25 Fragen

Egwene lag auf Nynaeves Bett, stützte ihr Kinn auf eine Hand und beobachtete Nynaeve, die im Zimmer unruhig auf und ab lief. Elayne saß vor dem Kamin, in dem noch die Asche vom Feuer des Vorabends lag. Noch einmal las Elayne die Liste der Namen durch, die Verin zusammengetragen hatte. Geduldig las sie Wort für Wort erneut. Die anderen Seiten mit der Liste der gestohlenen Ter'Angreal lagen auf dem Tisch. Nachdem sie sie einmal erschrocken durchgelesen hatten, mieden sie dieses Thema in ihren Gesprächen. Dafür sprachen und stritten sie über alles andere.

Egwene unterdrückte ein Gähnen. Es war erst Vormittag, aber keine von ihnen hatte viel geschlafen. Sie hatten früh aufstehen müssen, um in der Küche zu arbeiten und das Frühstück vorzubereiten. Und um andere Dinge zu erledigen, an die sie nicht zurückdenken wollte. Das bißchen Schlaf, das sie fertiggebracht hatte, war von unangenehmen Träumen erfüllt gewesen. Vielleicht könnte mir Anaiya helfen, sie zu verstehen, jedenfalls diejenigen, die ich verstehen möchte, aber... Aber falls sie eine Schwarze Ajah ist... ? Nachdem sie letzten Abend jede Frau in dem Saal daraufhin gemustert hatte, ob sie möglicherweise eine Schwarze Ajah sei, konnte sie kaum noch jemand anderem trauen, als eben ihren beiden Gefährtinnen. Aber sie hätte schon gern gewußt, was manche ihrer Träume bedeuteten.

Die Alpträume über das, was letzten Abend innerhalb des Ter'Angreals geschehen war, waren leicht zu verstehen. Sie war mittendrin tränenüberströmt aufgewacht. Sie hatte auch von den Seanchan geträumt, von Frauen in Kleidern mit auf der Brust aufgenähten Blitzen, die eine lange Reihe von Frauen mit Schlangenringen am Halsband führten und sie zwangen, Blitze auf die Weiße Burg zu schleudern. Das hatte ihr den kalten Schweiß aus den Poren getrieben und sie war wieder aufgewacht. Zum Glück war es nur ein Alptraum gewesen. Wie auch der Traum von den Weißmänteln, die ihrem Vater die Hände fesselten. Sie glaubte, dieser Alptraum entstamme ihrem Heimweh. Aber die anderen...

Sie sah wieder die beiden anderen Frauen an. Elayne las noch. Nynaeve lief nach wie vor auf und ab.

Da war ein Traum von Rand gewesen, der nach einem anscheinend aus Kristall bestehenden Schwert gegriffen hatte und das feine Netz nicht bemerkte, das sich von oben her auf ihn senkte. Und einmal hatte er in einem Zimmer gekniet, wo ein heißer, trockener Wind Staub über den Boden fegte und Geschöpfe, ähnlich dem auf dem Drachenbanner, aber viel kleiner, auf dem Wind herantrieben und sich auf seiner Haut niederließen. Dann hatte sie geträumt, wie er in ein großes Loch in einem schwarzen Berg hineinmarschiert war. Das Loch war von innen her mit dem roten Glühen aus riesigen Feuern darunter erfüllt. Und in einem Traum schließlich stand er den Seanchan gegenüber.

Bei diesem letzten Traum war sie sich nicht sicher, aber sie wußte, daß die übrigen etwas zu bedeuten hatten. Damals, als sie noch sicher war, Anaiya trauen zu können, bevor sie die Burg verlassen hatte, bevor sie erfuhr, daß die Schwarzen Ajah Wirklichkeit waren, hatte sie ja die Aes Sedai ganz vorsichtig ein wenig auszuhorchen versucht. Anaiya hatte das sicher nur für ihre übliche Neugier gehalten. Dabei hatte sie erfahren, daß die Träume von Ta'veren bei einem echten Träumer fast immer etwas zu bedeuten hatten, und je stärker ta'veren diese Person war, desto sicherer konnte die Bedeutung bestimmt werden.

