13 Bestrafung

Egwene lag auf dem Bett und starrte die flackernden Schatten an, die ihre einzige Lampe an der Decke tanzen ließ. Sie wünschte sich, irgendwie planen zu können oder wenigstens zu erraten, was weiter zu erwarten sei. Nichts ergab sich. Die Schatten zeigten noch ein vernünftigeres Muster als ihre Gedanken. Sie brachte sich kaum dazu, an Mat zu denken. Ihr Schamgefühl deswegen hielt sich aber in Grenzen. Die Wände erdrückten sie.

Es war ein kahles, fensterloses Zimmer wie alle Quartiere von Novizinnen, klein, quadratisch und weiß getüncht. An einer Wand waren Haken angebracht, um ihre Besitztümer aufzuhängen. An einer zweiten Wand stand das Bett und an der dritten befand sich ein winziges Regal, wo sie früher ein paar Bücher abgestellt hatte, die aus der Burgbibliothek ausgeliehen waren. Ein Waschtisch und ein dreibeiniger Hocker vervollständigten das Mobiliar. Die Fußbodenbretter waren fast weiß vom vielen Schrubben. Das hatte sie jeden Tag im Knien erledigt, zusätzlich zu ihren anderen Aufgaben und Unterrichtsstunden. Novizinnen führten ein einfaches Leben, ob sie nun Tochter eines Wirts waren oder die Tochter-Erbin von Andor.

Sie trug auch wieder das weiße Kleid einer Novizin — selbst Gürtel und Gürteltasche waren weiß —, doch sie konnte sich kaum darüber freuen, das verhaßte Grau endlich los zu sein. Ihr Zimmer war zu sehr zu einer Gefängniszelle geworden. Was, wenn sie mich hier weiterhin einsperren? In diesem Zimmer? Wie eine Zelle. Wie ein Halsband und...

Sie sah die Tür an. Die dunkelhaarige Aufgenommene stand auf der anderen Seite nach wie vor Wache, das wußte sie. Dann rollte sie sich gegen die weißgetünchte Wand. Genau über der Matratze befand sich ein kleines Loch, fast unsichtbar, wenn man nicht wußte, wo man suchen mußte, das von irgendeiner Novizin vor langer Zeit zum nächsten Zimmer durchgebohrt worden war. Egwene zwang sich zum Flüstern.

»Elayne?« Keine Antwort. »Elayne? Schläfst du?«

»Wie könnte ich denn schlafen?« kam Elaynes Antwort als schwaches Flüstern durch das Loch. »Ich hatte mir gedacht, daß wir Schwierigkeiten bekommen, aber das habe ich denn doch nicht erwartet. Egwene, was werden sie mit uns machen?«

Egwene wußte darauf keine Antwort, und ihre Vermutungen wollte sie lieber nicht laut aussprechen. Sie wollte noch nicht einmal daran denken. »Ich hatte wirklich geglaubt, wir seien Heldinnen, Elayne. Wir brachten das Horn von Valere sicher zurück. Wir haben herausbekommen, daß Liandrin eine Schwarze Ajah ist.« Ihre Stimme versagte bei dem Gedanken daran. Die Aes Sedai hatten immer die Existenz der Schwarzen Ajah geleugnet, der Ajah, die dem Dunklen König diente, und man wußte, daß sie bei jeder Erwähnung einer solchen Existenz hochgingen. Aber wir wissen, daß es stimmt. »Wir sollten wirklich Heldinnen sein, Elayne.«

»Mit ›sollte‹ und ›würde‹ baut man keine Brücke« sagte Elayne. »Licht, wie habe ich es gehaßt, wenn Mutter das sagte, aber es stimmt. Verin sagte, daß wir nichts von dem Horn oder Liandrin sagen dürfen, jedenfalls niemandem außer ihr selbst und der Amyrlin. Ich glaube nicht, daß sich irgend etwas so entwickeln wird, wie wir dachten. Das ist nicht fair. Wir haben soviel durchgemacht — du hast soviel durchgemacht. Es ist einfach nicht fair.«

»Verin sagt. Moiraine sagt. Ich weiß, warum die Leute meinen, daß die Aes Sedai alle Marionettenspieler seien. Ich kann schon die Fäden an meinen Armen und Beinen fühlen. Was immer sie entscheiden, wird das Beste für die Weiße Burg sein und nicht das Beste für uns.«

