21 Eine Welt im Traum

Egwene rieb sich die Hände mit einem Handtuch ab, während sie den trüb beleuchteten Korridor hinuntereilte. Sie hatte sie schon zweimal gewaschen, aber sie fühlten sich immer noch schmierig an. Sie hatte nicht geglaubt, daß es auf der ganzen Welt so viele Töpfe gäbe. Und heute war auch noch Backtag gewesen. Also mußten viele Eimer voll Asche aus den Öfen entfernt werden. Und die Ofen wurden natürlich auch geputzt. Und die Tische mußten mit feinem Sand gescheuert werden, bis sie knochenweiß schimmerten. Und die Böden mußte man auf Knien schrubben. Ihr weißes Kleid war mit Asche und Schmutz verschmiert. Ihr Rücken schmerzte, und sie wollte nur ins Bett, doch dann war Verin in die Küche gekommen, angeblich, damit sie sich etwas zu Essen hochholen konnte, doch sie hatte ihr im Vorbeigehen etwas zugeflüstert, und so mußte sie nun zu ihr kommen.

Verin hatte ihre Räume gleich über der Bibliothek. Die Gänge dort wurden nur von ein paar anderen Braunen Schwestern benützt. Staub hing in der Luft der Säle dort. Die Frauen, die dort wohnten, waren zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um die Diener oft zum Saubermachen zu bestellen. Die Gänge machten seltsame Kurven und Windungen. Manchmal ging es ganz plötzlich ein Stück nach oben und dann wieder hinunter. Es gab nur wenige Wandbehänge. Ihre bunten Bilder wirkten stumpf. Offensichtlich wurden sie genauso selten gesäubert wie alles andere. Viele der Lampen brannten nicht, so daß in den Sälen eine Art düsterer Dämmerung herrschte. Egwene glaubte schon, ganz allein hier oben zu sein — bis auf ein kurzes weißes Aufblitzen weiter vorn, wo vielleicht eine Novizin oder Dienerin etwas zu erledigen hatte. Ihre Schuhe klapperten auf den kahlen schwarzen und weißen Fußbodenkacheln und warfen Echos. Dieser Ort wirkte nicht gerade beruhigend, wenn man dabei an die Schwarzen Ajah dachte.

Sie fand, was Verin ihr beschrieben hatte: eine schwarzgetäfelte Tür am oberen Ende einer kleinen Rampe. Daneben hing ein verstaubter Wandteppich, der einen König hoch zu Roß zeigte, der die Kapitulation eines anderen Königs entgegennahm. Verin hatte ihr die Namen der beiden gesagt. Sie waren schon Hunderte von Jahren tot, bevor Artur Falkenflügel geboren wurde. Verin schien über solche Sachen immer gut Bescheid zu wissen, aber trotzdem konnte Egwene sich an die Namen nicht mehr erinnern oder auch an die schon lange von der Landkarte verschwundenen Länder, die sie regiert hatten. Es war aber der einzige Wandbehang, der Verins Beschreibung entsprach.

Wenn sie den Klang ihrer eigenen Schritte überhörte, war es hier im Gang noch stiller als zuvor und irgendwie auch bedrohlicher. Sie klopfte an die Tür und trat nach einem abwesenden »Wer ist da? Herein!« sofort ein.

Einen Schritt drinnen im Raum blieb sie stehen und sah sich erstaunt um. An allen Wänden waren Bücherregale angebracht, bis auf eine Tür zu einem der inneren Räume und einige Flecken, wo Landkarten — oftmals mehrere übereinander — und Karten des Nachthimmels hingen. Sie erkannte die Namen einiger Sternbilder: der Pflügende Bauer und der Heuwagen, der Bogenschütze und die Fünf Schwestern, aber andere kannte sie nicht. Auf jeder einigermaßen ebenen Fläche lagen Bücher und Papiere und Schriftrollen, und zwischen den Stapeln und manchmal auch obenauf lag ein ganzes Sortiment anderer Gegenstände. Seltsam geformte Glas- oder Metallstücke, Kugeln und miteinander verbundene Röhren, ineinander verschlungene Metallreifen, Knochen und Schädel in allen möglichen Formen und Größen. Etwas, das wie eine ausgestopfte braune Eule aussah, nicht viel größer als Egwenes Hand, stand auf einem ausgebleichten Eidechsenschädel, doch eigentlich konnte es gar keine Eidechse gewesen sein, denn der Schädel war länger als ihr Arm und hatte schiefe Zähne, größer als ihre Finger! Völlig willkürlich waren Kerzenhalter im Raum verteilt, so daß an einer Stelle die Beleuchtung gut war, während anderswo tiefe Schatten lagen. Die Gefahr bestand überall, daß Papiere sich daran entzündeten. Die Eule blinzelte Egwene an, und sie zuckte zusammen.

