf die Tatsache, daß sich Rand durch jemand oder auch durch zwei Personen in Gefahr befand — soweit war sie sich sicher —, wußte sie nun immer noch nichts. Ich kann ihm im Moment nicht helfen. Ich muß meine eigene Pflicht erfüllen. Ich weiß noch nicht einmal, wo er sich befindet, außer daß er möglicherweise tausend Meilen oder mehr von hier entfernt ist.

Sie hatte von Perrin und einem Wolf geträumt und von einem Falken bei Perrin, der mit einem Habicht kämpfte. Perrin rannte vor jemand Tödlichem weg und sprang ganz bewußt vom Rand einer hoch aufragenden Klippe in die Tiefe, wobei er sagte: »Es muß vollbracht werden. Ich muß das Fliegen lernen, bevor ich auf dem Boden aufschlage.« Einmal hatte sie von einem Aiel geträumt, und sie glaubte, auch das habe mit Perrin zu tun gehabt. Aber sie war sich nicht ganz sicher. Und dann träumte sie von Min, die eine stählerne Falle zum Zuschnappen brachte, ohne sie beim Hindurchlaufen überhaupt zu bemerken. Auch von Mat hatte sie mehrmals geträumt. Mat, um den herum Würfel wirbelten — sie wußte, wo diese Vorstellung herrührte — und wie er von einem Mann verfolgt wurde, der gar nicht da war. Das verstand sie immer noch nicht: Ein Mann oder vielleicht auch mehr als einer folgten ihm, aber doch waren sie nicht vorhanden! Dann wieder ritt Mat verzweifelt auf ein in der Ferne verschwindendes Ziel zu, das er unbedingt erreichen mußte. Und er war bei einer Frau, die mit Feuerwerk um sich warf. Eine aus der Gilde der Feuerwerker, nahm sie an, aber das ergab auch nicht mehr Sinn als alles andere.

Sie hatte derart viele Träume gehabt, daß sie schon begann, an allem zu zweifeln. Vielleicht hatte es damit zu tun, daß sie den Ter'Angreal zu oft benützte, oder daß sie ihn überhaupt bei sich trug. Möglicherweise erfuhr sie nun auch, was ein Träumer gewöhnlich erlebte. Verzweifelte, aufwühlende Träume. Männer und Frauen, die aus Käfigen ausbrachen und sich dann Kronen aufsetzten. Eine Frau spielte mit Puppen, und in einem anderen Traum führten die Fäden an einer Puppe zu den Händen einer größeren und deren Fäden wieder zu einer größeren Puppe und immer so weiter, bis die Fäden in unendlichen Höhen verschwanden. Könige starben, Königinnen weinten, Schlachten tobten. Weißmäntel brandschatzten die Zwei Flüsse. Sogar von den Seanchan hatte sie wieder geträumt. Mehr als einmal. Diese Träume verdrängte sie in eine dunkle Ecke ihres Verstands; sie wollte nicht daran denken. Und dann Mutter und Vater — jede Nacht.

Zumindest war sie sicher, was diese Träume bedeuteten, oder sie glaubte, sicher zu sein. Das bedeutet, ich bin weg, um Schwarze Ajah zu jagen, und ich weiß nicht, was meine Träume bedeuten oder wie ich diesen dummen Ter'Angreal dazu bringen kann, zu machen, was ich will, und ich habe Angst und... und Heimweh. Einen Augenblick lang stellte sie sich vor, wie schön es sei, von ihrer Mutter hoch ins Bett geschickt zu werden und zu wissen, daß am Morgen alles besser sein würde. Nur kann Mutter meine Probleme nicht mehr lösen und Vater kann mir nicht mehr versprechen, er werde die Ungeheuer verjagen, damit ich ihm glaube und beruhigt bin. Jetzt muß ich alles selbst machen.