Aber Mat und Perrin waren ebenfalls ta'veren, und sie hatte auch von ihnen geträumt. Seltsame Träume, noch schwieriger zu verstehen als die von Rand. Perrin mit einem Falken auf der Schulter und Perrin mit einem Habicht. Nur, daß der Habicht eine Leine im Schnabel hielt. Egwene war sich irgendwie sicher, daß sowohl Falke wie auch Habicht Weibchen waren. Der Habicht versuchte, Perrin die Leine um den Hals zu legen. Das ließ sie schaudern; sie mochte keine Träume von Leinen und Halsbändern. Und dieser Traum von Perrin — einem bärtigen Perrin! —, der ein riesiges Wolfsrudel anführte, das sich erstreckte, soweit das Auge sehen konnte. Die Träume von Mat waren noch schlimmer gewesen. Mat, der sein eigenes linkes Auge auf eine Waagschale legte. Mat, der an einem Baum aufgehängt war. Es war auch ein Traum von Mat und den Seanchan dabeigewesen, aber den tat sie als wirklichen Alptraum ab. Das mußte einfach ein Alptraum gewesen sein. Genau wie der, in dem Mat die Alte Sprache sprach. Das mußte von dem herrühren, was sie während seiner Heilbehandlung gehört hatte.

Sie seufzte, und aus dem Seufzen wurde wieder ein Gähnen. Sie und die anderen waren nach dem Frühstück in Mats Zimmer gegangen, um nachzusehen, wie es ihm ging, doch er war nicht dagewesen.

Vielleicht geht es ihm schon wieder gut genug zum Tanzen! Licht, jetzt werde ich vermutlich davon träumen, wie er mit Seanchan tanzt. Keine Träume mehr, sagte sie sich entschlossen. Nicht jetzt. Ich denke wieder darüber nach, wenn ich nicht so müde bin. Sie dachte an die Küche, an das bevorstehende Mittagessen und dann das Abendessen und morgen wieder das Frühstück, und an Töpfe und nicht enden wollendes Putzen und Schrubben. Falls ich die Müdigkeit jemals wieder loswerde. Sie änderte ihre Position auf dem Bett und betrachtete ihre Freundinnen wieder. Elayne beäugte immer noch die Namensliste. Nynaeves Schritte waren langsamer geworden. Jeden Augenblick wird Nynaeve wieder damit anfangen. Sie wird es wieder sagen. Nynaeve blieb direkt vor Elayne stehen und sah auf sie hinab. »Leg das weg. Wir sind die Liste zwanzigmal durchgegangen, und sie enthält kein hilfreiches Wort. Verin hat uns da Quatsch aufgehalst. Die Frage ist nur: War das alles, was sie hatte, oder hat sie uns mit Absicht nur diesen Quatsch gegeben?«

Wie erwartet. In etwa einer halben Stunde wird sie es wieder sagen. Egwene blickte finster auf ihre Hände nieder, froh, daß sie sie nicht klar erkennen konnte. Der Ring der Großen Schlange wirkte ausgesprochen deplaziert an einer Hand mit solch gerunzelter Haut, nachdem sie einfach zuviel in heißem Seifenwasser gesteckt hatte.

»Es hilft schon, ihre Namen zu kennen«, sagte Elayne, die noch immer las. »Und es hilft auch, zu wissen, wie sie aussehen.«

»Du weißt ganz genau, was ich meine«, fauchte Nynaeve.

Egwene seufzte und faltete die Arme vor der Brust. Dann legte sie ihr Kinn darauf. Als sie diesen Morgen aus Sheriams Arbeitszimmer gekommen war — die Sonne hatte sich noch nicht am Horizont gezeigt —, da hatte Nynaeve mit einer Kerze in dem kalten, dunklen Gang auf sie gewartet.