»Ah, ja«, sagte Verin. Sie saß hinter einem Tisch, der genauso voll beladen war wie alles in diesem Raum, und hielt vorsichtig ein zerrissenes Blatt in den Händen. »Ihr seid es. Ja.« Sie bemerkte Egwenes Seitenblick auf die Eule und sagte abwesend: »Er sorgt dafür, daß es hier keine Mäuse gibt. Sie fressen sonst das Papier an.« Ihre Geste umfaßte den gesamten Raum, und das erinnerte sie wohl wieder an das Blatt in ihrer Hand. »Das ist vielleicht faszinierend. Rosel von Essam behauptete, mehr als hundert Seiten hätten die Zerstörung der Welt überstanden, und sie hätte es wissen müssen, denn sie schrieb alles kaum zweihundert Jahre danach auf, aber soweit ich weiß, existiert nur noch dieses eine kleine Blatt. Möglicherweise ist das wirklich das einzige. Rosel schrieb, es enthielte Geheimnisse, denen die Welt nicht gewachsen sei, und viel klarer hat sie sich nicht ausgedrückt. Ich habe diese Seite tausendmal gelesen und versucht, herauszufinden, was sie meinte.«

Die winzige Eule blinzelte Egwene wieder an. Sie bemühte sich, in eine andere Richtung zu blicken. »Was steht denn da, Verin Sedai?«

Verin blinzelte. Es sah dem Blinzeln der Eule ganz ähnlich. »Was da drinnen steht? Bedenkt, daß es eine wörtliche Übersetzung ist und sich beinahe anhört wie ein Barde, der im Hochgesang etwas rezitiert. Hört zu: ›Herz der Dunkelheit. Ba'alzamon. Der Name verborgen im Namen und vom Namen verhüllt. Das Geheimnis im Geheimnis, vom Geheimnis umschlossen. Verräter aller Hoffnung. Ishamael verrät alle Hoffnung. Die Wahrheit brennt und sengt. Die Hoffnung versagt im Angesicht der Wahrheit. Eine Lüge ist unser Schild. Wer kann dem Herz der Dunkelheit widerstehen? Wer kann dem Verräter aller Hoffnung gegenübertreten? Seele des Schattens, Seele der Dunkelheit, ist er...‹« Sie hielt seufzend inne. »Hier endet es. Könnt Ihr etwas damit anfangen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Egwene. »Es gefällt mir nicht.«

»Sicher, warum sollte es auch, Kind. Gefallen oder verstehen? Ich habe es beinahe vierzig Jahre lang studiert, und mir geht es genauso.« Verin legte das Blatt vorsichtig in eine ledergebundene und mit Seide umrandete Mappe, die sie anschließend achtlos in einen Stapel Papiere schob. »Aber deshalb seid Ihr nicht gekommen.« Sie kramte auf dem Tisch herum, knurrte etwas in sich hinein und konnte ein paarmal gerade noch einen Stapel Bücher oder Manuskripte davon abhalten, vom Tisch zu fallen. Schließlich fand sie, was sie gesucht hatte: eine Handvoll Blätter, mit dünner, krakeliger Schrift bedeckt und mit einer Kordel zusammengehalten. »Hier, Kind. Alles, was man über Liandrin und die Frauen weiß, die mit ihr gingen. Namen, Alter, Ajahs, wo sie geboren wurden. Alles, was ich in den Unterlagen finden konnte. Sogar, wie sie bei ihren Prüfungen abschnitten. Auch das, was wir über die TerAngreal wissen, die sie stahlen. Es ist nicht viel. Meistens sind es nur Beschreibungen. Ich weiß nicht, ob das eine Hilfe sein wird. Ich habe darin nichts Brauchbares finden können.«

»Vielleicht bemerkt eine von uns etwas.« Eine plötzliche Welle von Mißtrauen packte Egwene zu ihrer eigenen Überraschung. Wenn sie nichts ausgelassen hat. Die Amyrlin schien Verin nur zu trauen, weil ihr nichts anderes übrig blieb. Was, wenn Verin selbst eine Schwarze Ajah war? Sie schüttelte den Gedanken ab. Sie war den ganzen weiten Weg von der Toman-Halbinsel nach Tar Valon mit Verin gereist, und sie weigerte sich einfach, zu glauben, diese mollige Gelehrte könne ein Schattenfreund sein. »Ich vertraue Euch, Verin Sedai.« Kann ich das wirklich?