»Aber du willst doch immer noch Aes Sedai werden, oder?«

Egwene zögerte, aber ihre Antwort war an sich von vornherein klar: »Ja«, sagte sie. »Das will ich immer noch. Nur so werden wir schließlich in Sicherheit sein. Aber eines sage ich dir: Ich werde nicht zulassen, daß man mich einer Dämpfung unterzieht.« Das war eine neue Idee, die ihr beim Sprechen erst gekommen war, doch es war ihr klar, daß sie nicht gewillt war, das zurückzunehmen. Aufgeben, die Wahre Quelle zu berühren? Sie konnte sie fühlen, auch jetzt. Sie glühte dicht über ihrer Schulter. Ihr Glanz befand sich gerade außerhalb ihrer Sicht. Sie widerstand dem Begehren, danach zu greifen. Aufgeben, mich von der Einen Macht erfüllen zu lassen, mich lebendiger zu fühlen als je zuvor? Niemals! »Nicht, ohne zu kämpfen.«

Auf der anderen Seite der Wand schwieg Elayne lange. »Wie kannst du das verhindern? Du bist nun vielleicht ebenso stark wie jede von ihnen, aber keine von uns weiß bisher genug darüber, wie man auch nur eine Aes Sedai daran hindert, uns von der Wahren Quelle abzuschirmen. Und hier sind ja nun Dutzende davon.«

Egwene überlegte. Schließlich sagte sie: »Ich könnte wegrennen. Diesmal wirklich wegrennen.«

»Sie würden uns verfolgen, Egwene. Ganz sicher.

Wenn du einmal etwas Talent gezeigt hast, lassen sie dich nicht mehr gehen, bis du genug gelernt hast, daß du dich nicht selber umbringst oder einfach daran stirbst.«

»Ich bin keine einfache Dorfpomeranze mehr. Ich habe etwas von der Welt gesehen. Ich kann mich von den Aes Sedai fernhalten, wenn ich will.« Sie bemühte sich, nicht nur Elayne, sondern auch sich selbst zu überzeugen. Und was ist, wenn ich doch noch nicht genug weiß? Über die Welt und über die Macht? Was ist, wenn mich der Gebrauch der Macht trotzdem noch umbringen kann? Sie weigerte sich, überhaupt daran zu denken. Ich muß noch soviel lernen. Ich lasse mich nicht von ihnen aufhalten.

»Vielleicht würde meine Mutter uns beschützen« meinte Elayne, »falls es stimmt, was die Weißmäntel gesagt haben. Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal hoffte, so etwas würde sich als die Wahrheit herausstellen. Aber falls es nicht stimmt, wird Mutter uns vielleicht in Ketten zurückschicken. Bringst du mir bei, wie man in einem Dorf lebt?«

Egwene blinzelte überrascht die Wand an. »Kommst du mit mir? Falls es dazu kommt, meine ich?«

Längeres Schweigen folgte und dann ein schwaches Flüstern: »Ich will nicht einer Dämpfung unterzogen werden, Egwene. Ich will nicht. Ich werde nicht!«

Die Tür öffnete sich und schlug mit einem Krachen gegen die Wand. Egwene fuhr vom Bett hoch. Sie hörte von der anderen Seite der Wand her ebenfalls die Tür aufschlagen. Faolain trat in Egwenes Zimmer und lächelte, als ihr Blick das kleine Loch fand. Ähnliche Löcher verbanden die meisten Zimmer der Novizinnen. Jede Frau, die selbst einmal Novizin gewesen war, wußte davon.

»Hast mit deiner Freundin geflüstert, was?« sagte die lockenköpfige Aufgenommene in überraschend warmem Tonfall. »Es wird halt schon einsam, wenn man allein warten muß. Habt ihr euch nett unterhalten?«

Egwene öffnete den Mund und schloß ihn dann wieder hastig. Sie konnte einer Aes Sedai antworten, hatte Sheriam gesagt. Niemandem sonst. Sie sah die Aufgenommene gelassen an und wartete.

Die falsche Zuneigung rann vom Gesicht Faolains wie Wasser von einem Dach. »Auf die Beine. Die Amyrlin darf nicht auf eine wie dich warten. Du hattest Glück, daß ich nicht rechtzeitig kam, um dich zu erwischen. Beweg dich!«

Von Novizinnen erwartete man, daß sie den Aufgenommenen beinahe genauso prompt gehorchten wie einer Aes Sedai, aber Egwene stand aufreizend langsam auf und nahm sich Zeit, ihr Kleid glattzustreichen. Sie machte einen leichten Knicks vor Faolain und lächelte ein wenig. Als die Aufgenommene ein finsteres Gesicht machte, lächelte Egwene noch mehr, bevor sie sich zusammennahm. Es wäre nicht gut, Faolain zu sehr zu reizen. So stolzierte sie vor der Aufgenommenen aus dem Zimmer und verbarg, daß ihre Knie zitterten.