Wie lange das alles nun schon zurücklag. Sie wünschte sich das ja auch nicht wirklich wieder, aber es war eine von Wärme erfüllte Zeit gewesen, eine wunderbare Erinnerung. Es wäre schön, sie wenigstens einmal wiederzusehen und ihre Stimmen zu hören. Wenn ich diesen Ring an dem Finger trage, den ich mir selbst auswählen kann.

Sie hatte schließlich nachgegeben und Nynaeve und Elayne jeweils eine Nacht lang mit dem Steinring schlafen lassen. Über ihr eigenes Zögern, den Ring jemand anderem zu übergeben, war sie allerdings selbst überrascht gewesen. Als sie erwachten, hatten sie von einer Welt erzählt, die ganz sicher Tel'aran'rhiod gewesen war, aber keine hatte mehr als nur einen flüchtigen Blick ins Herz des Steins geworfen oder sonst etwas Nützliches gesehen.

Die dicke Rauchsäule lag nun genau vor dem Blauen Kranich. Vielleicht fünf oder sechs Meilen vom Fluß entfernt, glaubte sie. Die andere war nur eine verschwommene Linie am Horizont. Es könnte beinahe eine natürliche Wolke sein, aber sie war sicher, daß es das nicht war. An manchen Stellen wuchs hier das Gestrüpp ganz dicht am Ufer, und dazwischen wuchs das Gras bis zum Rand des Wassers. Nur an wenigen Flecken war das Ufer unterspült und am Rand abgerutscht.

Elayne kam an Deck und trat zu ihr an die Reling. Der Wind peitschte ihren Umhang. Auch sie trug feste Wollkleidung. Das war ein Punkt gewesen, in dem sich Nynaeve durchgesetzt hatte. Ihre Kleidung. Egwene hatte darauf bestanden, daß Aes Sedai immer nur das Beste trügen, auch auf Reisen. Dabei hatte sie an die Seide gedacht, die sie in Tel'aran'rhiod trug. Aber Nynaeve hatte darauf hingewiesen, daß sie wohl eine pralle Börse voll Gold besaßen, die ihnen die Amyrlin hinten in den Kleiderschrank gesteckt hatte, aber nicht wissen konnten, wie hoch die Preise flußabwärts seien. Die Dienerinnen meinten, Mat habe in bezug auf einen Bürgerkrieg in Cairhien recht gehabt und daß die Preise deshalb hochgegangen seien. Zu Egwenes Überraschung hatte Elayne sie darauf aufmerksam gemacht, daß die Braunen Schwestern häufiger Wollkleidung trugen als Seide. Elayne hatte dem Küchendienst unbedingt entkommen wollen, und Egwene glaubte, sie hätte auch Lumpen getragen, um das zu erreichen.

Wie es Mat wohl ergehen mag? Zweifellos wird er versuchen, den Kapitän des Schiffes, auf dem er sich befindet, zum Würfelspiel zu überreden.

»Schrecklich«, murmelte Elayne. »Es ist so schrecklich.«

»Was denn?« fragte Egwene abwesend. Ich hoffe nur, er zeigt das Dokument, das wir ihm gegeben haben, nicht überall herum.

Elayne blickte sie überrascht an und runzelte dann die Stirn. »Das!« Sie deutete auf die ferne Rauchwolke. »Wie kannst du so etwas übersehen?«

»Ich ignoriere es, denn ich will nicht erst darüber nachdenken, was die Menschen durchmachen. Ich kann nichts dagegen unternehmen, und wir müssen nach Tear kommen. Was wir suchen, befindet sich nun mal in Tear.« Sie war über ihre Leidenschaft selbst überrascht. Ich kann doch wirklich nichts dagegen tun. Und die Schwarzen Ajah sind in Tear.

Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, daß sie einen Zugang zum Herzen des Steins finden mußten. Vielleicht war nur den Hochlords von Tear die Anwesenheit dort gestattet, aber sie war langsam davon überzeugt, daß sie nur dort im Herzen des Steins die Falle der Schwarzen Ajah auslösen und gleichzeitig meiden konnten.

