46 Eine Botschaft aus dem Schatten

Als er, diesmal zu Fuß, zur Innenstadt zurückkehrte, war sich Mat keineswegs sicher, ob sein Vorhaben gelingen würde. Es könnte klappen, wenn das, was man ihm erzählt hatte, der Wahrheit entsprach, aber gerade dessen war er sich nicht sicher. Er mied den ovalen Vorplatz des Schlosses und umging den riesigen Komplex durch Seitenstraßen, die sich an die Hügelflanken schmiegten. Die goldenen Kuppeln des Palastes schimmerten unerreichbar und schienen ihn zu verspotten. Er war schon beinahe ganz herumgelaufen und näherte sich wieder dem Vorplatz, da sah er es: einen steilen Abhang, mit niedrigen Blumen bewachsen, der sich von der Straße aus zu einer weißen, aus groben Natursteinen erbauten Mauer hochzog. Über die Mauerkrone ragten mehrere belaubte Zweige heraus, und dahinter konnte er weitere erkennen: Bäume in einem Garten des Königspalastes.

Eine Mauer, die wie eine Felsklippe aussieht, dachte er, und auf der anderen Seite ein Garten. Vielleicht hat Rand wirklich die Wahrheit gesagt.

Ein kurzer Blick zeigte ihm, daß er im Augenblick auf der kurvenreichen Straße der einzige Passant war. Er würde sich beeilen müssen. Der Biegungen wegen konnte er nicht weit sehen; jeden Moment konnte jemand erscheinen. Er krabbelte auf allen vieren den Hang hoch. Es war ihm gleich, daß er mit den Stiefeln Büschel roter und weißer Blüten losriß. Am rauhen Stein der Mauer fand er genügend Halt, und Rillen und Vorsprünge boten sogar seinen Stiefeln noch Halt.

Wie unvorsichtig von ihnen, einem das so leicht zu machen, dachte er. Die Kletterei brachte ihm Erinnerungen zurück an die Heimat und an Rand und Perrin. Damals waren sie bis jenseits der Sandhügel gewandert, zum Fuß der Verschleierten Berge. Als sie nach Emondsfeld zurückkehrten, hatte sich der vereinte Zorn aller über sie entladen. Er hatte am meisten abbekommen, denn jeder nahm an, es sei seine Idee gewesen. Aber sie waren drei Tage lang in den Klippen herumgeklettert, hatten unter freiem Himmel geschlafen, hatten Eier gegessen, die sie den Rotkämmen stahlen, und dazu selbst geschossene fette, graue Moorhühner. Mit Pfeil und Bogen und mit der Steinschleuder hatten sie sich ernährt, oder mit Hilfe von Kaninchenfallen. Die ganze Zeit hatten sie sich lachend versichert, daß sie sich nicht vor dem angeblichen Pech fürchteten, das das Betreten der Berge bringen sollte, und daß sie vielleicht einen Schatz finden würden. Von dieser Expedition hatte er einen eigenartigen Stein mitgebracht, in dem sich scheinbar das Skelett eines recht großen Fisches abgedrückt hatte, und dazu eine lange, weiße Schwanzfeder von einem Schneeadler, und schließlich noch ein handgroßes Stück weißen Steins, der beinahe so aussah wie ein menschliches Ohr. Jedenfalls hatte er gemeint, es sehe aus wie ein Ohr, und Tam al'Thor hatte ihm bestätigt, das könne durchaus sein, obwohl Rand und Perrin anderer Meinung waren.

Seine Finger rutschten aus einer flachen Rinne. Dadurch verlor auch sein linker Fuß den Halt, und er hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Keuchend konnte er gerade noch die Mauerkrone packen und sich das restliche Stück hinaufziehen. Einen Augenblick lang lag er dort oben und atmete schwer. Es wäre wohl kein tiefer Sturz gewesen, aber doch genug, sich dabei das Genick zu brechen. Narr. So in Gedanken versunken klettern zu wollen. Genauso hätte ich mich damals schon beinahe umgebracht in diesen Felsklippen. Aber das war alles vor so langer Zeit. Wahrscheinlich hatte seine Mutter all diese Andenken längst weggeworfen. Er warf einen letzten Blick zurück, um zu sehen, ob ihn auch wirklich niemand beobachtet hatte. Die Straße war bis zur nächsten Biegung noch immer menschenleer. Dann ließ er sich in den Schloßgarten hinunterfallen.