Elayne wartete bereits draußen neben der Aufgenommenen mit den Apfelbäckchen. Sie wirkte wild entschlossen. Irgendwie erweckte sie den Eindruck, die Aufgenommene sei ihre Zofe und habe ihre Handschuhe zu tragen. Egwene hoffte, daß sie wenigstens halb so souverän wirkte wie Elayne.

Über ihnen erhoben sich die Galerien der NovizinnenQuartiere Stockwerk über Stockwerk. Unter ihnen dasselbe. Das Gebäude war wie eine hohle Säule, die über dem Hof der Novizinnen aufragte. Es waren keine anderen Frauen in Sicht. Aber selbst wenn jede Novizin in der Burg dagewesen wäre, hätten sie kaum ein Viertel aller Zimmer benötigt. Die vier gingen auf dem leeren Balkon ein Stück um den Bau herum und stiegen dann schweigend die Wendeltreppe hinunter. Keine von ihnen hätte es ertragen, wenn der Klang von Stimmen die Leere auch noch unterstrichen hätte.

Egwene war noch nie in dem Teil der Burg gewesen, in dem die Amyrlin ihre Gemächer hatte. Die Korridore waren so breit, daß ein ganzer Wagen hindurchgepaßt hätte, und sogar noch höher. Farbige Gobelins hingen an den Wänden, Gobelins in einem Dutzend Stilrichtungen, mit Blumenmustern, Waldszenen, zeigten Heldentaten oder verschlungene Ornamente, und manche von ihnen waren so alt, daß man glauben mußte, sie würden zerbröckeln, falls man sie berührte. Ihre Schuhe klapperten laut auf den diamantförmigen Fußbodenplatten, die in den Farben der sieben Ajahs gehalten waren.

Nur wenige andere Frauen waren zu sehen. Hier und da schritt majestätisch eine Aes Sedai durch die Gänge und hatte keine Zeit, Aufgenommene oder Novizinnen überhaupt zu bemerken. Fünf oder sechs Aufgenommene gingen wichtigtuerisch ihren Beschäftigungen oder Studien nach. Eine kleine Anzahl von Dienerinnen huschte mit Tabletts oder Besen oder mit ganzen Armladungen von Papieren oder Handtüchern vorbei. Ein paar Novizinnen eilten noch schneller als die Dienerinnen einher, um ihre Aufgaben zu erledigen.

Nynaeve und ihre Begleiterin mit dem schlanken, langen Hals — Theodrin — schlossen sich ihnen an. Keine sprach ein Wort. Nynaeve trug wieder das Kleid einer Aufgenommenen mit den sieben farbigen Bändern am Saum, aber Gürtel und Gürteltasche waren ihre eigenen. Sie lächelte Egwene und Elayne beruhigend zu und umarmte sie kurz. Egwene war so froh, ein anderes freundliches Gesicht zu sehen, daß sie die Umarmung erwiderte, ohne auf die Idee zu kommen, daß Nynaeve sich verhielt, als müsse sie Kinder beruhigen. Doch beim Weitergehen zupfte Nynaeve von Zeit zu Zeit hart an ihrem dicken Zopf.

In diesen Teil der Burg verirrten sich nur wenige Männer. Egwene sah lediglich zwei: Behüter, die ins Gespräch vertieft Seite an Seite den Gang hinunterschritten. Der eine trug sein Schwert an der Hüfte, der andere auf dem Rücken. Einer war klein und schlank, sogar beinahe zierlich, während der andere fast so breit wie groß war. Doch beide bewegten sich mit einer tödlichen Eleganz. Durch ihre farbverändernden Umhänge war es schwer, sie längere Zeit über zu beobachten. Teile ihrer Gestalten verschwammen gelegentlich mit den Wänden, vor denen sie entlangkamen. Sie sah, wie Nynaeve ihnen nachblickte, und schüttelte den Kopf. Sie muß etwas in bezug auf Lan unternehmen. Falls eine von uns nach dem heutigen Tag in der Lage ist, irgend etwas in bezug auf irgend jemanden zu unternehmen.

Das Foyer, durch das man zum Arbeitszimmer der Amyrlin gehen mußte, war prächtig genug für einen Palast, obwohl die im Raum verteilten Stühle für die Wartenden ganz einfach waren. Doch Egwene hatte nur Augen für Leane Sedai. Die Behüterin trug die schmale Stola, die ihrem Amt zustand — blau, weil sie der Blauen Ajah entstammte —, und ihr Gesicht schien wie aus glattem, braunem Stein gemeißelt. Sonst befand sich niemand im Foyer.