»Das weiß ich doch alles, Egwene, aber das kann mich nicht daran hindern, daß ich mit den Menschen in Cairhien leide.«

»Ich habe im Unterricht von den Kriegen gehört, die Andor gegen Cairhien führte«, sagte Egwene trocken. »Bennae Sedai sagt, ihr und Cairhien hättet öfter als alle anderen Länder außer vielleicht Tear und Illian gegeneinander gekämpft.«

Die andere Frau blickte sie von der Seite her an. Elayne konnte sich nicht daran gewöhnen, daß Egwene sich nicht als Andoranerin betrachtete. Zumindest wiesen die Grenzlinien auf den Landkarten nach, daß die Zwei Flüsse ein Teil von Andor waren, und Elayne schenkte den Karten Glauben.

»Wir haben Kriege gegen sie geführt, Egwene, aber seit den furchtbaren Zerstörungen während des Aiel-Kriegs haben wir ihnen beinahe genausoviel Getreide verkauft wie Tear. Jetzt ist der Handel zusammengebrochen. Da jedes Adelshaus in Cairhien gegen jedes andere um den Sonnenthron kämpft — na ja, wer kauft denn da noch Getreide und verteilt es an die Bevölkerung? Wenn die Auseinandersetzungen so hart sind, wie es die Zerstörungen am Ufer hier vermuten lassen... Weißt du, man kann nicht zwanzig Jahre lang ein Volk ernähren und dann nicht mit ihnen fühlen, wenn sie am Verhungern sind.«

»Ein Grauer Mann«, sagte Egwene, und Elayne fuhr sichtlich zusammen. Sie bemühte sich, in alle Richtungen gleichzeitig zu blicken. Das Glühen von Saidar umgab sie.

»Wo?«

Egwene sah sich etwas weniger hastig auf dem Deck um, ob irgend jemand nahe genug sei, zu lauschen. Kapitän Ellisor stand immer noch am Heck neben dem Mann mit nacktem Oberkörper, der das lange Steuerruder hielt. Ein weiteres Besatzungsmitglied hing in den Tauen am Bug und suchte den Fluß nach Anzeichen von Schlammbänken ab. Zwei andere noch tapsten an Deck auf und ab und zogen von Zeit zu Zeit Taue zurecht, um die Segelstellung zu halten oder zu verändern. Die übrige Besatzung befand sich unter Deck. Einer der beiden an Deck blieb stehen und überprüfte die Halteleinen des Ruderboots, das umgekehrt an Deck festgemacht war. Sie wartete, bis er weiter weg war, bevor sie weitersprach.

»Närrin!« murmelte sie. »Ich meine natürlich mich selbst, Elayne, und nicht dich. Also schau mich nicht so wütend an.« Sie fuhr im Flüsterton fort: »Ein Grauer Mann ist hinter Mat her, Elayne. Das muß dieser Traum bedeuten, aber ich war blind. Ich bin wirklich eine Närrin!«

Das Glühen um Elayne herum verflog. »Geh nicht so hart mit dir selbst ins Gericht«, flüsterte sie zurück. »Vielleicht stimmt es, aber ich bin auch nicht darauf gekommen und Nynaeve genausowenig.« Sie schwieg einen Moment lang, und rotgoldene Locken flogen, als sie den Kopf schüttelte. »Aber das ergibt keinen Sinn, Egwene. Warum sollte ein Grauer Mann hinter Mat hersein? In meinem Brief an Mutter steht nichts, was uns auch nur im geringsten gefährden könnte.«

»Ich weiß nicht, warum«, sagte Egwene. »Es muß aber einen Grund geben. Ich bin sicher, daß dies die Bedeutung meines Traumes war.«