Sie hatte es nicht genau erkennen können, aber Nynaeve hatte den Eindruck gemacht, als wolle sie jeden Moment anfangen, die Steine anzufressen. Und als wisse sie, daß auch das in den nächsten Minuten überhaupt nichts ändern würde. Deshalb war sie so geladen. Sie geht aus lauter Stolz hoch wie ein Mann. Aber das sollte sie nicht an Elayne und mir auslassen. Licht, wenn Elayne es aushalten kann, sollte sie auch. Sie ist nicht mehr die Seherin von früher.

Elayne schien kaum zu bemerken, daß Nynaeve so geladen war. Sie hatte die Stirn gerunzelt und blickte in die Ferne. »Liandrin war die einzige Rote. Alle anderen Ajahs haben jeweils zwei verloren.«

»Ach, sei doch ruhig, Kind«, sagte Nynaeve.

Elayne spreizte die Finger ihrer linken Hand, damit der Ring der Großen Schlange besser sichtbar war, warf Nynaeve einen bedeutungsschweren Blick zu und fuhr fort: »Keine zwei stammten aus der gleichen Stadt, und nicht mehr als zwei kamen aus dem gleichen Land. Amico Nagoyin war die jüngste, nur vier Jahre älter als Egwene und ich. Joiya Byir könnte unsere Großmutter sein.«

Egwene gefiel es gar nicht, daß eine der Schwarzen Ajah den gleichen Namen trug wie ihr Kind. Närrin! Menschen tragen nun mal gelegentlich den gleichen Namen, und du hast keine Tochter. Es war nicht wirklich!

»Und was sagt uns das?« Nynaeves Stimme klang zu ruhig. Sie stand kurz vor einer Explosion wie ein Wagen voller Feuerwerkskörper. »Welche Geheimnisse hast du darin entdeckt, die ich übersehen habe? Ich werde schließlich langsam alt und blind!«

»Es sagt uns, daß alles irgendwie zu gleichmäßig verteilt ist«, sagte Elayne ruhig. »Dreizehn Frauen, die nur ausgewählt wurden, weil sie Schattenfreunde sind, und dann stammen sie so passend aus allen Altersstufen, allen Ländern, allen Ajahs? Sollten es nicht vielleicht drei Rote sein, oder vier, die in Cairhien geboren wurden, oder zwei im gleichen Alter? Das war doch alles kein Zufall. Sie hatten genügend Auswahl an Frauen, sonst hätten sie keine solche Anordnung finden können. Es gibt immer noch Schwarze Ajah in der Burg oder sonstwo. Das ist die Bedeutung.«

Nynaeve riß wild an ihrem Zopf. »Licht! Ich glaube, du hast recht. Du bist wirklich auf etwas gestoßen, das ich übersehen habe. Licht, ich hoffte, sie wären alle mit Liandrin geflohen.«

»Wir wissen noch nicht einmal, ob sie die Anführerin ist«, sagte Elayne. »Sie kann auch den Befehl erhalten haben, uns... zu beseitigen.« Ihr Mund verzog sich. »Ich fürchte, es kann nur einen Grund geben, daß sie sich die Mühe machen, eine solche Anordnung zu treffen, um jedes Muster zu meiden, außer eben dem Fehlen jedes Musters. Ich glaube, es bedeutet, daß es bei den Schwarzen Ajah hier eben doch eine Art von Muster gibt.«

»Wenn es vorhanden ist«, sagte Nynaeve entschlossen, »dann finden wir es. Elayne, wenn du diese Art von logischem Denken dabei gelernt hast, deine Mutter bei der Regierungsarbeit zu beobachten, dann bin ich froh darüber.« Elaynes Lächeln ließ ein Grübchen auf ihrer Wange erscheinen.