»Haben sie irgendwelche Schwierigkeiten gemacht?« Aus dem abgehackten Tonfall der Behüterin konnte man weder Zorn noch Anteilnahme entnehmen.

»Nein, Aes Sedai«, sagten Theodrin und die Aufgenommene mit den Apfelbäckchen wie aus einem Munde.

»Die hier mußte ich beinahe an den Haaren herbeizerren, Aes Sedai«, sagte Faolain und deutete auf Egwene. Die Aufgenommene klang erzürnt. »Sie ziert sich, als habe sie alle Disziplin vergessen, die in der Weißen Burg gelehrt wird.«

»Menschen zu führen«, sagte Leane, »bedeutet, sie weder zu schubsen noch zu zerren. Geht zu Marris Sedai, Faolain, und bittet sie um Erlaubnis, darüber nachzudenken, während Ihr die Wege im Frühlingsgarten mit dem Rechen glättet.« Damit entließ sie Faolain und die beiden anderen Aufgenommenen, die vor ihr tief knicksten. Von unten her warf Faolain Egwene einen haßerfüllten Blick zu.

Die Behüterin der Chronik achtete nicht mehr auf die drei Aufgenommenen. Statt dessen musterte sie die drei Frauen, die vor ihr standen, tippte sich mit dem Zeigefinger nachdenklich auf die Lippen, bis Egwene das Gefühl hatte, sie habe sie von innen nach außen gekehrt und auf Herz und Nieren überprüft. Nynaeves Augen glitzerten gefährlich, und sie hielt ihren Zopf mit einer Hand fest gepackt.

Schließlich deutete Leane mit einer Hand auf die Tür zum Arbeitszimmer der Amyrlin. Auf jedem Türflügel biß sich die Große Schlange, in dunkles Holz geschnitzt, in den eigenen Schwanz. Die Schnitzereien maßen fast einen Schritt im Durchmesser. »Tretet ein«, sagte sie.

Nynaeve trat sofort vor und öffnete die Tür. Das reichte, damit sich auch Egwene in Bewegung setzte. Elayne hielt Egwenes Hand ängstlich fest, und Egwene drückte genauso fest zurück. Leane ging hinter ihnen mit hinein und stellte sich so hin, daß sie an der Seite, halbwegs zwischen den dreien und dem Tisch in der Mitte des Zimmers stand.

Die Amyrlin saß hinter dem Tisch und las in irgendwelchen Papieren. Sie blickte nicht auf. Einmal öffnete Nynaeve den Mund, schloß ihn aber auf einen scharfen Blick der Behüterin hin wieder. Die drei standen nebeneinander vor dem Schreibtisch der Amyrlin und warteten. Egwene bemühte sich, ruhig dazustehen. Minuten vergingen, die ihnen wie Stunden vorkamen, bevor die Amyrlin den Kopf hob, aber als diese blauen Augen eine nach der anderen musterten, hätte Egwene am liebsten noch länger gewartet. Die Augen der Amyrlin schienen sich wie zwei Eiszapfen in ihr Herz zu bohren. Im Zimmer war es kühl, doch ihr lief der Schweiß den Rücken hinunter.

»Aha!« sagte die Amyrlin schließlich. »Unsere Ausreißerinnen sind wieder da.«

»Wir sind nicht weggerannt, Mutter.« Nynaeve bemühte sich ganz offensichtlich, Ruhe zu bewahren, aber ihre Stimme war emotionsgeladen. Zorn, das wußte Egwene. Dieser ausgeprägte Wille machte sich nur zu oft Luft. »Liandrin sagte uns, wir sollten mitkommen, und... « Das laute Klatschen, als die Amyrlin mit der Hand auf den Tisch schlug, ließ sie abbrechen.

»Nenne hier nicht Liandrins Namen, Kind!« fauchte die Amyrlin. Leane beobachtete alles ernst und würdevoll.

»Mutter, Liandrin gehört zur Schwarzen Ajah!« brach es aus Elayne heraus.