Der Garten war groß. Geplättete Wege führten durch Grasflächen zwischen den Bäumen, und Efeu rankte sich an torförmigen Gittern über diese Wege. Und überall wuchsen Blumen. Weiße Blüten bedeckten die Birnbäume, und die Apfelbäume waren von weißen und rosa Blüten übersät. Rosen in jedem Farbton, dazu leuchtend goldene Sonnenblumen und purpurne Emondspracht und viele, die er nicht kannte. Bei manchen wußte er gar nicht, ob sie Wirklichkeit sein konnten. Der eine Baum hatte ganz seltsame hochrote und goldene Blüten, die beinahe wie Vögel geformt waren, während andere Blüten wie die von Sonnenblumen aussahen, nur waren sie mehr als zwei Fuß im Durchmesser und wuchsen an Stengeln in der Größe von Ogiern.

Stiefel knirschten auf den Steinplatten, und er duckte sich hinter einen Busch an der Mauer, während zwei Wachsoldaten vorbeimarschierten. Ihre langen weißen Kragenenden hingen ihnen über die Brustpanzer. Sie blickten nicht zu ihm herüber, und er grinste in sich hinein. Glück. Wenn ich bloß ein bißchen Glück habe, erwischen sie mich nicht, bis ich das verfluchte Ding Morgase in die Hand drücke.

Er glitt wie ein Schatten durch den Garten, als wolle er Kaninchen auflauern, und dann erstarrte er wieder hinter einem Busch oder einem Baum, wenn er Stiefeltritte hörte. Zwei weitere Paare von Gardesoldaten marschierten die Pfade entlang. Das zweite kam ihm so nahe, daß er sie mit zwei Schritten hätte erreichen können. Als sie zwischen den Blüten und Bäumen verschwanden, pflückte er eine dunkelrote Sternenscheinblüte und steckte sie sich grinsend ins Haar. Das machte genausoviel Spaß wie am Sonnentag Apfelkuchen stehlen. Und es war leichter. Die Frauen bewachten ihre Kuchen immer höllisch gut, während die Soldaten den Blick kaum von den Platten der Wege hoben.

Nicht lange, und er befand sich an der weißen Wand des Palastes selbst und schob sich hinter einer langgestreckten Rabatte mit weißen Rosen an der Wand entlang, immer auf der Suche nach einer Tür. Gerade über seiner Kopfhöhe befanden sich zwar breite Bogenfenster, aber er hielt es für schwieriger, eine Ausrede zu finden, wenn man ihn beim Einsteigen durch ein Fenster erwischte, als wenn er lediglich durch einen Flur spazierte. Zwei weitere Soldaten erschienen, und er erstarrte wieder. Sie würden keine drei Schritt von ihm entfernt vorbeikommen. Aus dem Fenster über ihm hörte er Stimmen, zwei Männer, die gerade laut genug sprachen, daß er sie verstehen konnte.

»... auf dem Weg nach Tear, großer Meister.« Der Mann klang verängstigt und unterwürfig.

»Laßt sie ihm doch die Pläne durchkreuzen, wenn sie das schaffen.« Diese Stimme war tiefer und kräftiger, ein Mann, der das Befehlen gewohnt war. »Das geschieht ihm recht, wenn drei ungeschulte Mädchen ihn hereinlegen können. Er war schon immer ein Narr, und das ist er auch jetzt noch. Gibt es irgendeine Neuigkeit über den Jungen?

Er ist derjenige, der uns alle vernichten kann.«

»Nein, Großer Meister. Er ist verschwunden. Aber Großer Meister, eines der Mädchen ist Morgases Herzblättchen!«

Mat hätte sich beinahe umgedreht, fing sich aber rechtzeitig. Die Soldaten näherten sich. Zum Glück schienen sie seine Bewegungen hinter den dichten Rosenrabatten nicht bemerkt zu haben. Auf, ihr Narren! Lauft vorbei, damit ich sehen kann, wer dieser verfluchte Kerl ist! Er hatte einen Teil der Unterhaltung verpaßt.