Egwene musterte die ältere Nynaeve genau. Es schien, daß sie nun wirklich bereit war, ihre Rolle als Bär mit einem schlimmen Zahn aufzugeben. Sie hob den Kopf. »Vielleicht wollen sie uns auch in dem Glauben lassen, sie hätten ein Muster zu verbergen, damit wir unsere Zeit damit verschwenden, etwas zu suchen, was es gar nicht gibt. Ich will damit nicht sagen, daß es nicht so ist, aber wir wissen es eben noch nicht genau. Laßt uns danach suchen, aber wir müssen auch noch nach anderen Dingen suchen, oder meint ihr nicht auch?«

»Also hast du dich endlich entschlossen, aus deinem Schlummer zu erwachen«, sagte Nynaeve. »Ich dachte wirklich, du seist mittlerweile eingeschlafen.« Aber sie lächelte dabei.

»Sie hat recht«, sagte Elayne mürrisch. »Ich habe uns eine Brücke aus Stroh gebaut. Schlechter noch als Stroh. Wunschdenken. Vielleicht hattest du auch recht, Nynaeve. Was soll dieser... dieser Quatsch?« Sie schnappte sich ein Blatt aus dem Stoß auf ihrem Schoß. »Rianna hat schwarzes Haar mit einer weißen Strähne über dem linken Ohr. Wenn ich nahe genug bin, um das zu erkennen, bin ich schon näher, als mir lieb ist.« Sie griff nach einem weiteren Blatt. »Chesmal Emry ist eine der talentiertesten Heilerinnen seit Jahren. Licht, könnt ihr euch vorstellen, sich von einer Schwarzen Ajah heilen zu lassen?« Ein drittes Blatt. »Marillin Gemalphin mag Katzen und tut alles, um verletzten Tieren zu helfen. Katzen! Pah!« Sie packte alle Blätter auf einmal und zerknüllte sie. »Es ist wirklich alles Quatsch.«

Nynaeve kniete sich neben sie und nahm ihr sanft die zerknüllten Papiere aus den Händen. »Vielleicht, und vielleicht auch nicht.« Sie glättete die Blätter sorgfältig an ihrer Brust. »Du hast etwas darin entdeckt, wonach wir zumindest Ausschau halten können. Vielleicht finden wir noch mehr, wenn wir Ausdauer haben. Und dann ist da ja noch die andere Liste.« Sowohl sie wie auch Elayne blickten zu Egwene hinüber. Braune und blaue Augen sahen sie besorgt an.

Egwene vermied es, den Tisch anzusehen, wo die anderen Blätter noch lagen. Sie wollte nicht darüber nachdenken, konnte es aber doch nicht ganz vermeiden. Die Liste der Ter'Angreal hatte sich in ihr Gehirn eingebrannt. Eins: eine Kristallrute, glatt und vollkommen durchsichtig, ein Fuß lang und zwei Finger breit im Durchmesser. Gebrauch unbekannt. Die letzte Studie stammt von Corianin Nedeal. Zwei: eine Alabasterskulptur von einer unbekleideten Frau mit einer sehr großen Hand. Gebrauch unbekannt. Die letzte Studie stammt von Corianin Nedeal. Drei: eine Scheibe, offensichtlich aus Eisen gefertigt, doch völlig rostfrei, eine Handbreit im Durchmesser; auf beiden Seiten jeweils eine enge Spirale eingraviert. Gebrauch unbekannt. Die letzte Studie stammt von Corianin Nedeal. Vier: zu viele Dinge und mehr als die Hälfte derer mit unbekannter Verwendung wurden zuletzt von Corianin Nedeal überprüft. Dreizehn waren es insgesamt.

Egwene schauderte. Es wird immer schlimmer. Ich wage es kaum noch, an diese Zahl zu denken.