»Das ist bekannt, Kind. Zumindest haben wir es vermutet und waren so gut wie sicher. Liandrin hat schon vor Monaten die Burg verlassen, und mit ihr gingen zwölf andere... Frauen. Keine ist seither nochmals gesehen worden. Bevor sie gingen, versuchten sie, in den Lagerraum einzubrechen, in dem wir die Angreal und SaAngreal aufbewahren, und sie schafften es auch tatsächlich, den Vorraum zu betreten, wo einige kleinere TerAngreal gelagert waren. Sie haben eine Anzahl davon gestohlen, darunter einige, deren Verwendungszweck wir nicht kannten.«

Nynaeve sah die Amyrlin entsetzt an, und Elayne rieb sich die Arme, als fröre sie. Egwene schauderte ebenfalls. Sie hatte sich oft vorgestellt, wie sie zurückkehrten und Liandrin anklagten, wie sie dafür sorgten, daß die Schwarze Ajah bestraft würde, obwohl sie sich keine Strafe vorstellen konnte, die diesen Verbrechen angemessen schien. Sie hatte sich sogar vorgestellt, daß Liandrin bei ihrer Rückkehr bereits geflohen sei, natürlich aus Angst vor ihnen. Aber die Wirklichkeit war nun doch ganz anders als ihre Tagträume. Wenn Liandrin und die anderen — sie hatte bisher nicht glauben wollen, daß es noch andere gab — diese Überreste aus dem Zeitalter der Legenden gestohlen hatten, konnte man überhaupt nicht vorhersehen, was sie damit anfangen würden. Dem Licht sei Dank, daß sie keinen Sa'Angreal in die Hände bekommen haben, dachte sie. Es war so schon schlimm genug.

Die Sa'Angreal waren so wie die Angreal. Sie gestatteten einer Aes Sedai, mehr Macht zu benützen, als sie ohne Hilfe bewältigen konnte. Aber sie waren eben viel mächtiger als die Angreal und äußerst selten obendrein. Ter'Angreal waren etwas anderes. Es gab mehr davon als von den beiden anderen Arten, wenn auch immer noch nicht sehr viele, und sie benützten die Eine Macht, anstatt bei deren Verwendung zu helfen. Keiner verstand sie wirklich. Viele funktionierten nur bei jemandem, die mit der Macht sowieso umgehen konnte, denn sie brauchten diese Anwendung der Macht, um überhaupt zu funktionieren. Andere wieder waren für jedermann zu gebrauchen. Während alle Angreal und Sa'Angreal, von denen Egwene je gehört hatte, klein waren, fand man die TerAngreal in jeder Größenordnung. Jeder war offensichtlich von diesen Aes Sedai vor dreitausend Jahren für einen ganz bestimmten Zweck geschaffen worden, und seither waren Aes Sedai dafür gestorben, diesen Zweck herauszufinden — gestorben, oder ihre Fähigkeit zum Gebrauch der Macht war ausgebrannt. Es gab unter den Braunen Ajah Schwestern, die ihr ganzes Leben der Studie von Ter'Angreal widmeten.

Einige davon wurden benützt, wenn auch vielleicht nicht zu dem Zweck, für den sie geschaffen worden waren. Die dicke, weiße Rute, die jede Aufgenommene bei ihrem Eid halten mußte, bevor sie zur Aes Sedai erhoben wurde, war ein Ter'Angreal, der sie so sicher an ihren Eid band, als sei er ihr schon bei der Geburt mit in die Wiege gelegt worden. Ein anderer Ter'Angreal war es, durch den eine Novizin bei ihrer Prüfung schreiten mußte, damit sie hinterher zur Aufgenommenen gemacht werden konnte. Es gab noch andere, darunter viele, die überhaupt nicht funktionierten, und ebenso viele, die nichts Brauchbares zustande brachten.

Warum haben sie Sachen gestohlen, von denen niemand weiß, wie man sie benützt? fragte sich Egwene. Oder vielleicht wissen es die Schwarzen Ajah? Beim Gedanken an diese Möglichkeit drehte sich ihr der Magen um. Das wäre genauso schlimm wie ein Sa'Angreal in der Hand von Schattenfreunden.

»Diebstahl«, fuhr die Amyrlin in einem Tonfall fort, der genauso kalt war wie ihre Augen, »war noch das Geringste von dem, was sie angerichtet haben. In jener Nacht sind drei Schwestern gestorben, dazu zwei Behüter, sieben Wachsoldaten und neun Dienerinnen. Mord, um damit den Diebstahl und ihre Flucht zu verschleiern. Das mag immer noch kein Beweis dafür sein, daß sie wirklich... Schwarze Ajah sind« — ihre Stimme brach fast bei der Erwähnung dieses Namens —, »aber nur wenige sind davon noch nicht überzeugt. Auch ich bin mir sicher, um die Wahrheit zu sagen. Wenn im Wasser Fischköpfe und Blut schwimmen, braucht man nicht erst den Hecht sehen, um zu wissen, daß er da ist.«