»... ist viel zu ungeduldig gewesen, seit er wieder in Freiheit ist«, sagte die tiefere Stimme. »Er hat nicht begriffen, daß die besten Pläne Zeit benötigen, um zu reifen. Er will die Welt an einem Tag erobern und Callandor nebenher auch noch bekommen. Der Große Herr soll ihn holen! Er soll das Mädchen einfangen und versuchen, daraus Nutzen zu gewinnen. Und das könnte meine eigenen Pläne auch noch gefährden.«

»Wie Ihr meint, Großer Meister. Soll ich den Befehl geben, daß man sie aus Tear wegbringt?«

»Nein. Der Narr würde das als Akt gegen ihn betrachten, falls er es erfährt. Und wer kann schon sagen, was er außer dem Schwert sonst noch im Auge hat? Sieh zu, daß sie ohne Aufsehen stirbt, Comar. Ihr Tod darf überhaupt keine Aufmerksamkeit erregen.« Sein Lachen klang wie ein hallendes Grollen. »Diese unwissenden Schlampen in ihrer Burg werden es schwer haben, sie nach diesem Verschwinden wieder herbeizuzaubern. Das kann nur gut für uns sein. Es muß aber schnell geschehen. Schnell, bevor er die Gelegenheit hat, sie selbst in die Finger zu bekommen.«

Die beiden Soldaten befanden sich jetzt beinahe auf seiner Höhe. Mat bemühte sich, mit seinen Gedanken ihre Füße dazu zu bringen, sich schneller zu bewegen.

»Großer Meister«, sagte der andere Mann nervös, »das könnte schwierig werden. Wir wissen, daß sie auf dem Weg nach Tear ist, und man hat das Schiff, auf dem sie reiste, in Aringill gefunden, doch alle drei hatten es bereits vorher verlassen. Wir wissen nicht, ob sie auf einem anderen Schiff sind oder nach Süden reiten. Und es kann auch Schwierigkeiten geben, sie in Tear aufzuspüren, wenn sie erst einmal dort ist, Großer Meister. Wenn Ihr vielleicht... «

»Gibt es denn jetzt nur noch Narren auf der Welt?« fragte die tiefe Stimme ungehalten. »Glaubst du, ich könnte mich in Tear bewegen, ohne daß er es bemerkt? Ich will nicht gegen ihn kämpfen, nicht jetzt, noch nicht Bring mir den Kopf des Mädchens, Comar. Bring mir alle drei Köpfe, oder du wirst mich auf Knien anflehen, deinen Kopf entgegenzunehmen!«

»Ja, Großer Meister. Es soll geschehen, wie Ihr es wünscht. Ja. Ja.«

Die Soldaten marschierten mit knirschenden Stiefeln vorbei. Sie blickten nicht zur Seite. Mat wartete nur darauf, daß sie ihm die Rücken zuwandten, und dann sprang er hoch, packte mit beiden Händen den breiten, steinernen Fenstersims und zog sich weit genug hinauf, um durchsehen zu können.

Er bemerkte den Fransenteppich aus Tarabon kaum, der allein schon eine pralle Börse voll Silber wert war. Einer der breiten, geschnitzten Torflügel schwang gerade zu. Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit einem Brustkorb, der beinahe den grünen, mit Silberstickereien verzierten Seidenmantel gesprengt wäre, sah mit dunkelblauen Augen die geschlossene Tür an. Sein schwarzer Bart war kurzgeschnitten. Am Kinn zog sich ein weißer Streifen hindurch. Alles in allem wirkte er wie ein harter und befehlsgewohnter Mann.