Die mit bekannter Anwendung waren auf dieser Liste selten. Nicht alle davon erschienen ihr wirklich nützlich, aber beruhigend wirkten sie deshalb nicht, fand Egwene. Ein holzgeschnitzter Igel, nicht größer als das letzte Glied eines Männerdaumens. Eine ganz einfache Sache und sicherlich harmlos. Eine Frau, die damit die Macht zu lenken versuchte, schlief unweigerlich ein. Ein halber Tag tiefen, traumlosen Schlafs. Das ging ihr aber schon wieder so nahe, daß sie eine Gänsehaut bekam. Drei weitere hatten noch in irgendeiner Form mit Schlaf zu tun. Es war beinahe eine Erleichterung, von einer Röhre aus schwarzem Stein zu lesen, einen ganzen Schritt lang, die Baalsfeuer hervorbrachte. Verin hatte so energisch eine Warnung darauf geschrieben — GEFÄHRLICH UND FAST UNMÖGLICH ZU KONTROLLIEREN —, daß das Blatt an zwei Stellen zerrissen war. Egwene hatte keine Ahnung, was Baalsfeuer war, doch obwohl es zweifellos gefährlich klang, hatte es wenigstens nichts mit Corianin Nedeal oder Träumen zu tun.

Nynaeve trug die geglätteten Papiere zum Tisch zurück und legte sie hin. Sie zögerte, und dann breitete sie die anderen aus und fuhr mit dem Finger erst eine Seite entlang und dann die nächste. »Hier ist etwas, das Mat gefallen würde«, sagte sie etwas zu leichthin und heiter. »Ein geschnitzter Satz mit sechs Punktewürfeln, die an den Kanten zusammenhängen. Zusammen weniger als vier Finger breit. Gebrauch unbekannt, außer daß es auf irgendeine Weise den Zufall aufhebt oder verdreht, wenn man damit die Macht lenkt.« Sie begann, laut vorzulesen: »»Geworfene Münzen zeigten jedesmal die gleiche Seite, und in einem Versuch blieben sie hundertmal hintereinander auf der Kante stehen. Bei eintausend Würfen erschienen eintausendmal fünf Kronen.‹« Sie lachte gequält. »Das würde Mat wirklich gefallen.«

Egwene seufzte, stand auf und ging steif zum Kamin hinüber. Elayne erhob sich und sah genauso schweigend zu wie Nynaeve. Egwene schob ihren Ärmel so weit wie möglich hoch und faßte hinauf in den Kamin. Ihre Finger berührten Wolle, und sie zog einen gefütterten, angesengten Strumpf hervor. Wo die Zehen saßen, steckte ein harter Klumpen. Sie wischte sich einen Rußschmierer vom Arm, ging dann mit dem Strumpf zum Tisch und leerte ihn aus. Der verdrehte Ring aus geflecktem, gestreiftem Stein kollerte über die Tischfläche und fiel auf eine Seite der Liste der Ter'Angreal. Ein paar Augenblicke lang sahen ihn alle nur an.

»Vielleicht«, meinte Nynaeve schließlich, »hat Verin nur die Tatsache übersehen, daß so viele davon zuletzt von Corianin Nedeal studiert wurden.« Es klang nicht danach, als glaube sie das selbst.

Elayne nickte zweifelnd. »Ich sah einmal, wie sie völlig durchnäßt im Regen einhermarschierte. Ich habe ihr einen Umhang gebracht. Sie war so in Gedanken versunken — ich glaube nicht, daß sie den Regen überhaupt bemerkte, bis ich ihr den Umhang um die Schultern legte. Sie könnte es vielleicht übersehen haben.«

»Vielleicht«, sagte Egwene. »Falls nicht, dann muß sie gewußt haben, daß es mir auffallen wird, sobald ich die Liste gelesen habe. Ich weiß nicht. Manchmal glaube ich, Verin merkt viel mehr, als sie alle wissen läßt. Ich weiß es einfach nicht.«

»Also müssen wir auch Verin verdächtigen«, seufzte Elayne. »Falls sie eine Schwarze Ajah ist, dann wissen sie genau, was wir machen. Und Alanna.« Sie warf Egwene einen unsicheren Seitenblick zu.