»Selbst wenn du recht hast, Egwene, können wir nichts dagegen unternehmen.«

»Das ist mir klar«, antwortete Egwene in bitterem Ton. Sie wußte nicht einmal, ob er sich vor oder hinter ihnen befand. Vor ihnen, vermutete sie. Mat war sicher augenblicklich abgereist. »Wie auch immer«, knurrte sie zu sich selbst, »es hilft alles nichts. Ich weiß endlich, was einer meiner Träume bedeutet, und es hilft mir kein bißchen!«

»Aber wenn du nun eine Bedeutung kennst«, sagte Elayne, »dann wirst du vielleicht bald auf weitere kommen. Wenn wir uns hinsetzen und alles durchsprechen... «

Der Blaue Kranich erzitterte und schwankte. Egwene stürzte auf das Deck, und Elayne fiel genau auf sie. Als sich Egwene wieder hochrappelte, glitt das Ufer nicht mehr an ihnen vorüber. Das Schiff lag still, Bug nach oben und mit deutlicher Schlagseite. Die Segel flatterten lautstark im Wind.

Chin Ellisor richtete sich auf und rannte zum Bug, ohne dem Rudergänger aufzuhelfen. »Du blinder Wurm von einem Bauern!« schrie er den Mann im Tauwerk an, der sich an der Reling festklammerte, um nicht ganz über Bord geworfen zu werden. »Du Dreck fressender Ziegensohn! Bist du noch nicht lange genug auf dem Fluß, um zu erkennen, wie sich das Wasser über einer Schlammbank staut?« Er packte den Mann an der Reling bei den Schultern und zerrte ihn an Deck zurück. Dann schob er ihn beiseite, um selbst auf den Fluß hinunterblicken zu können. »Wenn mein Rumpf deinetwegen ein Leck abbekommen hat, stopfe ich dich persönlich zum Abdichten hinein!«

Die anderen Besatzungsmitglieder waren auch wieder auf den Beinen, und weitere kamen die Leitern heraufgeklettert. Alle rannten nach vorn und drängten sich um den Kapitän.

Nynaeve erschien in einer Luke, von der aus man die Passagierkabinen erreichte, und strich sich den Rock glatt. Sie zog hart an ihrem Zopf — ihre typische Angewohnheit, wenn sie erregt war —, sah die am Bug zusammengedrängten Männer finster an und schritt zu Egwene und Elayne herüber. »Wir sind auf irgend etwas aufgelaufen, nicht wahr? Und das nach all dem Geschwätz, er kenne den Fluß genauso gut wie seine Frau. Die Frau erhält vermutlich noch nicht einmal ein Lächeln von ihm.« Sie riß wieder an dem dicken Zopf und schob sich zwischen den Matrosen hindurch zum Kapitän. Sie alle betrachteten eingehend das Wasser unter ihnen.

Es hatte keinen Sinn, sich ihr anzuschließen. Er bringt uns schneller wieder hier weg, wenn man ihn in Ruhe läßt. Nynaeve erzählte ihm wahrscheinlich, wie er seine eigene Arbeit zu tun habe. Elayne machte auch den Eindruck, genau dasselbe im Sinn zu haben, denn sie schüttelte mißbilligend den Kopf, als sie beobachtete, wie der Kapitän und die Besatzungsmitglieder respektvoll ihre Aufmerksamkeit von dem abwandten, was sich unter dem Bug abspielte, und statt dessen Nynaeve anblickten. Eine Welle der Erregung machte sich unter den Männern breit und wurde immer stärker. Einen Augenblick lang konnte sie die Hände des Kapitäns sehen, die sich protestierend über die Köpfe weg hoben, und dann stolzierte Nynaeve davon. Sie machten ihr unter Verbeugungen Platz, und Ellisor eilte neben ihr her. Er wischte sich das Gesicht mit einem großen, roten Taschentuch ab. Seine erregte Stimme wurde nun hörbar, als sie sich ihnen näherten.