»Ja, Großer Meister«, sagte er plötzlich, und Mat hätte beinahe seinen Halt am Fenstersims verloren. Er hatte geglaubt, das müsse der Mann mit der tiefen Stimme sein, aber nun vernahm er die unterwürfige Stimme des anderen. Jetzt klang sie wohl nicht mehr unterwürfig, aber es war die gleiche. »Es soll sein, wie Ihr wünscht, Großer Meister«, sagte der Mann in bitterem Tonfall. »Ich werde den drei Schlampen selbst die Köpfe abschneiden. Sobald ich sie finden kann!« Er schritt zur Tür, und Mat ließ sich wieder herunterfallen.

Einen Augenblick lang kauerte er noch hinter den Rosen. Jemand im Palast wollte, daß Elayne starb, und Egwene und Nynaeve hatte er ganz nebenbei auch im Visier. Was beim Licht wollen sie denn in Tear? Das mußten sie sein.

Er zog den Brief der Tochter-Erbin aus dem Futter seiner Jacke und betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn. Vielleicht würde ihm Morgase glauben, wenn er ihr den gab. Und einen der Männer konnte er beschreiben. Aber die Zeit des Versteckspiels war vorüber. Der große Bursche konnte bereits nach Tear unterwegs sein, bevor er Morgase fand, und was immer sie dann unternehmen würde — es gäbe keine Garantie, daß man ihn noch aufhalten könne.

Mat holte tief Luft und zwängte sich um den Preis einiger weniger Kratzer zwischen zwei Rosengattern hindurch. Dann folgte er den Soldaten den Gartenweg entlang. Er hielt Elaynes Brief vor sich, so daß das Siegel mit der goldenen Lilie deutlich sichtbar war, und im Geiste wiederholte er noch einmal, was er genau sagen wollte. Solange er versäumt hatte, sich versteckt zu halten, waren ständig Wachsoldaten aufgetaucht — wie die Pilze nach dem Regen — nun aber schritt er beinahe offen durch den ganzen Garten, ohne auch nur einen einzigen zu Gesicht zu bekommen. Er kam an mehreren Türen vorbei. Es wäre aber nicht gut, den Palast ohne Genehmigung zu betreten. Vielleicht würden die Soldaten zuerst einmal einige unschöne Dinge mit ihm anstellen und anschließend zuhören. Er hatte sich trotzdem gerade dazu entschlossen, eine dieser Türen zu öffnen, da ging sie auch schon von selbst, und ein helmloser junger Offizier mit einem goldenen Knoten auf der Schulter trat heraus.

Die Hand des Mannes zuckte sofort zum Griff seines Schwertes, und er hatte es bereits einen Fuß breit herausgezogen, als Mat ihm den Brief vor die Nase hielt. »Elayne, die Tochter-Erbin, schickt diesen Brief ihrer Mutter, Königin Morgase, Hauptmann.« Er hielt den Brief so, daß das Liliensiegel nach vorn zeigte.

Der Blick aus den dunklen Augen des Offiziers zuckte kurz in die eine und dann in die andere Richtung, als wolle er sich vergewissern, daß niemand in der Nähe war. Aber Mat ließ er dabei kaum aus den Augen. »Wie kommt Ihr in diesen Garten?« Er zog sein Schwert nicht weiter heraus, schob es aber auch nicht zurück. »Elber steht am Haupttor. Er ist zwar ein Narr, aber er würde niemanden einfach so im Schloß herumlaufen lassen.«

»Ein fetter Kerl mit Augen wie eine Ratte?« Mat verfluchte seine lose Zunge, aber der Offizier nickte nur knapp. Er hätte wohl beinahe gelächelt, aber seine Wachsamkeit ließ nicht nach, genausowenig wie sein Mißtrauen. »Er ist wütend geworden, als ich ihm sagte, ich käme aus Tar Valon, und er gab mir überhaupt keine Gelegenheit, den Brief zu zeigen und den Namen der Tochter-Erbin zu erwähnen. Er sagte, er werde mich festnehmen, wenn ich nicht ginge, und so bin ich über die Mauer geklettert. Ich habe versprochen, den Brief Morgase persönlich zu übergeben, Hauptmann. Ich habe es versprochen, und ich halte meine Versprechen immer. Seht Ihr das Siegel?«