Die Aes Sedai blinzelte sie wieder an und vertrieb mit einem Kopfschütteln den Gedanken, der ihr wohl dabei gekommen war. »Diese Liste, die ich Euch gab, könnte wichtig sein, aber vielleicht ist sie auch nur Papierverschwendung. Jedenfalls ist sie nicht der einzige Grund, daß ich Euch herkommen ließ.« Sie begann, die Sachen auf dem Tisch herumzuschieben und zu einigen äußerst wackligen Haufen aufzustapeln, um etwas Platz freizumachen. »Ich hörte von Anaiya, daß Ihr eines Tages vielleicht zu den Träumern gehören körntet. Die letzte war Corianin Nedeal vor vierhundertdreiundsiebzig Jahren, und nach den Unterlagen zu schließen, verdiente sie die Bezeichnung eigentlich kaum. Es wäre sehr interessant, wenn Ihr euch so entwickelt.«

»Sie hat mich überprüft, Verin Sedai, aber sie war nicht sicher, ob irgendeiner meiner Träume etwas über die Zukunft vorhersagte.«

»Das ist nur ein Teil dessen, was einen Träumer ausmacht, Kind. Vielleicht sogar der unwichtigste Teil. Meiner Meinung nach treibt Anaiya das viel zu langsam voran. Schaut her.« Mit einem Finger zog Verin einige parallel verlaufende Linien in den Staub auf dem Tisch, wo sie die Fläche freigemacht hatte. »Das sollen Welten sein, die existieren könnten, falls manche Entscheidungen anders ausgefallen wären, falls bedeutende Wendepunkte im Muster sich geändert hätten.«

»Die Welten, die man von den Portalsteinen aus erreichen kann«, sagte Egwene, um zu beweisen, daß sie Verins Ausführungen auf dem Weg von der TomanHalbinsel hierher gelauscht hatte. Was sollte das aber damit zu tun haben, ob sie nun zu den Träumern zählte oder nicht?

»Sehr gut. Aber das Muster ist vielleicht noch viel komplizierter als dies, Kind. Das Rad verwebt unsere Leben und bildet damit das Muster eines Zeitalters, doch die Zeitalter selbst sind wiederum in das Gewebe der Zeitalter, also in das Große Muster, verwebt. Und wer weiß denn schon, ob das überhaupt auch nur der zehnte Teil all dieser Gewebe ist? Im Zeitalter der Legenden glaubten einige, daß es noch weitere Welten gibt, die aber schwerer zu erreichen sind als diejenigen hinter den Portalsteinen — kaum glaubhaft —, und daß sie so liegen.« Sie zog weitere Linien, die die anderen schnitten. Einen Augenblick lang betrachtete sie das Ergebnis. »Kette und Schuß des Gewebes. Vielleicht webt das Rad der Zeit noch ein viel größeres Muster aus ganzen Welten.« Sie richtete sich auf und klopfte sich den Staub von den Händen. »Nun ja, das ist weder hier noch dort. Auf all diesen Welten, gleich wie unterschiedlich sie sein mögen, sind ein paar Dinge die gleichen. Eines davon ist, daß in allen der Dunkle König gefangengehalten wird.«

Unwillkürlich trat Egwene näher heran und sah die von Verin gezogenen Linien genau an. »In allen? Wie kann das sein? Wollt Ihr damit sagen, daß es auf allen Welten einen Vater der Lügen gibt?« Der Gedanke an so viele Dunkle Könige ließ sie schaudern.

»Nein, Kind. Es gibt einen Schöpfer, der auf allen diesen Welten gleichzeitig existiert. Genauso gibt es auch nur einen Dunklen König, der gleichzeitig auf all diesen Welten existiert. Wenn er auf einer Welt aus dem Gefängnis befreit wird, das der Schöpfer für ihn gemacht hat, dann wird er auf allen Welten befreit. Solange er auf einer davon gefangen ist, bleibt er auf allen gefangen.«

»Das scheint mir keinen Sinn zu ergeben«, wandte Egwene ein.