»... gute fünfzehn Meilen bis zum nächsten Dorf am andoranischen Ufer, Aes Sedai, und mindestens fünf oder sechs Meilen flußabwärts auf der Seite von Cairhien! Sicher, es wird von Soldaten aus Andor gehalten, aber sie kontrollieren ja nicht die Meilen von hier bis zum Ort!« Er wischte sich das Gesicht wieder ab, als triefe es von Schweiß.

»Ein gesunkenes Schiff«, verkündete Nynaeve den beiden anderen Frauen. »Der Kapitän glaubt, das sei das Werk von Flußpiraten. Er will versuchen, mit Hilfe der Ruder wieder achtern freizukommen, glaubt aber selbst kaum, daß es gelingen wird.«

»Wir machten gute Fahrt, als wir aufliefen, Aes Sedai. Ich wollte Euretwegen schnell vorankommen.« Ellisor rieb sich das Gesicht noch stärker ab. Egwene wurde klar, daß er Angst hatte, die Aes Sedai würden ihm Vorwürfe machen. »Wir sitzen ziemlich fest. Aber ich glaube nicht, daß Wasser in den Rumpf dringt, Aes Sedai. Es gibt keinen Grund zur Unruhe. Ein anderes Schiff wird vorbeikommen. Und zwei Sätze Ruder werden uns dann bestimmt freibekommen. Es ist nicht nötig, Euch am Ufer abzusetzen, Aes Sedai. Ich schwöre es beim Licht!«

»Hast du daran gedacht, das Schiff zu verlassen?« wollte Egwene wissen. »Hältst du das für richtig?«

»Natürlich ist es...!« Nynaeve brach ab und blickte sie finster an. Egwene erwiderte den Blick, ohne nachzugeben. Dann fuhr Nynaeve ruhiger, wenn auch in nervösem Tonfall fort: »Der Kapitän meint, es könne eine Stunde dauern, bis ein anderes Schiff vorbeikommt. Eines mit genug Rudern, daß es sich auch lohnt. Oder vielleicht dauert es einen ganzen Tag. Oder auch zwei! Ich glaube nicht, daß wir uns ein oder zwei Tage Aufenthalt leisten können. Wir können uns in diesem Dorf... wie habt Ihr es genannt, Kapitän? Jurene?... wir können also in zwei Stunden oder weniger zu Fuß dieses Dorf erreichen. Wenn Kapitän Ellisor sein Schiff so schnell freibekommt, wie er hofft, können wir dort wieder an Bord gehen. Er sagt, er wird anlegen und nachsehen, ob wir dort sind. Wenn er aber nicht freikommt, können wir uns in Jurene wieder einschiffen. Vielleicht finden wir dort sogar schon ein Schiff vor. Der Kapitän meint, daß die Händler dort anlegen, weil die andoranischen Soldaten Schutz gewähren.« Sie atmete tief durch, doch ihre Stimme klang noch gestreßter: »Habe ich euch meine Gründe ausführlich genug erklärt? Oder wollt ihr noch mehr hören?«

»Es ist mir klar«, warf Elayne schnell ein, bevor Egwene etwas sagen konnte. »Und ich halte es für eine gute Idee. Das denkst du doch auch, Egwene, nicht wahr?«

Egwene nickte widerwillig. »Ja, ich denke schon.«

»Aber, Aes Sedai«, protestierte Ellisor, »geht doch wenigstens auf der Seite Andors ans Ufer. Der Krieg, Aes Sedai. Piraten und alle möglichen Halunken treiben sich auf der Seite Cairhiens herum, und die Soldaten dort sind auch nicht viel besser. Das Wrack unter unseren Füßen zeigt doch, welche Sorte von Menschen das hier sind!«

»Wir haben bisher keine lebendige Seele auf der Seite Cairhiens gesehen«, sagte Nynaeve. »Und außerdem sind wir auch nicht gerade hilflos, Kapitän. Ich werde nicht fünfzehn Meilen weit laufen, wenn ich nach sechs Meilen ans Ziel kommen kann.«

»Natürlich, Aes Sedai.« Ellisor schwitzte jetzt wirklich. »Ich wollte damit nicht andeuten... Selbstverständlich seid Ihr nicht hilflos, Aes Sedai. Das wollte ich damit nicht sagen.« Er wischte sich krampfhaft über das Gesicht, doch es glänzte immer noch.