Egwene hatte ihnen alles erzählt, außer dem, was während ihrer Prüfung innerhalb des Ter'Angreals geschehen war. Sie brachte es nicht fertig, davon zu erzählen, genausowenig wie Nynaeve oder Elayne zuvor. Ansonsten hatte sie alles berichtet: was im Prüfungsraum geschehen war, was Sheriam ihr über die schreckliche Schwäche gesagt hatte, die das Talent, die Macht zu lenken, mit sich brachte, jedes Wort Verins, gleich, ob es ihr wichtig erschien oder nicht. Das einzige, woran sie zweifelten, war das mit Alanna. Aes Sedai machten so etwas einfach nicht. Niemand, die richtig im Kopf war, würde so etwas fertigbringen, und eine Aes Sedai noch weniger.

Egwene funkelte sie an. Sie konnte beinahe hören, wie sie ihr das sagten. »Aes Sedai sollen angeblich auch nicht lügen, aber was Verin und die Mutter uns er zählen, scheint dem doch ziemlich nahe zu kommen. Es soll ja angeblich auch keine Schwarzen Ajah geben.«

»Ich mag Alanna.« Nynaeve zupfte an ihrem Zopf und zuckte die Achseln. »Ach, na ja. Viellei... also, sie hat sich halt eigenartig benommen.«

»Danke schön«, sagte Egwene, und Nynaeve nickte ihr zu, als habe sie den Sarkasmus gar nicht bemerkt.

»Auf jeden Fall weiß die Amyrlin davon, und sie kann Alanna besser im Auge behalten als wir.«

»Was ist mit Elaida und Sheriam?« fragte Egwene.

»Ich habe Elaida noch nie gemocht«, sagte Elayne, »aber ich kann nicht ernsthaft daran glauben, daß sie eine Schwarze Ajah ist. Und Sheriam? Das ist unmöglich.«

Nynaeve schnaubte. »Es sollte bei allen unmöglich sein. Wenn wir welche finden, sagt uns nichts, daß nur welche dabei sein müssen, die wir nicht mögen. Aber ich will keine Frau so einfach verdächtigen — vor allem nicht, wenn es um einen solchen Verdacht geht. Wir brauchen mehr Informationen, um einen Verdacht zu begründen, als nur den, daß sie etwas gesehen haben mögen, das sie nicht sehen sollten.« Egwene nickte genauso wie Elayne sofort zustimmend, und Nynaeve fuhr fort: »Wir werden das der Amyrlin sagen und nicht mehr Gewicht darauf legen, als es verdient. Falls sie jemals bei uns vorbeikommt, wie sie gesagt hat. Falls du bei uns bist, wenn sie kommt, Elayne, dann denk daran: Du weißt von nichts.«

»Das vergesse ich bestimmt nicht«, sagte Elayne leidenschaftlich. »Aber wir sollten noch einen anderen Weg finden, ihr Informationen zuzuspielen. Meine Mutter hätte das besser geplant.«

»Nicht, wenn sie nicht einmal den eigenen Boten trauen kann«, sagte Nynaeve. »Wir warten. Außer, ihr seid der Meinung, eine von uns sollte mit Verin sprechen? Das würde niemand außergewöhnlich finden.«

Elayne zögerte und dann schüttelte sie leicht den Kopf. Egwene machte das schneller und lebhafter. Geistesabwesend oder nicht: Verin hatte zuviel ausgelassen, um vertrauenswürdig zu sein.