»Paradox, Kind. Der Dunkle König ist die Verkörperung des Paradoxen und des Chaos, der Zerstörer von Vernunft und Logik, der Störer allen Gleichgewichts, der Hinderer aller Ordnung.«

Die Eule flog mit einem Mal lautlos hoch und landete auf einem großen, weißen Schädel, der auf einem Regal hinter der Aes Sedai lag. Sie spähte blinzelnd auf die beiden Frauen herab. Egwene hatte schon bei ihrem Eintreten diesen Schädel bemerkt. Gekrümmte Hörner und eine vorgeschobene Schnauze hatten sie an einen Hammel erinnert, nur wußte sie keine Art, die einen so großen Kopf hatte. Nun fielen ihr auf die abgerundete Form des Schädels auf und die hohe Stirn. Das war kein Hammelschädel. Es war der eines Trollocs.

Sie atmete zittrig ein. »Verin Sedai, was hat das alles mit den Träumern zu tun? Der Dunkle König ist im Shayol Ghul gefangen, und ich will noch nicht einmal daran denken, daß er entkommen könnte.« Aber die Siegel an seinem Gefängnis werden brüchig. Selbst die Novizinnen wissen das mittlerweile. »Was es mit den Träumern zu tun hat? Nun ja, eigentlich nichts, Kind. Außer, daß wir uns alle auf die eine oder andere Art dem Dunklen König stellen müssen. Er ist jetzt noch gefangen, aber das Muster hat Rand al'Thor nicht umsonst in die Welt gesetzt. Der Wiedergeborene Drache muß den Herrn des Grabes bekämpfen, soviel ist klar. Falls Rand solange überlebt. Der Dunkle König wird versuchen, das Muster soweit wie möglich zu verzerren. Also, jetzt sind wir aber zu weit vom Thema abgekommen, ja?«

»Vergebt mir, Verin Sedai, aber wenn dies hier« — Egwene deutete auf die Linien im Staub — »nichts mit den Träumern zu tun hat, warum erzählt Ihr mir dann davon?«

Verin sah sie an, als stelle sie sich absichtlich dumm. »Nichts? Natürlich hat es etwas damit zu tun, Kind. Der springende Punkt ist, daß es neben dem Schöpfer und dem Dunklen König noch eine dritte Konstante gibt. Es gibt eine Welt, die innerhalb all dieser anderen liegt, innerhalb aller gleichzeitig! Oder vielleicht umgibt sie die anderen. Schreiber aus dem Zeitalter der Legenden nannten sie Tel'aran'rhiod, die ›Unsichtbare Welt‹. Vielleicht wäre ›die Welt der Träume‹ eine bessere Übersetzung. Viele Menschen, auch ganz gewöhnliche, die nicht die Macht lenken können, sehen manchmal Tel'aran'rhiod im Traum und können gelegentlich sogar die anderen Welten hindurchschimmern sehen. Denkt an einige der eigenartigen Dinge, die Ihr in Euren Träumen schon gesehen habt. Aber ein Träumer, Kind — ein wirklicher Träumer — kann Tel'aran'rhiod betreten!«

Egwene versuchte, zu schlucken, aber sie hatte einen Kloß im Hals. Sie betreten? »Ich... ich glaube nicht, daß ich zu den Träumern gehöre, Verin Sedai. Anaiya Sedais Überprüfungen... «

Verin unterbrach sie: »... beweisen nichts, weder das eine noch das andere. Und Anaiya glaubt immer noch, daß Ihr wahrscheinlich dazugehört.«

»Ich nehme an, ich werde es irgendwann einmal herausfinden«, murmelte Egwene. Licht, ich will doch dazugehören, oder? Ich will lernen! Ich will alles!

»Ihr habt keine Zeit mehr, um lange zu warten, Kind. Die Amyrlin hat Euch und Nynaeve eine große Aufgabe anvertraut. Ihr müßt jedes Werkzeug benützen, das Ihr nur erreichen könnt.« Verin holte aus dem Durcheinander auf ihrem Tisch einen roten Holzkasten hervor. Er war groß genug, um darin ungefaltet Papiere aufzubewahren, aber als die Aes Sedai den Deckel einen Spalt breit öffnete, zog sie lediglich einen aus Stein gefertigten Ring hervor. Er wies viele Flecken und blaue, braune und rote Streifen auf, und er war zu groß für einen Fingerring. »Hier, Kind.«

Egwene legte die Papiere zur Seite, um ihn entgegenzunehmen, und dann machte sie große Augen vor Überraschung. Der Ring sah nur wie aus Stein gefertigt aus, war aber härter als Stahl und schwerer als Blei. Und der Reif war verdreht. Wenn sie mit einem Finger an einer Kante entlangfuhr, beschrieb ihr Finger zwei volle Umdrehungen, innen wie außen. Der Ring hatte nur eine Kante. Sie probierte es gleich zweimal, um sich davon zu überzeugen.