»Wieder diese verfluchte Gartenmauer«, knurrte der Offizier. »Die sollte um das Dreifache erhöht werden.« Er musterte Mat. »Gardeleutnant, nicht Hauptmann. Ich bin Gardeleutnant Tallanvor. Ich erkenne das Siegel der Tochter-Erbin.« Endlich glitt sein Schwert ganz in die Scheide zurück. Er streckte seine Hand aus, aber nicht die Schwerthand. »Gebt mir den Brief, und ich bringe ihn der Königin. Wenn ich Euch hinausgeleitet habe. Andere würden Euch nicht so sanft behandeln, nachdem sie Euch frei im Palast herumlaufend erwischt hätten.«

»Ich habe versprochen, ihn ihr nur persönlich zu übergeben«, sagte Mat. Licht, ich habe nie daran gedacht, daß sie mich ihn nicht übergeben lassen. »Ich habe mein Versprechen gegeben. Der Tochter-Erbin selbst.«

Mat sah die Bewegung von Tallanvors Hand kaum, da hatte er auch schon dessen Schwertklinge am Hals. »Ich werde Euch zur Königin bringen, Landmann«, sagte Tallanvor leise. »Aber Ihr sollt wissen, daß es Euch innerhalb eines Wimpernschlags Euren Kopf kosten kann, wenn Ihr auch nur daran denkt, der Königin etwas anzutun.«

Mat setzte sein breitestes Grinsen auf. Diese leicht gekrümmte Schwertschneide am Hals zu spüren war kein angenehmes Gefühl. »Ich bin ein loyaler Andoraner«, sagte er, »und ein treuer Untertan der Königin, das Licht sei ihr gnädig. Wenn ich schon im Winter dagewesen wäre, wäre ich sicherlich Lord Gaebril gefolgt.«

Tallanvor sah ihn mit zusammengekniffenen Lippen an und nahm schließlich sein Schwert weg. Mat schluckte und beherrschte sich gerade noch, hochzufahren und nachzuprüfen, ob sein Hals eine Schnittwunde aufwies. Diese Blöße wollte er sich nicht geben.

»Nehmt die Blume aus dem Haar«, sagte Tallanvor, als er sein Schwert in die Scheide steckte. »Glaubt Ihr, als Freier hier erscheinen zu müssen?«

Mat schnappte sich die Blüte und folgte dem Offizier. Verfluchter Narr, sich eine Blume ins Haar zu stecken. Ich muß nun langsam aufhören, den Narren zu spielen. Allerdings konnte man kaum von ›folgen‹ sprechen, denn Tallanvor behielt ihn ständig von der Seite her im Auge, während er ihn hineinführte. So stellten sie eine eigenartige Prozession dar. Der Offizier ging seitlich voraus und halb zu Mat gewandt, falls der etwas versuchen sollte. Was ihn betraf, so bemühte sich Mat, so unschuldig zu wirken, als könne er kein Wässerchen trüben.

Die farbenprächtigen Wandbehänge hatten ihren Webern bestimmt einiges an Silber eingebracht, genau wie die Läufer auf den weißen, gefliesten Fußböden, selbst hier in den Korridoren. Überall stand Gold und Silber herum: Teller und Tabletts, Schüsseln und Becher, auf Truhen oder niedrigen Kommoden aus glänzendem Holz, genauso fein wie alles, was er in der Weißen Burg gesehen hatte. Diener eilten hin und her in ihrer roten Livree mit weißem Kragen und weißen Manschetten und dem Weißen Löwen von Andor auf der Brust. Er ertappte sich bei der Frage, ob Morgase vielleicht gern mit Würfeln spiele. Was für ein wollköpfiger Gedanke. Königinnen beim Würfelspiel! Aber wenn ich ihr diesen Brief gebe und ihr sage, daß jemand hier im Palast nach dem Leben Elaynes trachtet, dann wette ich, daß sie mir eine fette Börse gibt.

Er sonnte sich kurz in der Vorstellung, geadelt zu werden. Sicher konnte doch der Mann, der eine Intrige aufdeckte, die den Mord an der Tochter-Erbin zum Ziel hatte, eine Belohnung erwarten.