Nynaeve öffnet den Mund, sah Egwene an und schien ihre Absicht zu ändern. »Ich gehe und hole meine Sachen«, sagte sie in die Luft zwischen Egwene und Elayne hinein und wandte sich erneut Ellisor zu. »Kapitän, macht Euer Ruderboot fertig.« Er verbeugte sich und hastete davon, bevor sie sich auch nur zur Luke gewandt hatte. Sie war noch nicht unten, da schrie er bereits seine Leute an, sie sollten das Boot absetzen.

»Wenn eine von euch hinauf will, dann will die andere hinunter«, murmelte Elayne. »Wenn das nicht aufhört, kommen wir nie in Tear an.«

»Wir kommen schon nach Tear«, sagte Egwene. »Und schneller, sobald Nynaeve einmal einsieht, daß sie nicht mehr die Dorfseherin ist. Wir sind jetzt alle« — sie sprach das Wort ›Aufgenommene‹ nicht aus; es waren zu viele Männer in der Nähe — »von gleichem Rang.« Elayne seufzte.

Nach kurzer Zeit setzte das Ruderboot sie am Ufer ab, und sie standen mit Wanderstöcken da, ihre Habseligkeiten zu Bündeln verschnürt auf dem Rücken und in Tragetaschen umgehängt. Hügeliges Grasland und vereinzelte Baumgruppen umgaben sie. Ein paar Meilen weiter landeinwärts begann der Wald. Die Ruder des Blauen Kranichs ließen das Wasser aufschäumen, doch sie konnten das Schiff nicht vom Fleck bringen. Egwene wandte sich um und ging südwärts los, ohne noch einen Blick nach hinten zu verschwenden. Und bevor Nynaeve die Führung übernehmen konnte.

Als die anderen sie einholten, sah Elayne sie mißbilligend an. Nynaeve schritt mit starr vorwärts gerichtetem Blick einher. Elayne erzählte Nynaeve, was Egwene über Mat und einen Grauen Mann gesagt hatte, aber die etwas ältere Frau hörte nur schweigend zu und sagte schließlich: »Er wird auf sich selbst aufpassen müssen«, ohne im Schritt innezuhalten. Nach einer Weile gab es die Tochter-Erbin auf, die anderen beiden zum Sprechen zu bringen, und sie gingen alle schweigend weiter.

Baumgruppen am Ufer verbargen bald den Blauen Kranich hinter ihnen. Wassereichen und Weiden wuchsen dort dicht beieinander. Sie mieden die Baumgruppen, denn auch wenn sie nur klein waren, konnte sich drinnen im Schatten ihrer Äste alles mögliche verbergen. Auch ein paar niedrige Büsche wuchsen hier vereinzelt zwischen den Dickichten nahe dem Ufer, doch darin konnte sich nicht einmal ein Kind verstecken, geschweige denn ein Pirat, und die Abstände waren ziemlich groß.

»Falls wir Piraten oder Räuber treffen«, verkündete Egwene, »werde ich mich verteidigen. Hier schaut uns keine Amyrlin über die Schulter.«

Nynaeve preßte die Lippen zusammen. »Falls notwendig«, sagte sie dann der Luft vor ihr, »können wir Räuber auf die gleiche Art verscheuchen wie damals die Weißmäntel. Wenn wir keine andere Möglichkeit haben.«

»Ich wünschte, ihr würdet nicht von Räubern sprechen«, sagte Elayne. »Ich würde gern dieses Dorf erreichen, ohne... «

Hinter einem einzelnen Busch geradewegs vor ihnen erhob sich eine Gestalt in Braun und Grau.


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