»Corianin Nedeal«, sagte Verin, »besaß diesen TerAngreal fast ihr ganzes Leben über. Jetzt bleibt er bei Euch.«

Egwene ließ den Ring beinahe fallen. Ein Ter'Angreal? Ich soll einen Ter'Angreal bekommen?

Verin schien ihr Erschrecken nicht zu bemerken. »Nach ihren Aussagen erleichtert es den Eintritt in Tel'aran'rhiod. Sie behauptete, es funktioniere sowohl bei jenen ohne unser Talent, wie auch bei Aes Sedai, solange Ihr ihn im Schlaf berührt. Es gibt natürlich auch Gefahren. Tel'aran'rhiod ist nicht so wie andere Träume. Was dort geschieht, ist Wirklichkeit. Ihr seid wirklich dort, statt diese Welt nur kurz sehen zu können.« Sie schob den Ärmel ihres Kleides zurück und enthüllte eine verblaßte Narbe, so lang wie ihr Unterarm. »Ich habe es selbst vor Jahren einmal ausprobiert. Anaiyas Heilkunst hat nicht ganz erreicht, was ich mir wünschte. Denkt daran.« Die Aes Sedai zog den Ärmel wieder über die Narbe.

»Ich werde vorsichtig sein, Verin Sedai.« Wirklichkeit? Meine Träume sind schon schlimm genug. Ich brauche keine Träume, die Narben hinterlassen! Ich werde es in einen Sack stecken, in eine dunkle Ecke legen und es dort lassen. Ich werde... Doch sie wollte es lernen. Sie wollte Aes Sedai werden, und es hatte unter den Aes Sedai seit fast fünfhundert Jahren keine Träumer gegeben. »Ich werde sehr vorsichtig sein.« Sie steckte den Ring in ihre Gürteltasche und zog den Riemen fest zu. Dann nahm sie die von Verin erhaltenen Papiere.

»Denkt daran, ihn zu verstecken, Kind. Keine Novizin, noch nicht einmal eine Aufgenommene, sollte etwas wie den im Besitz haben. Aber er könnte sich als nützlich erweisen. Haltet ihn gut verborgen.«

»Ja, Verin Sedai.« Sie dachte an Verins Narbe und wünschte sich beinahe, eine andere Aes Sedai käme in diesem Augenblick vorbei und nähme ihr das verwünschte Ding wieder ab.

»Gut, Kind. Jetzt fort mit Euch. Es wird spät und Ihr müßt früh aufstehen, um beim Frühstückrichten mitzuhelfen. Schlaft gut.«

Verin saß noch eine Weile nach Egwenes Abgang da und blickte die Tür an. Die Eule schrie leise hinter ihr. Sie zog den roten Kasten zu sich heran, öffnete den Deckel ganz und blickte stirnrunzelnd auf den Inhalt herunter, der ihn beinahe ganz ausfüllte.

Seite auf Seite, mit sauberer Schrift bedeckt, wenn auch die schwarze Tinte nach beinahe fünfhundert Jahren verblaßt war: Corianin Nedeals Notizen, alles, was sie in fünfzig Arbeitsjahren mit dem eigenartigen Ter'Angreal gelernt hatte. Eine Frau mit Geheimnissen, diese Corianin. Sie hatte weitaus den größten Teil ihres Wissens vor allen anderen verborgen und nur diesen Seiten anvertraut. Nur durch Zufall und ihre Angewohnheit, in den alten Papieren in der Bibliothek herumzustöbern, war Verin darauf gestoßen. Soweit sie hatte feststellen können, wußte keine Aes Sedai außer ihr von dem Ter'Angreal. Corianin hatte es fertiggebracht, die Kunde von seiner Existenz aus allen Unterlagen zu entfernen.

Noch einmal überlegte sie, ob sie das Manuskript verbrennen sollte. Genauso hatte sie sich vorher überlegt, ob sie es Egwene geben solle. Aber Wissen zu vernichten, jede Art von Wissen, war ihr fremd. Und die andere Möglichkeit... Nein, es ist weitaus besser, alles so zu belassen, wie es ist. Was geschehen soll, wird geschehen. Sie klappte entschlossen den Deckel zu. Wo habe ich nur dieses Blatt hingesteckt?

Mit gerunzelter Stirn begann sie, die Bücher- und Papierstapel nach der Ledermappe abzusuchen. Sie hatte Egwene bereits vergessen.


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