Tallanvor führte ihn durch so viele Gänge und über so viele Innenhöfe, daß er sich schon zu fragen begann, ob er den Weg hinaus noch ohne Hilfe finden könne, da plötzlich trafen sie auf einem dieser Höfe mehr als nur Diener an. Ein Säulengang zog sich um den Hof herum, und in der Mitte befand sich ein rundes Wasserbecken, in dem sich unter breiten, auf dem Wasser schwimmenden Blättern und blühenden Wasserlilien weiße und gelbe Fische tummelten. Männer in farbenfrohen, mit Gold oder Silber verzierten Mänteln und Frauen in weiten, noch kunstvolleren Kleidern, standen vor einer Frau mit rotgoldenem Haar, die am Rand des Beckens saß, eine Hand ins Wasser hängen ließ und traurig auf die Fische blickte, die sich in der Hoffnung auf Futter ihren Fingerspitzen näherten. Am Mittelfinger ihrer linken Hand steckte ein Ring mit der Großen Schlange. Ein hochgewachsener, dunkler Mann stand neben ihrer Schulter. Die Seide seines Mantels verschwand beinahe unter den vielen Goldblättern und Litzen, die darauf aufgenäht waren. Aber es war die Frau, die Mats Blick fesselte.

Er mußte nicht erst den Kranz aus kunstvollen goldenen Rosen in ihrem Haar bemerken oder die über und über mit den Löwen von Andor bestickte Stola, die über ihrem weißen, rotgestreiften Kleid hing, um zu wissen, daß er Morgase vor sich hatte, durch die Gnade des Lichts Königin von Andor, Verteidigerin des Reichs, Beschützerin des Volkes, Hochsitz des Hauses Trakand. Sie besaß Elaynes Gesichtszüge und Schönheit, aber so, wie Elayne eines Tages aussehen würde, wenn sie gereift war. Ihre bloße Gegenwart ließ jede andere Frau im Hof in den Hintergrund treten.

Mit der würde ich tanzen und ihr im Mondschein einen Kuß stehlen, ganz gleich, wie alt sie ist. Er gab sich einen Ruck. Denk daran, wer sie ist, mein Junge!

Tallanvor fiel auf ein Knie nieder und drückte eine Faust auf die weißen Steinplatten des Hofes. »Meine Königin, ich bringe Euch einen Boten, der einen Brief der Lady Elayne bei sich trägt.«

Mat betrachtete die Haltung des Mannes und ließ es dann doch mit einer tiefen Verbeugung bewenden. »Von der Tochter-Erbin... äh... meine Königin.« Er hielt ihr bei der Verbeugung den Brief hin, so daß das goldgelbe Siegelwachs sichtbar war. Wenn sie ihn erst gelesen hat und weiß, daß es Elayne gutgeht, werde ich es ihr sagen. Morgase wandte ihm ihre tiefblauen Augen zu. Licht! Sobald sie bessere Laune hat.

»Ihr bringt mir einen Brief von meinem mißratenen Kind?« Ihre Stimme klang kalt, doch lag darin etwas, das ihm sagte, wie hitzig sie reagieren konnte. »Das muß bedeuten, daß sie zumindest noch am Leben ist! Wo ist sie?«

»In Tar Valon, meine Königin«, brachte er mühsam heraus. Licht, ich möchte mal sehen, wenn sie und die Amyrlin sich gegenüberstehen und gegenseitig anfunkeln. Bei näherer Betrachtung allerdings war er doch nicht neugierig darauf. »Wenigstens war sie dort, als ich abreiste.«

Morgase machte eine ungeduldige Handbewegung, und Tallanvor erhob sich und nahm Mat den Brief aus der Hand, um ihn ihr zu reichen. Einen Augenblick lang blickte sie mit gerunzelter Stirn das Liliensiegel an, bevor sie es mit einer kurzen Drehung der Hand erbrach. Beim Lesen bewegte sie ihre Lippen und schüttelte bei jeder zweiten Zeile den Kopf. »Sie kann nicht mehr sagen, oder?« murmelte sie. »Wir werden ja sehen, ob sie sich daran hält... « Plötzlich erhellte sich ihre Miene. »Gaebril, sie ist zur Aufgenommenen erhoben worden. Weniger als ein Jahr in der Burg und bereits befördert.« Das Lächeln verflog, so schnell es gekommen war, und sie preßte die Lippen aufeinander. »Wenn ich dieses mißratene Kind in meine Finger bekomme, wird sie sich wünschen, wieder Novizin zu sein.«