»Gut.« Nynaeve klang mehr als nur zufrieden. »Es ist mir genauso recht, daß wir nicht nach unserem Gutdünken mit der Amyrlin sprechen können. Auf diese Art treffen wir unsere eigenen Entscheidungen, ohne daß sie uns ständig dirigiert.« Ihre Hand fuhr wieder an der Liste der gestohlenen Ter'Angreal entlang, als lese sie diese wieder, und dann schloß sie sich um den gestreiften Steinring. »Und bei unserer ersten Entscheidung geht es um den hier. Das ist das erste Mal, daß wir etwas haben, was eine wirkliche Verbindung zu Liandrin und den anderen darstellen könnte.« Sie blickte den Ring finster an und holte tief Luft. »Ich schlafe heute nacht damit.«

Egwene zögerte nicht und nahm Nynaeve den Ring aus der Hand. Sie wollte eigentlich lieber zögern und die Hände davon lassen, aber sie tat es nicht, und das freute sie plötzlich. »Ich bin diejenige, von der man vermutet, sie gehöre zu den Träumern. Ich weiß nicht, ob das ein Vorteil für mich ist, aber Verin meint, es sei gefährlich, das hier zu benützen. Wer von uns ihn auch benützt, sie braucht jeden kleinen Vorteil, der überhaupt möglich ist.«

Nynaeve packte ihren Zopf und öffnete den Mund, als wolle sie protestieren. Als sie dann aber etwas sagte, war es nur: »Bist du sicher, Egwene? Wir wissen noch nicht einmal, ob du wirklich zu den Träumern gehörst, und ich kann mehr Macht beherrschen als du. Ich bin immer noch der Meinung, ich... « Egwene schnitt ihr das Wort ab.

»Du bist nur dann stärker, wenn du wütend bist. Kannst du sicher sein, daß du im Traum wütend wirst? Hast du Zeit genug, um dich in Rage zu steigern, bevor du die Macht benützt? Licht, wir wissen ja noch nicht einmal, ob jemand im Traum die Macht verwenden kann. Wenn eine von uns das tun muß — und falls du recht hast, ist das unsere einzige Verbindung —, sollte ich es sein. Vielleicht gehöre ich wirklich zu den Träumern? Außerdem hat ihn Verin mir gegeben.«

Nynaeve sah sie an, als wolle sie Einspruch erheben, aber schließlich nickte sie unwillig. »Also gut. Aber Elayne und ich sind dabei. Ich weiß nicht, was wir tun können, aber falls etwas schiefgeht, können wir dich vielleicht aufwecken, oder... Wir werden dabeisein.« Elayne nickte ebenfalls.

Jetzt waren sie sich einig, und Egwene hatte ein mulmiges Gefühl im Magen. Ich habe sie dazu überredet. Und jetzt würde ich mir das am liebsten wieder ausreden lassen. Ihr wurde plötzlich bewußt, daß eine Frau in der Tür stand, eine Frau im Weiß der Novizinnen, deren Haar zu langen Zöpfen geflochten war.

»Hat dir niemand beigebracht, anzuklopfen, Else?« fragte Nynaeve.

Egwene schloß die Faust um den Ring, damit sie ihn nicht sehen konnte. Sie hatte das dumme Gefühl, daß Else ihn angestarrt habe.

»Ich habe eine Nachricht für euch«, sagte Else ruhig. Sie betrachtete den Tisch, auf dem die Papiere verstreut lagen und dann die drei Frauen, die ihn umstanden. »Von der Amyrlin.«

Egwene tauschte verblüffte Blicke mit Elayne und Nynaeve.

»Also, was ist?« wollte Nynaeve wissen.

Else zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Die von Liandrin und den anderen zurückgelassenen Besitztümer wurden in dem dritten Lagerraum auf der rechten Seite von der Haupttreppe aus im zweiten Keller unter der Bibliothek untergebracht.« Sie blickte noch einmal zu den Papieren auf dem Tisch hinüber und ging. Sie bewegte sich weder hastig noch langsam.

Egwene raubte es den Atem. Wir haben Angst, uns irgend jemand anzuvertrauen, und die Amyrlin traut Else Grinwell vor allen Frauen?

»Diesem närrischen Mädchen kann man zutrauen, jedem alles zu erzählen, der sie danach fragt!« Nynaeve ging zur Tür.