»Warum behandelt man uns dann wie Verbrecher?« wollte Nynaeve wissen. »Wir wurden von einem Mitglied der... der Schwarzen Ajah hintergangen. Das sollte doch wohl genügen, um uns freizusprechen von allem, was man uns vorwirft.«

Die Amyrlin lachte freudlos auf. »Glaubt Ihr das, Kind? Es ist möglicherweise Eure Rettung, daß außer Verin, Leane und mir niemand in der Burg vermutet, Ihr könntet etwas mit Liandrin zu tun gehabt haben. Falls das bekannt würde, genau wie die kleine Demonstration Eurer Fähigkeiten vor den Weißmänteln — schaut nicht so überrascht drein; Verin hat mir alles erzählt —, falls man wüßte, daß ihr mit Liandrin weggegangen seid, würde die Versammlung vermutlich dafür stimmen, euch drei einer Dämpfung zu unterziehen, bevor ihr auch nur einmal durchatmen könnt.«

»Das ist nicht fair!« sagte Nynaeve. Leane rührte sich, doch Nynaeve fuhr fort: »Es ist nicht richtig! Es...«

Die Amyrlin stand auf. Das war alles, doch es genügte, um Nynaeve zum Schweigen zu bringen.

Egwene dachte bei sich, es sei besser, jetzt nichts zu sagen. Sie hatte schon immer Nynaeve für eine ausgesprochen willensstarke Frau gehalten. Bis sie nun auf die Frau mit der gestreiften Stola getroffen war. Halt dich bitte zurück, Nynaeve. Wir sind hier fast so etwas wie Kinder, die vor ihrer Mutter stehen, und diese Mutter kann uns viel Schlimmeres antun, als uns nur den Hintern versohlen. Es schien ihr, als habe ihnen die Amyrlin mit ihren Worten einen Ausweg angeboten, doch es war ihr nicht ganz klar, wie das angehen sollte. »Mutter, vergebt mir, wenn ich ungefragt spreche. Aber was habt Ihr mit uns vor?«

»Was ich mit Euch vorhabe, Kind? Ich muß Euch und Elayne dafür bestrafen, daß Ihr die Burg ohne Erlaubnis verlassen habt, und Nynaeve dafür, daß sie sich ohne Genehmigung aus der Stadt entfernte. Zuerst wird jede von euch in Sheriam Sedais Arbeitszimmer bestellt. Ich habe ihr gesagt, sie solle euch mit der Rute bearbeiten, bis ihr euch wünscht, eine ganze Woche lang nur noch auf einem Kissen sitzen zu können. Ich habe das bereits den anderen Novizinnen und Aufgenommenen mitteilen lassen.«

Egwene riß überrascht die Augen auf. Elayne stöhnte hörbar, machte ein steifes Kreuz und knurrte etwas in sich hinein. Nynaeve war die einzige, die es scheinbar gelassen hinnahm. Eine Strafe, ob es sich nun um Sonderarbeiten oder etwas anderes handelte, war immer zu erwarten, wenn man zur Oberin der Novizinnen gerufen wurde. Manchmal allerdings waren es auch Aufgenommene, die irgendwelche Regeln übertreten hatten. Sheriam behält das aber immer für sich, dachte Egwene betrübt. Sie kann es doch nicht allen erzählt haben. Aber es ist immer noch besser, als eingesperrt oder gar einer Dämpfung unterzogen zu werden.

»Die Verkündigung ist natürlich auch ein Teil der Strafe«, fuhr die Amyrlin fort, als habe sie Egwenes Gedanken gelesen. »Ich habe auch verkünden lassen, daß ihr drei zum Küchendienst eingeteilt seid, um bis auf weiteres mit den Mägden zusammen zu arbeiten. Und ich habe auch durchklingen lassen, ›bis auf weiteres‹ könne den Rest eures Lebens bedeuten. Höre ich irgendwelche Einwände?«

»Nein, Mutter«, sagte Egwene schnell. Nynaeve würde die Topfschrubberei noch mehr hassen als die anderen. Es hätte schlimmer kommen können, Nynaeve. Licht, es hätte viel schlimmer kommen können. Nynaeves Nasenflügel blähten sich, doch sie schüttelte verkrampft den Kopf.

»Und Ihr, Elayne?« fragte die Amyrlin. »Die TochterErbin von Andor ist an eine bessere Behandlung gewöhnt.«

»Ich will Aes Sedai werden, Mutter«, sagte Elayne mit fester Stimme.