Licht, dachte Mat, kann denn nichts ihre Laune aufbessern? Er beschloß, es trotzdem einfach auszusprechen, aber er wünschte, sie würde nicht so dreinblicken, als wolle sie jemandem den Kopf abhacken. »Meine Königin, ich habe zufällig gehört... «

»Schweigt still, Junge«, sagte der Mann in dem goldverkrusteten Mantel gelassen. Es war ein gutaussehender Mann, beinahe so gutaussehend wie Galad und fast genauso jugendlich, trotz der grauen Schläfen, aber er war viel stärker gebaut, fast so groß wie Rand und so breitschultrig wie Perrin. »Wir werden gleich hören, was Ihr zu sagen habt.« Er faßte Morgase über die Schulter und nahm ihr den Brief aus der Hand. Ihr böser Blick wandte sich ihm zu. Mat konnte förmlich fühlen, wie ihr Zorn wuchs. Aber der dunkle Mann legte ihr eine Hand auf die Schulter, wobei er den Blick nicht von dem Text des Briefes wandte, und Morgases Zorn schwand dahin. »Es scheint, sie hat die Burg schon wieder verlassen«, sagte er. »Im Auftrag der Amyrlin diesmal. Diese Frau überschreitet schon wieder ihre Grenzen, Morgase.«

Mat fiel es nicht weiter schwer, seinen Mund zu halten. Glück. Seine Zunge klebte ihm am Gaumen. Manchmal weiß ich nicht, ob es gut oder schlecht ist. Der dunkle Mann war die Quelle jener tiefen Stimme, der ›Große Meister‹, der Elaynes Kopf rollen sehen wollte. Sie hat ihn Gaebril genannt. Ihr Ratgeber will Elayne ermorden? Licht! Und Morgase blickte zu ihm hoch wie ein Hündchen, das von der Hand seines Herrn gekrault wird.

Gaebril wandte den zwingenden Blick seiner nahezu schwarzen Augen Mat zu. Der Mann schien einiges zu wissen. »Was könnt Ihr uns darüber erzählen, Junge?«

»Nichts... äh... Lord.« Mat räusperte sich. Der Blick des Mannes war schlimmer als der der Amyrlin. »Ich ging nach Tar Valon, um meine Schwester zu besuchen. Sie ist Novizin. Else Grinwell. Ich heiße Thom Grinwell, Lord. Lady Elayne erfuhr, daß ich auf dem Heimweg Caemlyn besuchen wollte... Ich komme aus Comfrey, Lord, einem kleinen Dorf nördlich von Baerlon, und ich hatte noch nie eine größere Stadt als Baerlon gesehen, bevor ich nach Tar Valon kam. Und dann hat sie — Lady Elayne, meine ich — mir diesen Brief mitgegeben.« Er glaubte, daß Morgase ihn prüfend angeblickt habe, als er sagte, er käme aus der Gegend nördlich von Baerlon, aber er wußte, daß es dort ein Dorf namens Comfrey gab. Er hatte gehört, wie das einmal erwähnt worden war.

Gaebril nickte, sagte aber: »Wißt Ihr, wohin Elayne ging, Junge? Oder was sie tun sollte? Sagt die Wahrheit, und Ihr habt nichts zu befürchten. Lügt, und ihr werdet verhört werden.«

Mat mußte seinen besorgten Gesichtsausdruck nicht heucheln. »Lord, ich habe die Tochter-Erbin nur einmal gesehen. Sie gab mir den Brief — und eine Goldmark! — und sagte mir, ich solle ihn der Königin bringen. Ich weiß nicht mehr über den Inhalt als das, was ich hier gehört habe.« Gaebril schien darüber nachzudenken. Sein dunkles Gesichts sagte nicht aus, ob er ihm ein Wort glaubte oder nicht.