Egwene raffte ihren Rock hoch und schoß an ihr vorbei. Ihre Schuhe glitten auf den Kacheln der Galerie fast aus, aber sie sah gerade noch einen weißen Schimmer von der nächstgelegenen Rampe verschwinden und hetzte hinterher. Sie rennt bestimmt auch, sonst wäre sie nicht so weit voraus. Warum rennt sie? Das weiße Aufblitzen zeigte sich bereits wieder ein Stück weiter unten. Egwene folgte ihr.

Eine Frau wandte sich am Fuß der Rampe zu ihr um, und Egwene blieb verwirrt stehen. Wer das auch war, Else war es bestimmt nicht. Ganz in Silber und weißer Seide erregte sie Gefühle in Egwene, die diese nicht von sich kannte. Sie war größer und viel schöner, und unter dem Blick aus ihren schwarzen Augen fühlte sich Egwene ganz klein, schäbig und unsauber. Sie kann vermutlich viel mehr an Macht beherrschen als ich. Licht, sie ist möglicherweise klüger als wir drei zusammen. Es ist nicht fair, daß eine Frau so... Plötzlich wurde ihr klar, wohin ihre Gedanken führten. Ihre Wangen liefen rot an, und sie schüttelte sich schnell. Sie hatte sich niemals einer anderen Frau so... unterlegen... gefühlt, und damit sollte sie erst gar nicht anfangen.

»Kühn«, sagte die Frau. »Ihr seid kühn, so allein hier herumzurennen, wo so viele Morde geschehen sind.« Es klang beinahe erfreut.

Egwene richtete sich auf und strich ihr Kleid glatt. Sie hoffte, die andere Frau würde es nicht bemerken, was sie aber doch tat, und sie wünschte, die andere hätte sie nicht wie ein Kind rennen gesehen. Hör auf damit! »Verzeiht, aber ich suche eine Novizin, die hier durchkam, wie ich glaube. Sie hat große, dunkle Augen und dunkles Haar. Sie trägt Zöpfe. Sie ist mollig und durchaus hübsch. Habt Ihr gesehen, wohin sie ging?«

Die hochgewachsene Frau musterte sie amüsiert von oben bis unten. Egwene war nicht sicher, aber sie hatte das Gefühl, die Frau habe ganz kurz ihre geballte Faust betrachtet, in der der Steinring noch steckte. »Ich glaube nicht, daß Ihr sie einholen werdet. Ich habe sie gesehen, und sie rannte ziemlich schnell. Ich schätze, mittlerweile ist sie weit weg.«

»Aes Sedai«, begann Egwene, aber sie bekam keine Chance, zu fragen, in welche Richtung Else gelaufen sei. Etwas wie Zorn oder Ärger blitzte aus diesen schwarzen Augen.

»Ich habe mir mit Euch genug Zeit genommen. Ich muß mich um wichtigere Dinge kümmern. Verlaßt mich jetzt.« Sie deutete nach hinten in die Richtung, aus der Egwene gekommen war.

Der Befehlston war so ausgeprägt, daß Egwene sich umwandte und bereits drei Schritte die Rampe hoch war, bevor ihr klar wurde, was sie tat. Aufgebracht drehte sie sich um. Aes Sedai oder nicht, ich...

Die Galerie war leer.

Mit finsterer Miene überlegte sie. Die Türen hier kamen nicht in Frage, denn dort wohnte niemand — höchstens ein paar Mäuse. Sie rannte weiter hinunter, sah sich nach beiden Seiten um. Die ganze Biegung der Galerie herum war niemand zu sehen. Sie spähte über das Geländer hinunter in den kleinen Garten der Aufgenommenen und dann auch hoch zu den anderen Galerien. Sie sah zwei Aufgenommene in ihren gesäumten Kleidern. Die eine war Faolain, und die andere Frau kannte sie vom Sehen her, auch wenn ihr der Name nicht einfiel. Aber nirgends zeigte sich eine Frau in Silber und Weiß.


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