Die Amyrlin nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch und schien es einen Augenblick lang zu betrachten. Als sie den Kopf wieder hob, wirkte ihr Lächeln nicht gerade angenehm. »Wäre eine von euch dumm genug gewesen, etwas anderes zu antworten, hätte ich zu dieser Strafe noch etwas hinzugefügt, was euch dazu gebracht hätte, den Moment zu verfluchen, in dem euer Vater eurer Mutter den ersten Kuß stahl. Ihr wärt wie gedankenlose Kinder aus der Burg geworfen worden. Doch selbst ein Kind wäre nicht in diese Falle getappt. Ich werde euch jedenfalls beibringen, zu denken, bevor ihr handelt, sonst benütze ich euch, um unter Wasser Risse in den Flußtoren zu stopfen!«

Egwene ertappte sich dabei, wie sie ihr insgeheim dankte. Sie bekam eine Gänsehaut, als die Amyrlin fortfuhr.

»Jetzt zu dem, was ich noch mit euch vorhabe. Es scheint, ihr alle habt eure Fähigkeiten, mit der Macht umzugehen, während eurer Abwesenheit ganz erstaunlich ausgebaut. Ihr habt viel gelernt. Darunter sind einige Dinge«, fügte sie in scharfem Ton hinzu, »die ich euch wieder abgewöhnen werde!«

Nynaeve überraschte Egwene damit, daß sie sagte: »Ich weiß, daß wir... Dinge... getan haben, die wir nicht tun sollten, Mutter. Ich versichere euch, wir werden unser Bestes geben, um so zu leben, als hätten wir bereits die Drei Eide abgelegt.«

Die Amyrlin knurrte. »Schaut zu, daß ihr euch daran haltet«, sagte sie dann trocken. »Wenn ich könnte, würde ich euch heute abend noch die Eidesrute in die Hand drücken, aber das muß ich mir für diejenigen aufsparen, die zu Aes Sedai erhoben werden. So muß ich mich auf eure Vernunft verlassen — falls ihr genug besitzt —, die euch bei der Stange halten sollte. Auf jeden Fall werdet Ihr, Egwene, und Ihr, Elayne, zu Aufgenommenen ernannt.«

Elayne schnappte nach Luft und Egwene stammelte: »Danke, Mutter.« Leane verlagerte im Stehen ihr Gewicht. Egwene glaubte, die Behüterin der Chronik wirke nicht sehr glücklich. Nicht überrascht — sie hatte offensichtlich gewußt, was kommen würde —, aber doch nicht gerade erfreut.

»Dankt mir lieber nicht. Eure Fähigkeiten sind zu schnell gewachsen, als daß ihr Novizinnen bleiben könntet. Einige werden denken, daß ihr die Ringe nicht bekommen solltet, nicht nach dem, was ihr getan habt, aber der Anblick, wie ihr die Arme bis zur Schulter in schmierigen Töpfen stecken habt, sollte die Kritiker beruhigen. Und damit ihr nicht glaubt, es sei eine Art von Belohnung, denkt daran, daß die ersten paar Wochen als Aufgenommene dazu benützt werden, um die verdorbenen Fische aus einem Korb mit frischem Fang herauszupicken. Eure schlimmsten Tage als Novizinnen werden euch wie ein schöner Traum vorkommen, wenn ihr ihn auch nur mit den geringsten Aufgaben vergleicht, die ihr während der nächsten Wochen zu erledigen habt. Ich schätze, einige der Schwestern, die euch unterrichten, werden euch ein wenig härter behandeln, als es eigentlich sein müßte, aber ich glaube nicht, daß ihr euch beklagen werdet. Oder?«

Ich kann lernen, dachte Egwene. Meine eigenen Studiengebiete wählen. Ich kann etwas über die Träume in Erfahrung bringen, und...

Das Lächeln der Amyrlin unterbrach ihren Gedankengang. Dieses Lächeln sagte ihnen, daß nichts von all dem schlimmer als unbedingt notwendig sein würde, falls sie das überlebten. Nynaeves Gesicht zeigte eine Mischung von tiefer Anteilnahme und der erschreckenden Erinnerung an ihre eigenen ersten Wochen als Aufgenommene. Diese Mischung ließ Egwene dann doch schwer schlucken. »Nein, Mutter«, sagte sie mit versagender Stimme. Elaynes Antwort kam als heiseres Flüstern.

»Dann wäre das also erledigt. Eure Mutter war nicht gerade über Euer Verschwinden erfreut, Elayne.«

»Weiß sie davon?« quiekte Elayne.