»Nein, Gaebril«, sagte Morgase plötzlich. »Zu viele sind schon verhört und gefoltert worden. Ich kann die Notwendigkeit einsehen, die Ihr mir bewiesen habt, aber in diesem Falle nicht. Nicht ein Junge, der nur einen Brief überbrachte, dessen Inhalt er nicht kannte.«

»Wie meine Königin befiehlt, so soll es geschehen«, sagte der dunkle Mann. Der Tonfall war respektvoll, doch dann berührte er ihre Wange auf eine Weise, daß sie errötete und die Lippen halb öffnete, als erwarte sie einen Kuß.

Morgase holte zittrig Luft. »Sagt mir, Thom Grinwell, sah meine Tochter gesund aus, als Ihr sie getroffen habt?«

»Ja, meine Königin. Sie lächelte und lachte und zeigte eine lose Zunge — ich meine... «

Morgase lachte leise über seinen Gesichtsausdruck. »Habt keine Angst, junger Mann. Elayne hat wirklich eine lose Zunge, zu lose, als gut für sie wäre. Ich bin froh, daß sie wohlauf ist.« Diese blauen Augen durchdrangen ihn mit ihrem Blick. »Ein junger Mann, der sein Dorf verlassen hat, findet es oftmals schwierig, wieder dorthin zurückzukehren. Ich glaube, Ihr werdet noch weit reisen, bevor Ihr wieder nach Comfrey kommt. Vielleicht werdet Ihr sogar wieder nach Tar Valon reisen. Falls Ihr das tut und meine Tochter wiederseht, sagt ihr, daß man oft bereut, was man im Zorn gesagt hat. Ich werde sie nicht vor ihrer Zeit aus der Weißen Burg zurückholen. Sagt ihr, daß ich oft an meine Zeit dort zurückdenke und die ruhigen Gespräche mit Sheriam in ihrem Arbeitszimmer vermisse. Sagt ihr das genau mit meinen Worten, Thom Grinwell.«

Mat zuckte unsicher die Achseln. »Ja, meine Königin.

Aber... äh... ich will eigentlich nicht wieder nach Tar Valon gehen. Einmal im Leben eines Mannes reicht. Mein Pa braucht mich, um den Hof bearbeiten zu helfen. Meine Schwestern müssen die ganze Melkerei allein machen, wenn ich weg bin.«

Gaebril lachte, ein tiefes, amüsiertes Grollen. »Freut Ihr euch denn darauf, Kühe zu melken, Junge? Vielleicht solltet Ihr noch etwas von der Welt sehen, bevor sie sich ändert. Hier!« Er zog eine Geldbörse heraus und warf sie. Mat spürte durch den Waschlederbeutel hindurch Münzen, als er sie fing. »Wenn Elayne Euch eine Goldmark gibt, damit Ihr den Brief überbringt, gebe ich Euch zehn für die sichere Ablieferung. Schaut Euch die Welt an, bevor Ihr zu Euren Kühen zurückkehrt.«

»Ja, Lord Gaebril.« Mat hob die Börse an und brachte ein schwaches Grinsen zuwege. »Ich danke Euch, Lord Gaebril.«

Aber der dunkle Mann hatte sich bereits abgewandt und stand mit den Fäusten auf die Hüften gestützt vor Morgase. »Ich glaube, die Zeit ist gekommen, diese Pestbeule an der Grenze Andors aufzustechen, Morgase. Durch Eure Heirat mit Taringail Damodred habt Ihr ein Recht auf den Sonnenthron. Die königliche Garde kann dieses Recht so gut wie jeder andere durchsetzen. Vielleicht kann ich ihnen sogar auf die eine oder andere Art dabei ein wenig behilflich sein. Hört mich an.«

Tallanvor berührte Mat am Arm, und sie zogen sich rückwärts und unter Verbeugungen zurück. Mat glaubte nicht, daß irgend jemand sie beachtete. Gaebril sprach noch immer und jeder Lord und jede Lady schien gespannt an seinen Lippen zu hängen. Morgase runzelte wohl die Stirn beim Zuhören, doch sie nickte so eifrig wie alle anderen.


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