Leane schniefte, und die Amyrlin zog eine Augenbraue hoch. Dann sagte sie: »Ich konnte es wohl kaum vor ihr verbergen. Ihr habt sie um weniger als einen Monat verfehlt, was vielleicht auch besser für Euch war. Dieses Zusammentreffen hättet Ihr möglicherweise nicht überlebt. Sie war wütend genug auf mich, auf Euch, auf die Weiße Burg, um ein Ruder durchzubeißen.«

»Ich kann es mir vorstellen, Mutter«, sagte Elayne mit schwacher Stimme.

»Das glaube ich nicht, Kind. Ihr habt vielleicht eine Tradition beendet, die schon da war, bevor es Andor überhaupt gab. Eine Sitte, die stärker als jedes Gesetz war. Morgase weigerte sich, Elaida mit zurückzunehmen. Zum erstenmal überhaupt hat die Königin von Andor keine Ratgeberin aus den Reihen der Aes Sedai. Sie verlangte, daß man Euch bei Eurem Auftauchen umgehend nach Caemlyn zurückbringt. Ich überzeugte sie, daß es ein wenig sicherer sei, Euch hier noch ein bißchen länger auszubilden. Sie war auch bereit, Eure beiden Brüder aus ihrer Ausbildung bei den Behütern abzuziehen. Sie haben sie aber selbst von deren Notwendigkeit überzeugt. Ich weiß noch immer nicht, wie sie das angestellt haben.«

Elayne schien in sich hineinzulauschen. Sie stellte sich vielleicht Morgase in all ihrer Wut vor. Sie schauderte. »Gawyn ist mein Bruder«, sagte sie abwesend. »Galad nicht.«

»Seid nicht so kindisch«, sagte die Amyrlin zu ihr. »Wenn Ihr denselben Vater habt, seid Ihr auch Geschwister, ob Ihr ihn leiden könnt oder nicht. Ich werde solche kindischen Anwandlungen bei Euch nicht zulassen, Mädchen. Ein gewisses Maß an Dummheit kann ja von einer Novizin erwartet werden, aber bei einer Aufgenommenen nicht mehr.«

»Ja, Mutter«, antwortete Elayne niedergeschlagen.

»Die Königin hat bei Sheriam einen Brief für Euch hinterlassen. Davon abgesehen, daß sie Euch die Meinung sagen wird, dürfte sie wohl auch ihre Absicht kundtun, Euch so schnell wie möglich nach Hause zu bringen, jedenfalls, sobald es sicher genug ist. Sie glaubt, daß Ihr in längstens ein paar Monaten in der Lage seid, die Macht zu lenken, ohne Euch dabei umzubringen.«

»Aber ich will weiter lernen, Mutter.« In Elaynes Stimme war die eiserne Entschlossenheit zurückgekehrt. »Ich will Aes Sedai werden.«

Das Lächeln der Amyrlin wirkte noch grimmiger als zuvor. »Das solltet Ihr auch besser, Kind, denn ich habe nicht die Absicht, Euch Morgase zu überlassen. Ihr habt das Potential, stärker zu werden als jede andere Aes Sedai in den letzten tausend Jahren, und ich lasse Euch nicht eher gehen, bis Ihr zu dem Ring auch die Stola tragt. Und wenn ich Euch dabei zu Wurst verarbeiten muß. Ich lasse Euch nicht gehen! Ist das klar?«

»Ja, Mutter.« Elayne klang unsicher, und Egwene konnte ihr das nicht verdenken. Zwischen Morgase und der Weißen Burg zu stehen war so, als würde man zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben. Die Königin von Andor und der Amyrlin-Sitz als Gegner! Falls Egwene Elayne jemals um ihren Reichtum und den Thron beneidet hatte, den sie einmal erben würde, dann tat sie es jetzt ganz gewiß nicht.

Die Amyrlin sagte knapp: »Leane, bringt Elayne hinunter zu Sheriams Arbeitszimmer. Ich muß mit den anderen beiden hier noch ein Wörtchen reden. Sie werden aber bestimmt wenig Freude daran haben.«

Egwene und Nynaeve sahen sich erstaunt an. Einen Augenblick lang ließ die Sorge die Anspannung zwischen ihnen verschwinden. Was will sie uns sagen, aber Elayne nicht? fragte sich Egwene. Aber es ist gleich, solange sie mich nicht vom Lernen abhält. Doch warum kann sie es Elayne nicht auch sagen?

Elayne schnitt eine Grimasse, als das Arbeitszimmer der Rektorin erwähnt wurde, aber sie richtete sich stolz auf. Leane trat an ihre Seite. »Wie Ihr befehlt, Mutter«, sagte Elayne höflich, knickste tief, so daß ihr Rock den Boden fegte, und fuhr fort: »So werde ich also gehorchen.« Sie folgte Leane mit hoch erhobenem Kopf hinaus.


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